George Eliot

Middlemarch


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Seite des Hauses, von welcher man diese Aussicht genoß, war die günstigste, denn die Süd- und Ostseite gewährten selbst am schönsten Morgen einen etwas melancholischen Anblick. Hier waren die Rasenplätze beschränkter, die Blumenbeete nicht sehr sorgfältig gepflegt, und große Baumgruppen, namentlich von finstern, hohen Eibenbäumen standen nicht dreißig Schritt von den Fenstern entfernt. Das aus grünlichem Sandstein errichtete Gebäude war ein alt englisches Haus, nicht gerade häßlich, aber mit kleinen Fenstern und von melancholischem Aussehen, eines jener Häuser, welche munterer Kinder, offener Fenster, vieler Blumen und kleiner freundlicher Aussichten bedürfen, um sie als ein heiteres Daheim erscheinen zu lassen. An diesem Spätherbsttage mit seinen spärlichen, gelben Blättern, die langsam auf das dunkle Immergrün herab fielen, mit seiner sonnenlosen Stille machte auch das Haus einen herbstlichen Eindruck, und Casaubons Erscheinung war nicht geeignet, das melancholische Aussehen des Ganzen zu mildern.

      »O, du lieber Gott,« dachte Celia bei sich, »in Freshitt Hall würde der Aufenthalt gewiß heiterer gewesen sein, als in diesem Hause.«

      Vor ihrem innern Auge erhob sich das schöne Gebäude aus weißem Sandstein mit seinem von Säulen getragenen Porticus, und der reich mit Blumen besetzten Terrasse; dann sah sie Sir James, wie er lächelnd, gleich einem verzauberten Prinzen, plötzlich mit einem rasch aus den zartesten duftigsten Staubfäden gewobenen Schnupftuche, hinter einem Rosenbusche hervortrat, – Sir James, der so angenehm über verständige Dinge zu reden wußte und sich nicht mit gelehrtem Kram befaßte! Celia hatte jene leichten, jungen, weiblichen Neigungen, welche ernste und in den Stürmen des Lebens ergraute Männer bisweilen an ihren Frauen vorziehen; aber Casaubon hatte einen andern Geschmack und das war gut für ihn; denn er würde bei Celien entschieden nie Glück gemacht haben.

      Dorothea dagegen fand das Haus mit seiner Umgebung ganz nach ihrem Geschmack; die dunklen Büchergestelle in der langen Bibliothek, die Teppiche und Gardinen mit ihren von der Zeit gebleichten Farben, die sonderbaren alten Landkarten und Ansichten aus der Vogelperspektive, welche an den Wänden des Vorplatzes, hie und da über einer alten Vase, hingen, hatten für sie nichts Bedrückendes, und schienen ihr ein erfreulicherer Anblick, als die Bronze-Statuen und Bilder auf Tipton-Hof, welche ihr Onkel vor langen Jahren von seinen Reisen, – vermutlich als Zubehör der Ideen, welche er seiner Zeit in sich aufgenommen, mit nach Hause gebracht hatte. Die klassischen Nuditäten und die lüstern lächelnden Gesichter aus der Renaissancezeit starrten die arme in puritanischen Anschauungen befangene Dorothea unverstanden an. Sie hatte nie gelernt, diese Dinge als etwas für ihr geistiges Leben Bedeutsames zu betrachten. Die Eigentümer von Lowick hatten augenscheinlich keine Reisen gemacht und Casaubon hatte sich bei seinen Studien über die Vergangenheit keiner künstlerischen Hilfsmittel bedienen können.

      Dorothea ging in freudiger Aufregung durch das ganze Haus. Alles in diesen Räumen schien ihr geheiligt: dies war die Stätte, wo sie als Frau ihre Heimat finden sollte, und mit vertrauensvollen Blicken sah sie zu Casaubon auf, so oft er ihre Aufmerksamkeit auf irgend eine vorhandene Einrichtung lenkte, und sie fragte, ob sie eine Veränderung derselben wünsche. Sie nahm jede solche Rücksicht auf ihren Geschmack dankbar auf, fand aber nichts zu ändern. Seine Anstrengungen, sich einer peinlichen Höflichkeit und einer förmlichen Zärtlichkeit zu befleißigen, hatten für sie nichts Abstoßendes. Sie füllte alle Lücken seines Wesens mit verborgenen Vollkommenheiten aus, indem sie sich dieses Wesen wie die Werke der Vorsehung erklärte, und anscheinende Disharmonien auf Rechnung der Stumpfheit ihres Ohrs für höhere Harmonien setzte. Und in welchem Brautstande gäbe es nicht Lücken, welche ein liebendes Auge mit glücklicher Zuversicht ausfüllt?

      »Jetzt aber, meine liebe Dorothea, mußt Du mir den Gefallen tun, mir zu sagen, welches Zimmer Du am liebsten zu Deinem Boudoir gemacht sehen würdest,« sagte Casaubon, und zeigte damit, daß seine Auffassung von weiblichen Bedürfnissen weit genug sei, um auch die Notwendigkeit eines Boudoirs zu begreifen.

