Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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von oben, von unten. „Es sind viele SS-Dolche im Umlauf, auch eine Menge Fälschungen. Sie müssen bedenken, dass allein für die SA rund drei Millionen Dolche gefertigt wurden, für die SS kamen noch einmal rund 250.000 Dolche hinzu. Den Ehrendolch gibt es seit 1933, spätestens seit 1936 sogar für alle Dienstgrade. Er wurde immer am 9. November verliehen, das ist der Jahrestag des missglückten Hitlerputsches. Sie wissen ja, dass Hitler aufgrund dieses Putsches hier bei uns ganz in der Nähe in Festungshaft saß, in Landsberg. Vielleicht ist der Dolch deshalb auch bei den Ewiggestrigen gerade in unserer Region recht beliebt. Aber, auch das muss man sagen: So etwas kaufen nicht nur Nazis, auch viele Sammler, die alles Mögliche sammeln. Manche Männer haben eine dunkle Freude daran, etwas so Dämonisches wie einen SS-Dolch zu besitzen, eine Waffe, mit welcher der Teufel höchstpersönlich ausgestattet war, wenn Sie verstehen. Es ist ja auch nicht illegal, damit zu handeln.“ Er blickte vorsichtig zu den Polizisten auf.

      „Herr, äh ...“, sagte Plossila.

      „Rheser“

      „Herr Rheser, wir wissen, dass der Handel mit Stücken dieser Art legal ist. Es geht uns auch nicht darum, etwaige illegale Handelspraktiken aufzudecken. Bitte sagen Sie uns ganz einfach, was es mit diesem Dolch auf sich hat.“

      Er nickte, eine gewisse Spannung schien aus seinem Körper zu weichen. „Dieser spezielle Dolch?“ Er legte den Dolch vor sich auf den Tisch, drehte ihn erneut um, starrte ihn eine Weile an. „Nun, er hat den üblichen schwarzen Schaft aus Ebenholz, in den eine emaillierte SS-Rune und der silberne Reichsadler eingelassen sind. Parierstangen, Schrauben et cetera sind aus Nickel. Dass der Träger einen hohen Rang hatte, sieht man an der Inschrift des Blatts: In herzlicher Kameradschaft, H. Himmler ist dort eingelassen, das ist bei Weitem kein Normalfall. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde die Waffe von Himmler persönlich überreicht.“

      Er blickte wieder auf, presste dann die Lippen zusammen, als halte er noch eine wichtige Tatsache zurück. Dann sah er erneut auf die Waffe, strich mit einem Finger darüber, auf dem ganz leichte Sägespäne lagen, wie Plossila erst jetzt auffiel. Er hob den Dolch an, blickte auf den Schaft. „Oberhalb des Griffknebels finden sich römische Nummern, die von Hand eingeschlagen wurden und die den Dolch seinem persönlichen Besitzer zuweisen.“ Er strich fast zärtlich über die Nummer auf dem Knebel. „Vielleicht ...“

      „Das heißt, Sie können uns sagen, wem der Dolch gehört hat?“, platzte es aus Jenny heraus. Mit offenem Mund blickte sie auf den Mann.

      Er holte tief Luft. „Normalerweise gelingt das nicht immer, weil nicht alle Register den Krieg überdauert haben und ich auch keinen Zugriff auf diejenigen habe, die es noch gibt. Außerdem werden die Dolche in den meisten Fällen den ursprünglichen Besitzer gewechselt haben. Das ... das ist auch bei diesem Dolch der Fall.“

      „Wie können Sie sich da so sicher sein“, fragte Jenny.

      „Weil ich ihn ... aller Wahrscheinlichkeit nach selbst verkauft habe. Wenn Sie einen Augenblick Geduld haben?“ Er setzte sich jetzt doch auf das Stuhlgeflecht und zog eine Schublade unter der Tischplatte heraus. Dann offenbarte er eine Liste, legte diese auf den Tisch. Er fuhr mit seinem Finger verschiedene Spalten der Liste ab, warf immer wieder einen Blick auf die Nummer des Dolchs und sah zurück auf die Liste. Dann sagte er: „Ja. Ja, das ist er.“

      Jenny hatte ihre Hände auf den Intarsientisch gelegt und beugte sich über die Kasse hinweg, um mit auf die Liste schauen zu können. Mit ernster Miene fixierte sie abwechselnd den Mann, dann die Liste. Auf ihrer Stirn hatte sich eine bedrohliche Falte gebildet. „Was ist er?“

      „Es ist ein spezieller Dolch. Er gehörte Oswald Pohl.“

      Er sagte lange nichts, blickte aber die beiden Polizisten stumm an, wollte offenbar seine Worte wirken lassen.

      Jenny brachte ihren Oberkörper wieder in die Vertikale, ließ ihre Finger aber nach wie vor auf dem Tisch liegen. „Wer ... Wer ist Oswald Pohl?“

      „Sie kennen Pohl nicht?“ Rheser schob die Schublade unter einem Rumms zu und blickte zuerst zu Jenny, dann fragend zu Plossila.

      Plosslia schüttelte den Kopf.

