George Eliot

Middlemarch


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von Handlungen nicht zu neugierig nachforschen,« bemerkte er jetzt in seiner gemessenen Weise. »Fräulein Dorothea weiß, daß Motive leicht schwach erscheinen, wenn sie ausgesprochen werden: ihr Duft vermengt sich dann mit der gröberen Luft. Wir müssen daher den Keim unserer Handlungen sorgfältig vor dem Lichte der Außenwelt schützen.«

      Dorothea errötete vor Vergnügen und blickte dankbar zu Herrn Casaubon auf. Das war ein Mann, der ein höheres inneres Leben zu verstehen im Stande war und mit welchem ein geistiger Verkehr möglich erschien, ja ein Mann, welchem das reichste Wissen zur Unterstützung seiner Prinzipien zu Gebote stand, – ein Mann, dessen Wissen so umfassend war, daß es ihm fast für Alles, was er glaubte, die Beweise an die Hand gab. Dorotheen's Schlüsse mögen gewagt erscheinen, aber ohne diese Kühnheit der Schlussfolgerungen, welche das Eingehen von Ehen in den verwickelten Verhältnissen der Zivilisation so sehr erleichtert haben, würde das Leben zu allen Zeiten gestockt haben.

      »Gewiß,« stimmte der gute Sir James bei. »Ich will Fräulein Dorothea nicht drängen, ihre Gründe anzugeben, sie zieht es vor, dieselben zu verschweigen. Ich bin überzeugt, sie würden ihr, wenn sie sie ausspräche, nur zur Ehre gereichen.«

      Er war durchaus nicht eifersüchtig auf das Interesse, mit welchem Dorothea zu Herrn Casaubon aufgeblickt hatte, es kam ihm nicht in den Sinn, daß ein Mädchen, welchem er seine Hand anzubieten dachte, ein anderes Interesse an einem etwa fünfzigjährigen vertrockneten Bücherwurm nehmen könne, als das einer Art frommer Hochachtung für einen ausgezeichneten Geistlichen.

      Als sich indessen Fräulein Dorothea in eine Unterhaltung über die Geistlichkeit des Waadtlandes mit Herrn Casaubon vertieft hatte, zog Sir James es vor, sich zu Celia zu begeben und sich nun mit dieser über ihre Schwester zu unterhalten; er sprach von einem Hause in London und fragte Celia, ob Dorothea etwas gegen London habe. Von ihrer Schwester entfernt, sprach Celia ganz zwanglos, und Sir James dachte bei sich, das zweite Fräulein Brooke sei doch ein ebenso angenehmes wie hübsches Mädchen, wenn auch nicht, wie einige Leute behaupteten, gescheiter und verständiger als ihre ältere Schwester. Er war überzeugt, die in jeder Beziehung bedeutendere von beiden Schwestern gewählt zu haben, und welcher Mann wäre nicht darauf bedacht, sich die Beste zu sichern.

      3

      Say, goddess, what ensued, when Raphael,

      The affable archangel …

      Eve

      The story heard attentive, and was filled

      With admiration, and deep muse, to hear

      Of things so high and strange.

       Milton: Paradise Lost

      Wenn Herr Casaubon wirklich an Dorothea als an eine für ihn passende Frau dachte, so kam ihm bei dieser eine Geneigtheit entgegen, deren Motive schon ursprünglich in ihrer Seele wurzelten, und am nächsten Tage hatte diese Geneigtheit bereits Knospen und Blüten getrieben. Denn am Morgen dieses Tages hatten sie eine lange Unterhaltung mit einander gehabt, während Celia, welche die Gesellschaft des Herrn Casaubon mit seinen Muttermalen und seiner fahlen Gesichtsfarbe nicht liebte, nach dem Pfarrhause entflohen war, um dort mit den schlecht beschuhten, aber lustigen Kindern des Pfarrers zu spielen.

      Dorothea hatte bei dieser Gelegenheit einen tiefen Blick in den unergründlichen Geistesquell des Herrn Casaubon getan und hatte dort in unendlich gesteigertem Maße jede Eigenschaft widergespiegelt gefunden, welche sie selbst mitbrachte; sie hatte ihm viel von ihren eigenen inneren Erfahrungen mitgeteilt und hatte sich von ihm den Zweck seines großen Werkes, welches von einer für sie unendlich anziehenden labyrinthischen Ausdehnung war, erklären lassen.

      Denn er war dabei so instruktiv gewesen wie Milton's »leutseliger Erzengel« und hatte ihr in einer des Erzengels nicht unwürdigen Weise mitgeteilt, wie er zu zeigen unternommen habe, – was freilich schon vor ihm nachzuweisen unternommen worden sei, aber nicht mit der Gründlichkeit und Korrektheit der Vergleiche und der Klarheit der Darstellung, welche er anstrebe –, daß alle mythischen Systeme oder vereinzelten mythischen Fragmente der Welt, korrumpierte Traditionen einer ursprünglich geoffenbarten Idee seien. Nachdem er einmal den richtigen Standpunkt gewonnen und festen Fuß auf demselben gefaßt habe, sei ihm das weite Gebiet mythischer Konstruktionen verständlich, ja, durch das von analogen Erscheinungen auf sie fallende Licht vollkommen klar geworden.

