George Eliot

Middlemarch


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alle bei Seite schob, um das Tagebuch seiner in der Jugend auf dem Kontinent gemachten Reisen zu öffnen.

      »Sehen Sie, hier ist Alles über Griechenland. Rhamnos, die Ruinen von Rhamnos, Sie sind ja ein großer Grieche. Ich weiß nicht, ob Sie sich auch viel mit der griechischen Topographie beschäftigt haben. Ich habe eine unendliche Zeit auf das Studium dieser Dinge verwandt. Da ist z. B. der Helikon. Sehen Sie hier! – am nächsten Morgen brachen wir nach dem Parnassos auf – dem Parnassos mit dem verteufelt spitzen Gipfel! Dieser ganze Band, wissen Sie, behandelt Griechenland.«

      Dabei hielt Herr Brooke das Buch vor sich und fuhr mit dem Rücken des Daumens über den Rand desselben hin.

      Herr Casaubon gab eine würdige, wiewohl etwas melancholische Zuhörerschaft ab; bei geeigneten Stellen verneigte er sich und vermied es so viel wie möglich, irgend etwas, das einem Dokumente ähnlich sah, anzusehen, hütete sich jedoch, durch irgend ein Zeichen Nichtachtung oder Ungeduld zu verraten; denn er bedachte wohl, daß die Oberflächlichkeit des Herrn Brooke mit den Institutionen des Landes zusammenhänge, und daß der Mann, der ihm diese geistige Marter bereite, nicht allein ein liebenswürdiger Wirth, sondern auch ein Gutsbesitzer und Archivar der Friedensgerichts-Protokolle sei.

      Fühlte er sich in seinem geduldigen Ausharren auch durch die Erwägung bestärkt, daß Herr Brooke Dorotheen's Onkel sei? Augenscheinlich war er mehr und mehr darauf bedacht, sie zum reden zu bringen, sich, wie Celia beobachtete, mit ihr allein zu unterhalten. Wenn er sie ansah, überflog sein Gesicht oft ein Lächeln, das dem Sonnenschein eines kalten Wintertages glich.

      Bevor er am nächsten Morgen Tipton verließ, benutzte er noch einen angenehmen Spaziergang mit Dorotheen längs der mit Kies bedeckten Terrasse dazu, ihr zu sagen, daß er sehr unter seiner Einsamkeit leide und das Bedürfnis der heiteren Gesellschaft, mit welcher die Jugend auf die ernsten Arbeiten des reiferen Alters belebend und anregend wirke, sehr lebhaft empfinde; und er entledigte sich dieser Angaben mit einer so sorgfältigen Präzision des Ausdrucks, als wenn es sich um einen diplomatischen Auftrag gehandelt hätte, bei welchem jedes Wort von entscheidendem Gewicht gewesen wäre.

      In der Tat war Herr Casaubon nicht gewohnt, seine Mitteilungen praktischer oder persönlicher Natur zu wiederholen oder nochmals in Betracht zu ziehen. Wenn er am 2. October wohl überlegter Weise gewisse Neigungen ausgesprochen hatte, so würde er es später für genügend halten, an diese Kundgebung durch Erwähnung des Datums zu erinnern; da er auch bei Anderen sein eigenes Gedächtnis voraussetzte, das einem umfangreichen Buche glich, in welchem ein »Siehe Oben« statt aller Wiederholung dienen kann, und nicht einem vielbenutzten Löschbuch, das nur die Spuren vergessener Schriftzüge aufbewahrt. Aber im vorliegenden Falle war Herrn Casaubon's Zuversicht kaum in Gefahr, getäuscht zu werden; denn Dorothea nahm Alles, was er sagte, mit dem Eifer einer frischen jungen Natur in sich auf, für welche jede neue Erfahrung eine Lebensepoche bildet.

      Es war drei Uhr Nachmittags an einem schönen frischen Herbsttage, als Herr Casaubon nach seinem nur eine Stunde von Tipton entfernten Pfarrhause in Lowick abfuhr, während Dorothea mit Hut und Schal längs der Gebüschwege und durch den Park dahineilte, um sich in dem Grenzwäldchen ohne andere sichtbare Gesellschaft als die Monk's, des großen St. Bernhard-Hundes, welcher die jungen Damen auf ihren Spaziergängen immer behütete, zu ergehen. Vor ihr war die Vision einer Verwirklichung des Traumes aller Mädchen von einer möglichen Zukunft aufgestiegen; dieser Zukunft blickte sie mit hoffnungsvollem Zittern entgegen, und sie fühlte das Bedürfnis, noch ferner ungestört in dieser Vision zu verweilen. Munter schritt sie in der frischen Luft dahin, ihre Wangen färbten sich höher, und ihr Strohhut – den wir heutzutage mit neugierig prüfenden Blicken wie eine veraltete Form eines Korbes betrachtet haben würden – fiel ihr ein wenig in den Nacken.

      Als charakteristisch für ihre Erscheinung dürfen wie nicht unerwähnt lassen, daß sie ihr braunes Haar schlicht geflochten und im Nacken aufgesteckt trug, so daß die Umrisse ihres Kopfes scharf hervortraten, und das zu einer Zeit, wo die allgemein herrschende Ansicht eine Verhüllung der Magerkeit der Natur durch hohe Barrikaden, gekräuselte Locken und Haarschleifen, wie sie von keinem großen Volke außer vielleicht von den Bewohnern der Fiji-Inseln überboten worden sind, gebieterisch erheischte. Das war ein Zug von Dorotheen's asketischer Natur. In ihren lebhaften hellen Augen aber lag nichts von asketischem Ausdruck, als sie vor sich hinblickend die feierliche Pracht des Herbstnachmittages mit seinen langen Lichtstreifen zwischen den in der Ferne sichtbaren Reihen von Linden, nicht eigentlich mit Bewusstsein sah, aber als Element ihrer gehobenen Stimmung in die Tiefe ihrer Seele aufnahm.

