Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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endlich wieder aufwärts in ihrem Leben?

      Sie spürte plötzlich, dass die erdrückende Hilflosigkeit, die sie umklammert hatte, wie die mächtigen Arme eines Kraken, einer Entschlossenheit gewichen war, die sie sich nicht mehr zugetraut hatte. Ihr Leben, dem sie kaum mehr eine Bedeutung zugemessen hatte, dass nur noch einen nicht enden wollenden Schrecken für sie bereitgehalten zu haben schien, war plötzlich wieder auf Anfang gesetzt worden.

      Über ein Jahr lang hatte sie gelitten, war in fast jeder Nacht schweißgebadet aufgewacht. Verschwommene Bilder von Daniels geschändetem Körper hatten erbarmungslos an ihr gerüttelt und ihr den Schlaf entrissen. Bilder, die sich in ihrem Kopf fest verankert hatten und ständig präsent waren.

      Chantal nahm das Bild vom Regal, presste ihre Lippen auf die Glasfläche und die schloss die Augen.

      Daniels Leben wurde in der Rue des Saussaies ausgetreten. In einem der vielen Kellerräume, in denen die Gestapo ihr grausames Handwerk betrieb. Es waren unvorstellbare Foltermethoden, das wusste Chantal von den Berichten der wenigen Leidensgenossen, die in die Fänge der Boches geraten waren und das unglaubliche Glück hatten, diese Prozedur zu überleben. Daniel war nicht unter den Glücklichen. Nach allem was sie wusste, musste sein Tod eine Erlösung für ihn gewesen sein.

      Chantal stoppte ihre schmerzenden Gedanken. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck stellte sie das Bild zurück an seinen Platz und spürte im selben Moment den Zorn, der aus ihren Leiden erwachsen war. Der Energien in ihr freisetzte, die sie jetzt in ihrem Kampf gegen die Boches nutzen musste.

      Es war im Sommer vor fünf Jahren in einem kleinen Cafe in Cayeux-Sur-Mer. Bis heute erinnerte sie sich an ihre erste Begegnung mit Daniel. Er hatte mit Freunden plaudernd am Nebentisch gesessen und sie nach der Zuckerdose gefragt. Sein sinnlicher, melancholischer Blick, die leuchtenden, braunen Augen, die lockigen, fast schwarzen Haare – sie hatte das Kribbeln in ihrem Bauch kaum noch ertragen können.

      Das Pfeifen des Teekessels riss Chantal aus ihren Gedanken. Sie goss das kochende Wasser in die mit einem gefüllten Teesieb bereitgestellte Tasse. Schnell breitete sich das wohltuende Aroma aus Pfefferminze, Koriander und Fenchel in der kleinen Küche aus, die sie liebevoll mit Daniels alten englischen Möbeln eingerichtet hatte und in der sie sich öfter aufhielt als in den beiden anderen Räumen ihrer Wohnung.

      Chantal führte die heiße Teetasse behutsam an ihre Lippen, nippte am Tassenrand und nahm einen vorsichtigen Schluck. Der Tee brannte ihr auf der Zunge. Aus der Wohnung des Ehepaars Devaux direkt über ihr im dritten Stock, hörte sie wieder die Opernmelodien, die ihr oft über die langen und einsamen Abende hinweghalfen. Sie genoss die Musik geradezu als hochwillkommene Abwechslung zu den schauderhaften Militärmärschen, mit denen der Pariser Rundfunk die Bevölkerung Tag für Tag malträtierte. Wie oft hatte sie sich ein Grammofon oder einen dieser elektrischen Plattenspieler gewünscht, um die Musik abspielen zu können, die sie gerne hörte. Django Reinhardt, zum Beispiel. Aber Daniels Grammofon hatten sie konfisziert und sie selbst hatte kein Geld dafür.

      Chantal erinnerte sich an den frostigen Dezembermorgen, an dem sie mit zwei riesigen Koffern, erschöpft aber unendlich glücklich, in Amiens eingetroffen war. Ein Tag, den sie niemals vergessen würde. Daniel hatte mit einem Tannenzweig mit einer roten Schleife auf dem Bahnsteig gestanden und sie minutenlang in seinen Armen gehalten. Sie wäre vor Glück fast zerflossen.

      Daniel arbeitete als Anwalt in einer, wie er sagte, mäßig erfolgreichen Kanzlei und besaß eine kleine, gemütliche Wohnung im Zentrum von Amiens. Eigentlich war es nur ein großes Arbeitszimmer gewesen, das von einem mächtigen, achtzig Jahre alten englischen Schreibtisch samt einer ebenso antiken Schreibmaschine dominiert wurde. Vor den mit Büchern überladenen Regalen stapelten sich Zeitungen und Zeitschriften. In den Erker hatte er ein in die Jahre gekommenes, giftgrün bezogenes Sofa gepresst, auf dem sie sich an den kalten Winterabenden mit Tee und Keksen aneinander kuschelten und der Musik lauschten. Nebenan gab es ein winziges Schlafzimmer, in dem gerade einmal ein französisches Bett, ein Stuhl und ein kleiner Kleiderschrank Platz fanden und direkt gegenüber, auf der anderen Seite des schmalen Flurs befand sich die Küche. Nur langsam hatte Chantal sich daran gewöhnen können, dass sie kein eigenes Bad hatten. Dafür hatte Daniel eine kleine Zinkbadewanne gekauft, die in der Küche stand und am Wochenende suchten sie eine öffentliche Badeanstalt auf.

