George Eliot

Middlemarch


Скачать книгу

war eine traurige Erfahrung, durch welche er sich ebenso entschieden zur Einsamkeit verdammt fühlte, wie in den Momenten der Verzweiflung, welche ihn bisweilen überkam, wenn er sich in seinem Werke wie in einem Sumpfe durchzuarbeiten hatte, ohne anscheinend seinem Ziele näher zu kommen.

      Und seine Einsamkeit war die traurigste von allen; denn sie schreckte vor sympathischer Teilnahme zurück. Er mußte wünschen, daß Dorothea ihn für nicht weniger glücklich halte, als er, ihr erfolgreicher Bewerber, der Welt erschien und, soweit seine schriftstellerische Tätigkeit in Betracht kam, lehnte er sich gern an ihr jugendlich ehrfürchtiges Vertrauen; er gefiel sich darin, ihr im Zuhören kundgegebenes frisches Interesse als ein Mittel der Aufmunterung für sich selbst anzusehen und wenn er zu ihr sprach, entwickelte er ihr alle seine Arbeiten und Intentionen in dem wohlüberlegten zuversichtlichen Tone des Pädagogen und befreite sich dabei für den Augenblick von jener eingebildeten Zuhörerschaft, welche ihn in seinen unproduktiven Arbeitsstunden in Gestalt von höllischen Schatten beklemmend umdrängte.

      Denn für Dorothea, welche von der Weltgeschichte bisher nichts anderes kannte, als das Kinderspielzeug, welches man eine für junge Damen berechnete Darstellung der Geschichte nennt, wie sie den Hauptbestandteil auch ihres Unterrichts ausgemacht hatte, waren die Mitteilungen Casaubons über sein großes Werk voll von neuen Anschauungen, und dieser Eindruck einer ihr werdenden Offenbarung, die Überraschung, welche ihr die nähere Bekanntschaft mit Stoikern und Alexandrinern, als Leuten, welche den ihrigen nicht ganz unähnliche Ideen gehabt hatten, bereitete, gewährte ihrem eifrigen Streben nach einem ihr eigenes Leben und ihren Glauben mit jener gewaltigen Vergangenheit verbindenden Elemente, durch welches die entlegensten Quellen des Wissens Einfluß aus ihre Handlungen gewinnen könnten, eine augenblickliche Befriedigung.

      Der vollständigere Unterricht würde folgen, Alles was ihr noch fehlte, würde Casaubon ihr mitteilen; sie sah der tieferen Einweihung in die Welt der Ideen entgegen, wie sie der Ehe entgegen sah, und vermengte ihre unklaren Vorstellungen von Beidem. Es würde ein großer Irrtum sein, zu glauben, daß Dorothea nach einem Anteil an Casaubons Wissen nur aus dem Gesichtspunkt einer Vervollkommnung ihrer Bildung verlangt hätte; denn obgleich das allgemeine Urteil der Bewohner Tiptons und Freshitts sie als sehr begabt bezeichnete, würde doch dieses Beiwort sie nur unzulänglich für solche Kreise charakterisiert haben, in deren präziser definierendem Wörterbuche Begabtheit eine vom Charakter ganz unabhängige Fähigkeit sich Kenntnisse anzueignen und verständig zu handeln bedeutet.

      All ihr Streben nach Vervollkommnung ihres Wissens war nur ein Ausfluss jenes vollen Stromes sympathischen inneren Lebens, von welchem ihre Ideen und Antriebe getragen wurden. Sie trug kein Verlangen danach, sich Kenntnisse wie ein neues Kleid anzulegen, sie sich anzueignen außer Zusammenhang mit den Nerven und dem Blute, welche ihre Tatkraft belebten, und wenn sie ein Buch geschrieben hätte, so würde sie das nur, wie es die heilige Therese getan, unter dem gebietenden Einfluss einer ihr Gewissen bindenden Autorität haben tun können. Aber wonach sie Verlangen trug, das war etwas, was ihr Leben mit einem zugleich verständigen und feurigen Handeln ausfüllen möchte, und da die Zeit leitender Visionen und geistlicher Führer vorüber war, da das Gebet wohl ihr Sehnen, aber nicht ihr Wissen steigerte, – wo anders sollte sie Erleuchtung suchen, als in Kenntnissen? Gewiß, konnten nur gelehrte Männer die Hüter des Lichtes sein, und wer war gelehrter als Casaubon!

      So blieben während dieser kurzen Wochen Dorotheens freudige und dankbare Erwartungen ungetrübt, und wenn auch ihren Geliebten bisweilen ein Gefühl der Leere überkam, so konnte er dieselbe doch niemals einer Abnahme ihres von Liebe getragenen Interesses Schuld geben.

      Die Milde der Jahreszeit begünstigte den Plan, die Hochzeitsreise bis Rom auszudehnen, und Casaubon lag sehr an der Ausführung dieses Plans, weil er einige Manuskripte in der vatikanischen Bibliothek einzusehen wünschte.