      Alle Leute jung oder alt (d. h. alle Leute in jenen Tagen vor der Reform) würden sie als einen des Interesses würdigen Gegenstand betrachtet haben, wenn sie geglaubt hätten, die Glut ihrer Augen und Wangen auf die regelmäßig bei jeder jungen Liebe erwachenden Vorstellungen zurückführen zu dürfen. Die Illusionen, denen sich Chloe in ihrer Liebe zu Strephon hingab, sind, wie es die liebliche Erscheinung jedes rückhaltlosen Vertrauens verdient, oft genug von den Dichtern besungen worden. Das kleine Drama von Fräulein Pippin, das den jungen Pumpkin anbetet, wurde zur Zeit unserer Väter und Mütter, welche seiner nie überdrüssig wurden, in allen erdenklichen Kostümen in Szene gesetzt. Wenn Pumpkin nur eine Gestalt hatte, welche das Unvorteilhafte eines Fracks mit kurzer Taille und einem Schwalbenschwanz aufwog, so fand es Jedermann nicht nur natürlich, sondern von der Vollkommenheit der weiblichen Natur gefordert, daß ein fühlendes Mädchen ohne Weiteres von Pumpkins Tugend, seiner ungewöhnlichen Begabung und vor Allem seiner vollkommenen Aufrichtigkeit überzeugt sei. Aber vielleicht hätte Keiner unter den damals Lebenden, gewiß Keiner von den Bewohnern der Umgegend Tipton's ein sympathisches Verständnis für die Träume eines Mädchens gehabt, dessen Ideen über die Ehe lediglich aus einer begeisterten Anschauung von den Zwecken des Lebens ihre Nahrung zogen, aus einer Begeisterung, welche sich wesentlich an ihrem eigenen Feuer erwärmte und sich weder auf die Herrlichkeiten der Aussteuer, noch auf das Muster des Essservices, noch selbst auf die Ehren und lieblichen Freuden einer blühenden Matrone erstreckte.

      Dorotheen war es jetzt aufgegangen, daß Herr Casaubon vielleicht den Wunsch hege, sie zur Frau zu nehmen, und der Gedanke, daß er diese Absicht ausführen könnte, erfüllte sie mit ehrfurchtsvoller Dankbarkeit. Wie gut von ihm – ja, das würde für sie fast sein, wie wenn ein geflügelter Bote auf ihrem Wege plötzlich vor sie hintrete und ihr die Hand reichte.

      Lange Zeit hatte sie sich durch die Unklarheit gedrückt gefühlt, welche in ihrem Gemüte wie ein dichter Sommernebel all ihre Sehnsucht, ihr Leben der Liebe zu widmen, trübend verhüllte. Was konnte sie, was sollte sie tun, sie, ein Weib, das noch kaum in der Blüte seiner Jahre stand, aber schon ein reges Gewissen hatte und das geistige Bedürfnis empfand, sich nicht mit einer mädchenhaften Bildung zu begnügen, die ihr dem Nagen und Bekritteln einer geschwätzigen Maus vergleichbar schienen.

      Wenn sie nur mit ein wenig Dummheit und Selbstgefälligkeit gesegnet gewesen wäre, so hätte sie denken können, daß ein christliches junges Mädchen das Ideal ihres Lebens darin finden müsse, in ihrem Dorfe Wohltätigkeit zu üben, die niedere Geistlichkeit zu patronisieren, sich mit dem Studium der weiblichen Charaktere der heiligen Schrift, der Sarah des alten und der Dorkas des neuen Testaments zu beschäftigen und bei einer Stickarbeit in ihrem Boudoir der Sorge für ihr Seelenheil mit der noch verhüllten Aussicht auf die Heirat mit einem Manne obzuliegen, für welchen sie, wenn er in Bezug auf unerklärliche religiöse Dinge weniger streng als sie selbst sein sollte, würde beten und welchen sie zu passender Zeit zum rechten Glauben würde ermahnen können.

      Aber eine solche Selbstzufriedenheit lag der armen Dorothea fern. Die Intensität ihrer religiösen Anlagen, die zwingende Gewalt, mit welcher dieselben auf die Gestaltung ihres Lebens wirkten, bildeten nur eine Seite ihrer durchaus feurigen, für theoretisches Denken begabten und mit geistiger Konsequenz ausgestatteten Natur; und bei einer solchen Natur war sie dazu verdammt, mit den Fesseln eines beschränkten Unterrichts zu ringen, war sie in soziale Verhältnisse gebannt, welche ihr als ein Labyrinth von kleinlichen Rücksichten, als ein ummauerter Irrgarten voll kleiner Wege erschienen, die zu keinem Auswege führten, der nicht von Anderen sicher zugleich als Exzentrizität und Inkonsequenz angesehen werden würde.

      Sie fühlte das Bedürfnis, das, was ihr als das Beste erschien, vor sich selbst durch die gründlichsten Kenntnisse