      Aber die richtige Auswahl aus dieser großen Ernte der Wahrheit zu treffen, sei keine leichte und rasch zu bewältigende Arbeit. Schon seine Notizen füllten eine ganze Reihe von Bänden; aber die eigentliche Aufgabe werde nun darin bestehen, diese massenhaften, noch immer im Wachsen begriffenen Resultate seiner Studien derartig zusammenzudrängen, daß sie auf einem kleinen Bücherbrett Platz finden würden.

      Bei dieser Erklärung, welche er Dorotheen gab, drückte sich Herr Casaubon fast so gelehrt aus, wie er es einem Fachgenossen gegenüber getan haben würde; ihm stand eben nur eine Ausdrucksweise zu Gebot. Allerdings verfehlte er nicht, so oft in seinem Vortrage ein lateinisches oder griechisches Zitat vorkam, mit der gewissenhaftesten Sorgfalt die Übersetzung hinzuzufügen; das würde er aber wahrscheinlich auch jedem anderen Hörer gegenüber getan haben. Ein gelehrter Provinzialgeistlicher ist gewohnt, sich seine Bekannten »als Lords, Ritter und andere edle und würdige Männer,« die des Lateinischen nur wenig kundig sind, zu denken.

      Dorothea war von der Tiefe und Weite dieser Konzeption ganz hingenommen. Das war doch etwas Anderes als die Seichtigkeiten einer für die Lektüre junger Mädchen berechneten Literatur. Hier stand ein neuer Bossuet vor ihr, dessen Werk gründliche Gelehrsamkeit mit inniger Frömmigkeit in Einklang bringen würde, ein moderner Augustinus, welcher die Ruhmeskränze eines Gelehrten und eines Heiligen auf seinem Haupte vereinigte.

      Die Heiligkeit schien bei ihm nicht weniger klar erkennbar als die Gelehrsamkeit, denn als Dorothea sich gedrängt fühlte, sich gegen ihn über gewisse Themata auszusprechen, über welche sie mit Niemandem in Tipton reden konnte, namentlich über die untergeordnete Bedeutung kirchlicher Formen und Glaubensartikel im Vergleich zu jener Religion der Seele, jener Versenkung des Ich's in die Gemeinschaft mit der göttlichen Vollkommenheit, deren Ausdruck sie in den besten christlichen Büchern der verschiedensten Zeiten enthalten glaubte, – fand sie in Herrn Casaubon einen Zuhörer, der sie sofort begriff, der sie versicherte, daß er selbst mit dieser Ansicht, sofern sie nur durch eine weise Annäherung an die Kirche moderiert erscheine, übereinstimme, und ihr historische Belege anführen konnte, die ihr bisher unbekannt gewesen waren.

      »Er denkt wie ich,« sagte Dorothea sich, »oder vielmehr er lebt in einer ganzen Welt von Gedanken, die sich in meinen Gedanken nur wie in einem elenden Taschenspiegel widerspiegeln. Und auch seine Gefühle, seine ganze Erfahrung – sind sie nicht ein See im Vergleich mit meinem kleinen Teiche?«

      Dorothea war mit ihren Folgerungen aus Worten und Stimmungen Anderer nicht weniger rasch bei der Hand als andere junge Mädchen ihres Alters. Symptome sind kleine meßbare Dinge; die Deutung aber ist unbegrenzt, und bei Mädchen von zärtlichem und feurigem Naturell ist jedes Symptom geeignet, eine Welt von Wunder, Hoffnung und Glauben herauf zu beschwören, in welcher ein Fingerhut voll Wissen die ganze Substanz bildet. Nicht immer sind sie dabei allzu gröblichen Täuschungen ausgesetzt; denn Sindbad selbst kann durch einen glücklichen Zufall auf eine richtige Beschreibung verfallen, und falsches Räsonnement führt arme Sterbliche bisweilen zu richtigen Schlüssen; wenn wir auch weit vom richtigen Ausgangspunkte anfangen und uns in Sprüngen oder im Zickzack fortbewegen, gelingt es uns doch bisweilen, am richtigen Ziele anzulangen.

      Wenn Dorothea in ihrem unbedingten Vertrauen zu rasch zu Werke ging, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß Herr Casaubon dieses Vertrauens unwürdig war. Es bedurfte, um ihn zu bewegen, etwas länger auf »Tipton-Hof« zu verweilen, als er beabsichtigt hatte, nur einer freundlichen Aufforderung des Herrn Brooke, der ihm als Lockung nichts anderes zu bieten hatte, als seine Dokumente über das Treiben der Arbeiter, über das Zerstören von Maschinen oder das Verbrennen von Heuschobern. Herr Brooke forderte Herrn Casaubon auf, sich diese auf einem Haufen liegenden Dokumente in der Bibliothek anzusehen. Hier nahm sein Wirth bald das eine, bald das andere derselben zur Hand, um es in seiner abspringenden und unruhigen Weise,