George Eliot

Middlemarch


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viel feiner ist, als die äußere Erscheinung, die als eine Art von Zifferblatt des Innern betrachtet wird.

      Und doch fanden die, welche sich Dorotheen mit dem durch jene Meinung hervorgerufenen Vorurteil näherten, daß ihr Wesen einen unerklärlichen, mit jenem Vorurteil unvereinbaren Reiz habe. Die meisten Männer fanden sie bezaubernd, wenn sie zu Pferde saß. Sie liebte die frische Luft und die Aussichten, die sich ihr bei weiteren Ausflügen darboten, und wenn ihre Augen und Wangen von verschiedenen angenehmen Empfindungen glühten, sah sie einer Frömmlerin sehr wenig ähnlich. Reiten war ein Vergnügen, das sie sich, gelegentlicher Gewissensskrupel ungeachtet, gestattete; sie fühlte, daß sie sich diesem Genuss mit einer heidnisch sinnlichen Empfindung hingab, und dachte immer daran, demselben zu entsagen.

      Sie war offen, feurig und nicht im Mindesten von ihrem eigenen Werte erfüllt; ja, es war anmutig zu beobachten, wie ihre Einbildungskraft ihrer Schwester Celia viel größere Reize, als deren sie sich selbst erfreute, andichtete; und wenn einmal ein Herr aus einem anderen Grunde nach Tipton-Hof zu kommen schien, als um Herrn Brooke zu sehn, so hielt Dorothea es für ausgemacht, daß er in Celia verliebt sein müsse. So war es z. B. mit Sir James Chettam, bei welchem sie fortwährend daran dachte, ob es gut für Celia sein würde, seine Bewerbung anzunehmen. Ihn als einen Bewerber um ihre eigene Hand anzusehen, würde ihr als eine lächerliche Verkehrtheit erschienen sein. Dorothea hatte bei all ihrem eifrigen Streben, die Wahrheit des Lebens zu ergründen, sehr kindliche Ideen über die Ehe. Sie hielt sich überzeugt, daß sie dem scharfsinnigen Hooker, wenn sie früh genug auf die Welt gekommen wäre, um ihn vor jenem unglücklichen Missgriff, den er bei seiner Ehe beging, zu bewahren, oder John Milton nach seiner Erblindung, oder irgend einem anderen großen Manne, dessen sonderbare Gewohnheiten zu ertragen ihr als ein rühmlich frommes Werk erschienen wäre, die Hand gereicht haben würde. Aber wie konnte ein liebenswürdiger hübscher Baronet, der alle ihre Bemerkungen, selbst wenn dieselben der Unsicherheit ihres Urteils Ausdruck gaben, mit einem »vollkommen richtig« beantwortete, ihr den Eindruck eines ernstlichen Bewerbers um ihre Hand machen? Als das Ideal einer Ehe erschien ihr die, in welcher ihr Gatte eine Art von väterlichem Freund sein würde, der sie, wenn sie es wünschen sollte, selbst im Hebräischen unterweisen konnte.

      Diese Sonderbarkeiten in Dorotheen's Charakter ließen es den benachbarten Familien nur um so tadelnswerter erscheinen, daß Herr Brooke nicht eine Dame von mittleren Jahren als erfahrene Gesellschafterin für seine Nichten engagiere. Aber er selbst fürchtete die Art von überlegenen Frauen, zu welchen eine für eine solche Stellung geeignete Dame mutmaßlich gehören würde, so sehr, daß er sich gern von Dorotheen's Einwänden bestimmen ließ und in diesem Falle den Mut hatte, dem Urteil der Welt, d. h. dem Urteil der Frau Cadwallader, der Gattin des Pfarrers, und der kleinen Gruppe von Landedelleuten im nordöstlichen Winkel von Loamshire, mit welchen er verkehrte, zu trotzen. Dorothea Brooke stand daher dem Haushalte ihres Onkels vor und fand an dieser neuen Würde mit den Huldigungen, welche derselben dargebracht wurden, Gefallen.

      Heute sollte Sir James Chettam mit einem anderen Herrn, welchen die Mädchen noch nie gesehen hatten, welchem aber Dorothea mit einer verehrenden Erwartung entgegensah, auf Tipton-Hof zu Mittag essen. Das war der Ehrwürdige Edward Casaubon, welcher in der Grafschaft in dem Rufe eines Mannes von tiefer Gelehrsamkeit stand und von welchem man wußte, daß er seit vielen Jahren an einem großen Werke über Religionsgeschichte arbeite, ein Mann, dessen Wohlhabenheit seiner Frömmigkeit einen besondern Glanz verlieh und welcher eigentümliche Ansichten hatte, über die man durch die Veröffentlichung seines Werkes genauere Aufschlüsse erhalten solle. Schon sein bloßer Name »Casaubonus« erweckte eine Vorstellung von Gelehrsamkeit, freilich nur bei denen, welche in der Gelehrtengeschichte bewandert waren.