      Rheser stand auf, trat hinter den Stuhl, den er wie zum Schutz zwischen sich, den Tisch und die Beamten schob. Er strich sich über sein nach rechts wehendes Haar, doch es war störrisch und blieb dort, wo es war. „Angeblich soll man sich ja an nichts erinnern können, was vor dem vierten Geburtstag liegt“, sagte er in einem anderen fast melancholischen Ton, „und deshalb bilde ich es mir vielleicht nur ein. Vielleicht liegt es an dem Foto, das ich davon habe: Ich auf den Schultern meines Vaters, der vor dem Alten Rathaus mit der Rokokofassade in Landsberg am Lech steht, zusammen mit viertausend anderen Landsbergern, also fast einem Drittel der damaligen Bevölkerung.“ Er machte eine kurze Pause, seine faltigen Hände kneteten die Stuhllehne. „Vielleicht erinnere ich mich daran, weil es die einzige Demonstration war, an der ich jemals teilgenommen habe, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass mein Vater mich mit der linken Hand festgehalten hat, am linken Bein, das bis zur Brust seines grauen Mantels baumelte. Auf dem Foto ist klar zu erkennen, dass mein Vater als einziger keinen Hut trug, ich aber eine Mütze. Es war kalt damals im Januar 1951, der Wind zog eisig in mein Hosenbein, in den Straßenecken und auf den Dachschindeln lungerte noch der Schnee. Die andere Hand hielt mein Vater, und das sieht man jetzt nicht auf dem Foto, aber daran erinnere mich einfach, auch wenn ich erst drei Jahre alt war damals ... Die andere Hand hielt er in Richtung des Podiums und schrie Juden raus!“.

      Er verstummte, blickte kurz zu Boden, wie aus Scham. Plossila hatte das Gefühl, er sollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Wie immer, wenn es entfernt um das Thema des menschlichen Zerfalls ging, wurde ihm ganz schwummrig. Er versuchte, sich Rheser als dreijährigen Jungen vorzustellen, und fragte sich, ob es aus seiner Sicht die sechzig Jahre wert gewesen waren, die zwischen dem Jungen und dem älteren Mann lagen, der jetzt hier mit wässerigen blauen Augen vor ihm stand. Er wusste, dass er gedanklich abdriftete, doch hatte er ohnehin nicht das Gefühl, dass ihn die Erinnerungen Rhesers in diesem Fall weiterbringen konnten. Er blickte zu Jenny, die seitlich vor ihm in Front des Tisches stand. Sie sah die Sache offenbar vollkommen anders, denn sie blickte ihn gebannt an, fast wie hypnotisiert hing sie an seinen Lippen.

      Rheser fuhr fort: „Ich wusste nicht, warum er das schrie, ich hatte auch keine Ahnung davon, was es zu bedeuten hatte damals. Später habe ich nachgelesen, dass es während der Kundgebung zu einer Art Gegendemonstration gekommen war, von sogenannten Displaced Persons, die es nach Kriegsende überall in der Gegend gegeben hatte. Ehemalige Zwangsarbeiter, die hier in den Bunkeranlagen für den Bau der ersten Überschallflugzeuge geschuftet hatten, natürlich waren viele Juden darunter. Die eigentliche Demonstration aber hatte das Ziel einer Amnestierung von sieben Kriegsverbrechern, die hier im Todestrakt der Festung Landsberg auf ihre Hinrichtung warteten. Einer von ihnen war Oswald Pohl.“

      Rheser legte eine erneute Pause ein, musterte seine Zuhörer. Dann fiel sein Blick auf seine Hände und er begann damit, sich die Sägespäne von den Fingern zu streichen. „Oswald Pohl hatte eine Bilderbuchkarriere im NS-Staat hingelegt. Als ehemaliger SA-Mann hatte ihn Himmler höchstpersönlich zur SS geholt. Er hatte es bis zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS gebracht und war später Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes gewesen. Damit war er einer der maßgeblichen Schreibtischtäter, welche die Vernichtung der Juden organisiert hatten. Er war es, dem die Konzentrationslager unterstellt waren, und nach allem, was man weiß, hat er dafür gesorgt, dass die dort Internierten verstärkt und ohne Gnade für die Rüstungsproduktion arbeiten mussten. Trotz dieser unbestreitbaren Tatsachen hat man sich Anfang der Fünfzigerjahre in großen Bevölkerungsteilen für Pohl eingesetzt. Über 600.000 Unterschriften für eine Gnadenpetition wurden in Deutschland gesammelt und ins Weiße Haus geschickt, die Deutschen sprachen plötzlich von Siegerjustiz und fanden sich als Opfer wieder. Dennoch kam weder von dort noch vom damaligen Landsberger Hochkommissar McCloy ein entsprechender Gnadenakt. Pohl wurde im Juni 1951 in Landsberg gehängt und anschließend auf dem Friedhof der Namenslosen beerdigt, da seine Heimatgemeinde die Überstellung des Leichnams ablehnte. Auch fünfzig Jahre später war die Geschichte nicht zu Ende, denn die bayerische Justiz stattete das Grabkreuz des Generals der Waffen-SS zu seinem Angedenken mit einem neuen Kupferdach aus,