Markus Ridder

Das Eisenzimmer


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sie schon von Weitem an. Er trug einen weißen Kittel mit Stiften, einem Lämpchen und etlichem anderen Zubehör in der Brusttasche. Unter dem Kittel schaute ein Polohemd hervor, der braune Gürtel war auf seine braunen Schuhe abgestimmt.

      „Frau Biber, das freut mich, dass Sie sich Zeit nehmen!“

      Sie folgte ihm durch einen langen Flur mit Linoleumboden. Sie passierten zwei Büros, in denen ausschließlich Damen mit hochgesteckten Frisuren saßen. Überall erblickte sie kleine Ventilatoren, die um die eigene Achse kreisten.

      „Wir haben in den Büros leider keine Klimaanlage, sehr zu meinem Missfallen übrigens.“

      „Es muss halt überall gespart werden“, sagte Jenny mechanisch und musste sich zugestehen, dass sich ein mulmiges Gefühl in ihrer Magengegend einstellte. Sicherlich lag es daran, dass sie den Tag über kaum etwas gegessen hatte. Außerdem hasste sie diesen Krankenhausgeruch: Dieses Franzbranntwein-Desinfektionsmittel-Haferbrei-Gemisch.

      „Nein, nein, daran liegt es nicht. Wir haben die Belegschaft abstimmen lassen, ob sie eine Klimaanlage haben wolle. Aber die Mehrheit hat abgelehnt.“ Er zuckte mit den Schultern. „Die meisten hatten wohl Angst vor Erkältungen und zu trockener Luft. Fortschrittsverweigerer!“ Isenbarth zwinkerte ihr ironisch zu. „Ist Ihnen nicht gut?“

      „Mir? Doch, klar – alles in Ordnung. Es ist nur die Hitze ...“ Sie fächerte sich mit der Hand Luft zu.

      Isenbarth nickte. „Ist nur nachmittags so heiß in den Büros, dann brennt die Sonne durch die Scheiben, ansonsten sind die Mauern dick genug, um zu kühlen. Das Haus ist von Achtzehnhundertneunzig.“ Er verlangsamte seinen Schritt, hob dann einen Gummivorhang zur Seite und ließ ihr den Vortritt.

      Sie durchquerten eine Art Operationssaal. Seitlich sah sie zwei Männer in Kitteln, die sich über einen nackten Körper gebeugt hatten und offenbar an ihm herummetzgerten. Sie bildete sich ein, den Geruch alten, toten Fleisches zu riechen, versuchte aber, den Gedanken so gut wie möglich zu verdrängen.

      Isenbarth hatte wieder zu ihr aufgeschlossen und ging jetzt voraus, um den nächsten Vorhang hochzuheben. „Da sind wir!“, sagte er, als sie hindurch geschritten war. „Hier dürfte es jedenfalls nicht mehr zu heiß sein.“

      Erst jetzt fiel Jenny auf, dass sich die Härchen an ihren Armen hochgestellt hatten, es musste deutlich unter zehn Grad sein. Doch schon im nächsten Moment spürte sie die Kälte nicht mehr. Ihr Blick fiel auf den weißen Körper, der an der Stirnseite des Raums auf einer silbernen Metallbahre lag.

      Isenbarth steuerte ein Regal an, in dem Nierenschalen, Operationsbesteck, Einweghandschuhe und dergleichen lagen. Er nahm ein abgewetztes Klemmbrett herunter und blickte für einen Atemzug konzentriert auf den Zettel, der sich darauf befand. „Antony Kenneth Middleman“, sagte er, „Sie kennen den Herrn ja bereits.“

      Jenny nickte und stellte sich auf Hüfthöhe des Toten. Zwei Dinge stachen sofort ins Auge: Seine Brust zierte die Tätowierung eines überdimensionierten Eisernen Kreuzes und – Jenny kam nicht umhin, dies zu registrieren – über seinen schmalen Oberschenkel hatte sich ein gewaltiger Penis gelegt, dessen Spitze fast bis zur Metallbahre auf der andern Seite reichte. Seine Scham war gründlich und komplett rasiert. Sie konnte nicht anders, aber in diesem Moment schossen ihr die Kondome XXL durch den Kopf, die sie heute Morgen in ihrem Badschrank gefunden hatte.

      Jenny spürte, wie sie errötete, als sie Isenbarths Blick begegnete. Um nicht auch noch violett anzulaufen, konzentrierte sie sich auf die Wunde der Leiche oberhalb des Herzens.