      Es war ein wunderschöner Neuanfang in Frankreich, nach den Schrecken der Monate zuvor. Daniels Freunde hatten sie aufgenommen, als wäre sie immer schon eine von ihnen gewesen. Sie kochten gemeinsam, veranstalteten Lesestunden und gingen oft tanzen. Das einzige Manko war, dass sie zunächst keine Arbeit gefunden hatte und auf Daniel angewiesen war.

      Chantal ummantelte die heiße Tasse mit beiden Händen und betrachtete nachdenklich das vom spärlichen Licht in ein schmutziges Braun getauchte Quergebäudes im Hof. Der bröckelnde Putz bedeckte nur noch die Hälfte der Fassade. Was ist aus Frankreich geworden, fragte sie sich immer wieder beim Blick aus diesem Fenster. Aus Paris, der Stadt der Kunst, der Mode, der Düfte und der Liebe? Diese Fassade schien irgendwie als Antwort zu taugen. Schon lange wusste sie, dass es die Stadt, in die sie sich einst ebenso verliebt hatte, wie in Daniel, nicht mehr gab.

      Wehmütig erinnerte Chantal sich an ihren ersten Besuch in Paris. Direkt nach ihrer Ankunft in Frankreich hatte sie Daniel bekniet, mit ihr nach Paris zu reisen. Immer wieder, aber er hatte sie ständig auf den Sommer vertröstet. Im Winter wäre auch Paris nur eine Stadt wie viele andere, sie solle sich etwas gedulden. Erst im Sommer würde Paris sein ganzes Flair entfalten und so sein, wie die Welt sie liebte. Sie hatte es kaum erwarten können.

      Chantal trank von dem Tee. Paris war tatsächlich ein einziger Traum gewesen. Die Stadt hatte viel mehr an schönen Dingen zu bieten, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Gleich nach dem ersten Frühstück mit

      Cafe au Lait und Croissants waren sie an den Seinequais entlang geschlendert, hatten in der sanften Nachmittagssonne auf der Ruede

      Bourdonnais Moules a la Creme mit einem Glas Weißwein genossen und waren am Abend zum Montmatre hinaufgestiegen.

      Überhaupt Montmatre, die hübschen Fassaden in den schmalen Gassen, die schillernden Menschen, die intensiven Farben wohin man schaute. Sie konnte gut nachvollziehen, warum sich so viele Maler und Künstler von dieser Atmosphäre hatten inspirieren lassen.

      Die Nächte hatten sie in einem einfachen, aber sauberen Hotel in der Nähe von Sacre Coeur verbracht. Lange hatten sie über die knarrenden Betten gelacht, in denen sie sowieso kaum zum Schlafen kamen. Als sie am Sonntagnachmittag total übermüdet im Zug nach Amiens saßen, stand für sie fest, irgendwann in naher Zukunft mit Daniel nach Paris zu ziehen. Sie konnte von der Energie dieser Stadt nicht genug bekommen.

      Chantal erhob sich vom Küchentisch und ging in das Wohnzimmer. Beim Anblick des dominanten, mit einer grünen Bordüre abgesetzten Kachelofen fiel ihr ein, dass sich ihr Kohlenvorrat im Keller dem Ende zuneigte. Wahrscheinlich werden Kohlen wieder kaum aufzutreiben sein, aber Roger würde ihr bestimmt helfen können. Er hatte für alle Probleme eine Lösung. Es waren schwierige Zeiten und wie alle Franzosen musste sie von Tag zu Tag denken, besonders, wenn es um Brennstoff und Lebensmittel ging.

      Chantal legte ein paar Holzkohlen nach. Nicht einmal ein Jahr nach dem Paris-Wochenende kam der Schock, von dem sie sich immer noch nicht erholt hatte. Die Nachricht im Radio hatte ihr förmlich den Boden unter den Füßen weggezogen. Die deutsche Wehrmacht war in Frankreich einmarschiert und hatte die französische Grenze mit einer erschreckenden Leichtigkeit überrollt. Sie erinnerte sich noch gut an das Schwindelgefühl, mit dem sie sich auf das Bett legen musste. Angst stieg in ihr auf, sie hätte Daniel in diesem Moment so dringend gebraucht, aber der war mit einem Kollegen unterwegs gewesen. Erst am späten Abend hatten sie darüber reden können und gleichzeitig aus dem Radio erfahren, dass die Deutschen schon vor Paris standen. Die folgende Nacht wurde zum Albtraum. Die erste von unzähligen Nächten, in denen sie kein Auge zubekam. Schnell wurde ihr klar, dass die Nazis das öffentliche Leben Frankreichs denselben ideologisch geprägten Regularien unterwerfen würden, wie sie es in Deutschland getan haben und das alle Menschen, die ihnen politisch oder weltanschaulich nicht gesinnt waren, ein beispielloses Martyrium erwartete. Besonders Menschen mit jüdischer Abstammung.

      Kurz