      »Ich bedaure noch immer, daß Deine Schwester uns nicht begleiten will,« sagte er eines Morgens zu Dorotheen, nachdem es sich kurz zuvor herausgestellt hatte, daß Celia keine Lust zu der Reise habe, und daß Dorothea ihre Begleitung gar nicht wünsche. »Du wirst viele einsame Stunden haben, Dorothea, denn ich werde genötigt sein, so viel wie möglich von meiner Zeit für meine wissenschaftlichen Zwecke zu verwenden, und ich würde mich freier fühlen, wenn Du Gesellschaft hättest.«

      Die Worte: »ich würde mich freier fühlen,« verletzten Dorothea. Zum ersten Male begegnete es ihr in einer Unterhaltung mit Casaubon, daß sie vor Verdruss errötete.

      »Du mußt mich ganz mißverstanden haben,« sagte sie, »wenn Du glaubst, ich würde den Wert Deiner Zeit nicht zu schätzen wissen, wenn Du glaubst, ich würde nicht gern auf Alles verzichten, was Deiner Benutzung derselben zu den besten Zwecken im Wege stehen könnte.«

      »Das ist sehr liebenswürdig von Dir, liebe Dorothea,« erwiderte Casaubon, dem es völlig entgangen war, daß er sie verletzt hatte; »aber wenn Du eine Dame zu Deiner Gesellschaft hättest, könnte ich Euch Beide unter die Obhut eines Cicerone stellen und wir würden so in derselben Zeit zwei Zwecke auf einmal erreichen können.«

      »Bitte sprich nicht wieder davon,« sagte Dorothea in einem etwas hochfahrenden Tone. Aber alsbald fürchtete sie Unrecht getan zu haben, und indem sie sich zu ihm wandte und ihre Hand auf die seinige legte, fügte sie in einem anderen Tone hinzu: »Bitte mache Dir um meinetwillen keine Sorge. Ich werde an so Vieles zu denken haben, wenn ich allein bin. Und Tantripp wird eine hinreichende Begleitung für mich sein, mich zu behüten. Ich könnte es nicht ertragen Celia bei mir zu haben, sie würde sich unglücklich fühlen.«

      Es war Zeit, Toilette zum Mittagessen zu machen. Es wurde an diesem Tage auf Tipton-Hof eine Mittagsgesellschaft gegeben, die letzte von den Gesellschaften, welche als geeignete Vorläufer der Hochzeit erschienen, und Dorothea war froh, sich beim Ertönen der Mittagsglocke sofort entfernen zu können, wie wenn sie einer mehr als gewöhnlichen Vorbereitung bedurft hätte. Sie schämte sich, über etwas gereizt zu sein, was sie sich selbst nicht erklären konnte; denn obgleich ihr jede Unwahrheit fern lag, hatte doch ihre Antwort das in ihr erweckte Gefühl der Verletztheit unberührt gelassen. Casaubons Worte waren ganz verständig gewesen, und doch hatte sie sich dabei der momentanen vagen Empfindung einer Entfremdung von seiner Seite nicht erwehren können.

      »Ach gewiß, ich befinde mich in einem seltsam egoistischen, schwachen Gemütszustand,« dachte sie bei sich. »Wie kann ich einen Mann haben, der so weit über mir steht, ohne mir bewußt zu sein, daß er meiner weniger bedarf, als ich seiner?«

      Nachdem sie sich überzeugt hatte, daß Casaubon völlig im Rechte sei, gewann sie ihren Gleichmut wieder, und bot das angenehme Bild heiterer Würde dar, als sie in ihrem silbergrauen Kleide, ihr dunkelbraunes Haar ganz in Übereinstimmung mit der Abwesenheit jeder Effekthascherei in ihrem Wesen und Ausdruck einfach gescheitelt und in einer dicken Flechte im Nacken aufgesteckt, den Salon betrat. Bisweilen schien, wenn Dorothea in Gesellschaft war, eine so völlige Ruhe über sie ausgegossen zu sein, als ob sie ein Bild der heiligen Barbara, wie sie von ihrem Turm in den klaren Himmel schaut, gewesen wäre; aber diese Intervallen der Ruhe machten die Energie ihrer Sprache und ihres Ausdrucks nur um so frappanter, so oft sie sich durch einen von Außen kommenden Appell zu einer Äußerung ihrer Gedanken aufgerufen fühlte.

      Sie war natürlich an diesem Abende der Gegenstand vieler Beobachtungen, denn die Gesellschaft war groß und in ihren männlichen Bestandteilen mannigfaltiger zusammengesetzt, als noch irgend eine seit der Rückkehr seiner Nichten von Herrn Brooke gegebene, so daß die Unterhaltung in mehr oder weniger unharmonischen Duetten und Terzetten vor sich ging. Da waren der neuerwählte Mayor von Middlemarch, ein Fabrikant; sein Schwager, ein philanthropischer Bankier, der einen so entscheidenden Einfluß in der Stadt übte, daß Einige ihn einen Methodisten, Andere einen Heuchler nannten, je nach der ihnen zu Gebote stehenden Ausdrucksweise; da waren ferner verschiedene Künstler und Gelehrte.

      Frau Cadwallader bemerkte, Brooke fange an die Middlemarcher zu fetieren, und sie ziehe die Gesellschaft der Pächter vor, welche bei dem Zehnten-Festmahl anspruchslos auf ihre Gesundheit tränken und sich des Mobiliars ihrer Großväter nicht schämten. Denn in jener Gegend des Landes fand, ehe die Reform so wesentlich auf die Entwicklung des politischen Bewusstseins gewirkt hatte, eine schärfere Abgrenzung der Stände und eine weniger scharfe Abgrenzung der Parteien