      »Es ist sehr freundlich von Dir, daran zu denken,« erwiderte Dorothea,« ich versichere Dich aber, es wäre mir lieber, wenn all dergleichen ohne mein Zutun für mich entschieden würde. Es wird mich viel glücklicher machen, wenn Alles gerade so bleibt, wie Du es gewöhnt gewesen bist, oder wie Du selbst es einrichten willst. Ich habe keine Veranlassung, es irgend anders zu wünschen.«

      »O Dora,« sagte Celia, »willst Du nicht das Zimmer mit dem Bogenfenster oben für Dich nehmen?«

      Casaubon ging den Übrigen voran nach diesem Zimmer hinauf. Durch das Bogenfenster sah man auf die Lindenallee hinab. Die Möbel im Zimmer waren alle mit einem verblichenen blauen Stoffe überzogen, und an der Wand hing eine Gruppe von Miniatur-Bildern gepuderter Herren und Damen. Auf einem Stücke alter Gobelintapete über, der Tür erblickte man in einer verblaßten blaugrünen Landschaft einen Hirsch. Die Tische und Stühle hatten dünne Beine und waren so leicht gebaut, daß man immer in Gefahr war, sie umzuwerfen. Man fühlte sich in diesem Zimmer wie von dem Geiste einer Dame im Reifrock umweht, welche gekommen wäre, die ehemals von ihr bewohnten Räume wieder aufzusuchen. Ein leichtes Büchergestell, welches in Kalbsleder gebundene Duodez-Bände einer eleganten Literatur enthielt, vervollständigte das Mobiliar.

      »Ja,« sagte Herr Brooke, »das würde ein hübsches Zimmer sein, wenn man es frisch tapezierte, neue Sofas hineinsetzte und dergleichen. So ist es ein bisschen kahl.«

      »Nein; Onkel,« entgegnete Dorothea eifrig, »bitte, sprich nicht von irgend welcher Veränderung. Es gibt so viele andere Dinge in der Welt, die verändert werden müßten – mir gefällt dieses Zimmer so wie es ist. Und Dir gefällt es auch, nicht wahr?« fügte sie hinzu, indem sie Casaubon ansah. »Vielleicht war dies das Zimmer Deiner Mutter in ihrer Jugend?«

      »Das war es allerdings,« erwiderte er, indem er den Kopf wie gewöhnlich langsam neigte.

      »Ist dies das Porträt Deiner Mutter?« fragte jetzt Dorothea, welche sich der Betrachtung der Miniaturen zugewandt hatte. »Es ist dem kleinen Bilde, welches Du mir gebracht hast, ganz ähnlich, nur scheint es mir ein besseres Porträt zu sein. Und das hier gegenüber, wer ist das?«

      »Ihre ältere Schwester. Sie waren, wie Du und Deine Schwester, die einzigen Kinder ihrer Eltern, deren Bilder da über ihnen hängen.«

      »Die Schwester ist hübsch,« bemerkte Celia, und gab damit zu verstehen, daß ihr Casaubons Mutter weniger gut gefiel. Es war für Celiens Phantasie eine ganz neue Vorstellung, daß Casaubon einer Familie entsprossen sei, deren weibliche Mitglieder ihrer Zeit Alle einmal jung gewesen seien, und Halsbänder getragen hätten.

      »Es ist ein eigentümliches Gesicht,« sagte Dorothea, indem sie das Bild genauer betrachtete. »Diese tiefen, grauen, etwas dicht nebeneinander stehenden Augen, und die feine unregelmäßige Nase mit einer Art Falte in der Mitte, und die im Nacken hängenden gepuderten Locken, – Alles in Allem, scheint es mir mehr eigentümlich als hübsch. Mit Deiner Mutter hat aber ihre Schwester nicht einmal eine Familienähnlichkeit.«

      »Nein. Und auch ihre Schicksale waren verschieden.«

      »Du hast ihrer gegen mich noch keine Erwähnung getan,« fuhr Dorothea fort.

      »Meine Tante war unglücklich verheiratet. Ich habe sie nie gesehen.«

      Dorothea war ein wenig überrascht, fühlte aber, daß es indiskret sein würde, sich grade jetzt nach den näheren Umständen, welche Casaubon mitzuteilen nicht für gut fand, zu erkundigen, und trat ans Fenster, um sich der Aussicht zu erfreuen. Die Sonne war vor Kurzem aus den Wolken hervorgetreten, und die von ihr beschienenen Linden warfen ihre Schatten vor sich her.

      »Sollen wir nicht ein wenig im Garten spazieren gehen?« fragte Dorothea.

      »Und Du möchtest ja auch gern die Kirche sehen, weißt Du,« bemerkte Herr Brooke, »es ist eine drollige kleine Kirche. Und das Dorf – es liegt Alles wie in einer Nussschale zusammen. Beiläufig, es wird Dir gefallen, Dorothea; denn die Bauernhäuser sehen aus, wie eine Reihe von Freiwohnungen, – mit kleinen Gärten, Nelken und dergleichen mehr.«

      »Ja, ja, bitte,« sagte Dorothea, Casaubon ansehend, »ich möchte das Alles gern sehen.«

      Sie hatte von ihm nichts Genaueres über die Wohnungen der ländlichen Arbeiter in