      Isenbarth lächelte väterlich, legte dann sein Klemmbrett wieder ins Regal und zog einen Gummihandschuh über die rechte Hand. Er stellte sich am Kopfende der Leiche auf und legte den Zeigefinger an die Stichwunde. „Der Dolch trat passgenau zwischen vierter und fünfter Rippe ein, dabei das Brustbein leicht touchierend. Der Stich wurde seitlich von unten geführt, was sich durch die Untersuchung des Stichkanals klar belegen lässt. Nachdem die Schneide in den Thorax eindrang, wurden Herz, Lunge und angrenzende Arterien durchschnitten. Der Tod muss fast unmittelbar eingetreten sein und kam letztlich durch eine Herzbeuteltamponade zustande. Das geschieht dann, wenn der Herzbeutel zu viel Blut ansammelt und so die Ventrikelfüllung behindert. Das Schlagvolumen wird dadurch erst stark behindert und setzt in einem Fall wie diesem fast augenblicklich aus.“

      Jenny fühlte sich einen Augenblick wie erschlagen, konnte den Worten des Pathologen kaum folgen. Sie blickte wie gebannt auf die Wunde, die in etwa die Form zweier schmaler aufeinandergepresster Lippen hatte. Das Innere des Schnittes schimmerte schwarz, leicht bläulich vielleicht, nach außen hin veränderte sich die Farbe ins Violette und klang in einem leichten Fliederton auf der Haut aus. Der Schnitt befand sich direkt unterhalb des Eisernen Kreuzes, das, wie ein Wunder, vollkommen unversehrt geblieben war.

      „Wie wir schon am Tatort festgestellt hatten, trat die Spitze des Dolchs am Rücken unterhalb des linken Schulterblatts wieder aus. Das Messer wurde aber durch den Aufprall des Delinquenten auf den Boden wieder in den Thorax zurückgeschoben.“

      Jenny nickte, wenn sie alles richtig verstanden hatte, gab es nicht wirklich etwas Neues. Sie hätte sich den Weg hierher sparen können. Doch wo sie schon einmal hier war, würde sie das Spiel auch mitspielen. „Wie sieht es mit Abwehrmaßnahmen aus? Wenn ich mit einem Dolch angegriffen werde, halte ich doch die Hände vor den Körper – müsste das nicht Spuren hinterlassen?“

      Isenbarth trat einen Schritt auf Jenny zu, blieb neben dem Oberkörper des Toten stehen. Dann streifte er sich einen Handschuh über die bis dahin noch ungeschützte linke Hand. Er nahm den Arm des Toten, ließ seine Hand darüber gleiten. „Bei Morden, die mit dem Messer ausgeführt werden, stellen wir fast immer Abwehrspuren an Händen und Armen fest. Doch hier ...“ Er schritt erneut um den Toten herum, nahm den anderen Arm auf, streichelte ihn fast zärtlich, „hier ist nicht der geringste Hinweis auf einen Kampf festzustellen. Entweder der Täter hat Herrn Middleman überrascht oder das Opfer kannte ihn so gut, dass es dem Täter vertraute und nicht mit einer Attacke rechnete.“ Isenbarth legte den Arm sorgfältig neben den Körper auf die Bahre zurück.

      Jenny betrachtete die Leiche. Sie konnte nicht wirklich Trauer über den Tod dieses Menschen empfinden. Er war ein bekennender Nazi gewesen, hatte offenbar einer Gruppe angehört, die gewaltbereit gegen Andersdenkende vorging. Für so etwas hatte sie einfach kein Verständnis. Jenny war immer für Vielfalt gewesen, Menschen anderer Kulturen empfand sie als Bereicherung. Aber gut, diese Erwägungen hatten hier keinen Platz. Sie hatten eine Leiche und suchten ihren Mörder, alles andere durfte nicht interessieren. Hatte ihnen die Leiche also wirklich alle Antworten gegeben? Middleman hatte in diesem Autohaus gestanden, irgendjemand war gekommen, hatte ihm ein Messer zielgerichtet ins Herz gerammt und war wieder verschwunden.

      „Der Einstich“, sagte Jenny, „wieso ist er horizontal? Wenn ich mir die Situation vorstelle, dann halte ich das Messer doch so ...“ Sie hob eine Faust in die Luft, neben ihren Kopf, als halte sie einen unsichtbaren Dolch darin. „Jetzt stellen Sie sich vor, ich steche zu ...“ Die Faust sauste herab wie ein Fallbeil und stoppte nur Millimeter vor dem Eisernen Kreuz. „Die Einstichstelle müsste vertikal verlaufen.“

      Isenbarth war leicht zusammengezuckt, als die Faust auf die Leiche niederging. Er machte eine Halbdrehung und nahm den Pappkarton mit den Einweghandschuhen. „Vielleicht sollten Sie ...“

      Jenny schüttelte den Kopf und zog die über dem Toten schwebende Faust wieder zurück. Dann schlang sie sich die Arme um ihren zitternden Körper. „Nein, danke, schon gut.“

      Isenbarth stellte den Karton zurück ins Regal und lächelte milde. „So, wie Sie es beschreiben, kann es nicht geschehen sein, aus verschiedenen Gründen.“ Er räusperte sich und begann, den Kittel zu schließen. Allmählich schien es auch ihm kalt zu werden. Und offenbar rechnete er damit, dass die Unterredung doch länger dauern würde als erwartet. „In der Tat trat der Dolch waagerecht in die Brust ein. Er muss also eine andere Handhabung angewendet haben, wenn Sie erlauben …?“ Er ging auf Jenny zu, zog dabei seine Taschenlampe aus der Brusttasche und nahm diese in die rechte Faust. Jenny gegenüber ging er in die Hocke und machte eine Bewegung, wie sie Jenny vom Rückhandschlag beim Tennis kannte: Er ließ seine Hand von