      Schon früh am Tage war Dorothea aus der Warteschule, die sie im Dorfe gegründet hatte, nach Hause zurückgekehrt und hatte ihren gewöhnlichen Platz in dem hübschen Wohnzimmer, welches zwischen den beiden Schlafzimmern der Schwestern lag, eingenommen, um der Beendigung der Pläne für einige Gebäude, deren Entwerfung ihre Lieblingsbeschäftigung ausmachte, obzuliegen, als Celia, welche sie schon eine Zeit lang mit der Absicht, ihr etwas vorzuschlagen, zaghaft beobachtet hatte, zu ihr sagte:

      »Liebe Dorothea, wenn Du nichts dagegen hast, wenn Du nicht sehr beschäftigt bist, – was meinst Du, wenn wir uns heute einmal Mama's Juwelen ansähen und sie unter uns teilten. Es sind heute gerade sechs Monate her, seit Onkel sie Dir gegeben hat, und Du hast sie noch nicht einmal angesehen.«

      Auf Celia's Zügen malte sich bei diesen Worten ein leiser Schatten von zürnendem Ausdruck, während das volle Hervorbrechen eines Vorwurfs durch eine zur Gewohnheit gewordene Ehrfurcht vor Dorotheen und ihren Grundsätzen zurückgehalten wurde, zwei Empfindungen, aus welchen eine unvorsichtige Berührung leicht einen geheimnisvollen elektrischen Funken herausschlagen konnte. Zu Celia's Beruhigung blickte Dorothea freundlich lachend auf.

      »Was Du für ein vortrefflicher kleiner Kalender bist, Celia! Sind es sechs Kalendermonate oder sechs Mondmonate?«

      »Heute schreiben wir den letzten September, und wir schrieben den ersten April, als Onkel Dir die Juwelen gab. Du weißt, daß er damals sagte, er habe sie bisher vergessen. Ich glaube, Du hast seit jener Zeit, wo Du den Schmuck hier in den Schrank verschlossest, gar nicht wieder an denselben gedacht.«

      »Nun, liebes Kind, wir dürften ja doch nie etwas davon tragen.«

      Dorothea sprach diese Worte in einem vollen herzlichen Tone, mit einem halb zutunlichen, halb erklärenden Ausdruck. Sie hatte ihren Bleistift in der Hand und zeichnete eben kleine Nebenpläne auf den Rand ihres Papiers.

      Celia errötete und sah sehr ernst aus. »Ich denke, liebe Dorothea, wir würden dem Andenken Mama's zu nahe treten, wenn wir die Juwelen weglegten und gar nicht beachteten. Und,« fügte sie zaudernd mit einem halbunterdrückten Seufzer hinzu, »Halsbänder sind etwas ganz Gewöhnliches, und selbst Madame Poinçon, die in einigen Dingen noch strenger war als Du, pflegte Schmuck zu tragen. Und im Himmel gibt es gewiß christliche Frauen, welche auf Erden Juwelen getragen haben.« Celia war sich einer gewissen geistigen Stärke bewußt, sobald sie sich einmal ernsthaft auf's Argumentieren verlegte.

      »Du möchtest sie tragen?!« rief Dorothea, mit dem Ausdruck des höchsten Erstaunens und mit einer dramatischen Gebärde, die sie eben jener Madame Poinçon, welche Schmuck zu tragen pflegte, abgesehen hatte. »Gewiß, laß sie uns hernehmen. Warum hast Du mir das nicht früher gesagt? Aber die Schlüssel, wo sind die Schlüssel?« Dabei preßte sie die Hände gegen die Seiten ihres Kopfes, als verzweifle sie an ihrem Gedächtnis.

      »Hier sind sie,« erwiderte Celia, welche diese Auseinandersetzung lange geplant und vorbereitet hatte.

      »Bitte, öffne die große Schublade des Schranks und nimm den Juwelenkasten heraus.«

      Der Kasten stand bald genug offen vor ihnen und die verschiedenen Juwelen lagen wie ein buntes Blumenbeet an dem Tische vor ihnen ausgebreitet. Es war keine große Auswahl, aber einige von den Schmucksachen waren von wirklich seltener Schönheit; unter ihnen fielen zwei, ein Halsband von dunkelvioletten, höchst elegant in Gold gefaßten Amethysten und ein Kreuz von Perlen mit fünf Brillanten, sofort als die schönsten in die Augen. Dorothea nahm das Halsband in die Hand und band es ihrer Schwester um den Hals, den es fast so eng wie ein Armband umschloss; aber dieses enge Halsband paßte gerade zu dem Henriette-Marien-Styl von Celia's Kopf und Hals, und daß dem so war, konnte sie selbst in dem gegenüberstehenden Spiegel sehen.

      »Siehst Du, Celia, das kannst Du mit Deinem weißen Musselinkleid tragen. Aber das Kreuz paßt zu Deinen dunklen Kleidern.«

      Celia bemühte sich, ein freudiges Lächeln zu unterdrücken.

      »O Dora, das Kreuz mußt Du für Dich behalten.«

      »Nein, nein, liebes Kind,« sagte Dorothea, indem sie mit der Hand eine nachlässig abwehrende Bewegung machte.

      »Ja wohl, ja wohl, Du mußt; es würde Dir bei Deinem schwarzen Kleide gut stehen,« erwiderte Celia dringend. »Du kannst es getrost tragen.

      »Nein, nicht um Alles in der Welt. Ein Kreuz ist das letzte, was ich als Schmuck tragen möchte.« Dabei durchfuhr Dorothea ein leichter Schauer.

      »Dann findest