Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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besuchen. Sie wollte sich von dem Schrecken ein eigenes Bild machen. Es hatte ihr fast das Herz gebrochen. Auf den ersten Blick schien sich kaum etwas verändert zu haben. Das Leben pulsierte, in den Straßencafés und Restaurants gab es kaum freie Plätze. Auch die Geschäfte und Kaufhäuser waren so stark frequentiert wie zu Friedenszeiten. Doch schnell registrierte sie die riesigen, blutroten Banner mit den schwarzen Hakenkreuzen in weißen Kreisen. Wie Teufelszungen säumten sie die Geschäftsstraßen und verunstalteten die eindrucksvollen klassizistischen Fassaden des großen Pariser Stadtplaners Haussmann.

      Das charmante Gesicht der Stadt war zu einer Fratze mutiert. Und noch etwas anderes hatte das Bild verändert. Verstört registrierte Chantal die vielen hochrangigen Wehrmachtsangehörigen in ihren graugrünen Uniformen, freundlich und zuvorkommend und oft schon mit einer Französin an ihrer Seite. Oder die einfachen Soldaten, die sich mit nackten Oberkörpern und Schiffchen auf den Köpfen bei Bier und Grillwürsten auf den Parkflächen der Stadt vergnügten. Ein surreales Bild, dass sie lange Zeit nicht aus ihrem Kopf bekam.

      Sie machten sich auf den Weg zum Placede l‘Ètolle. Je näher sie kamen, desto lauter schallte ihnen deutsche Marschmusik entgegen und die Menschenmenge, die sich eingefunden hatte, wurde von Sekunde zu Sekunde dichter. Dann ging es nicht mehr weiter. Zwischen den Köpfen hindurch versuchte Chantal einen Blick in Richtung Triumphbogen zu werfen und zuckte im selben Moment zusammen. Eine deutsche Militärparade, die sich wie ein grauer Lavastrom ihren Weg bahnte, verfolgt von zumeist erschrockenen, aber auch euphorischen Blicken der Franzosen im Spalier. Übelkeit stieg in ihr auf, sie musste sich abwenden. Auf dem Weg zum Gare du Nord, von wo aus sie zurück nach Amiens fahren wollten, fiel ihnen ein Plakat auf, das einen von französischen Kindern umringten deutschen Soldaten zeigte. Entsetzt blieben sie stehen.

      Populatrions abbandonèes Faites confiance au Soldat Allemand.

      Sie wollte losschreien, hatte ihre Scham und Wut kaum noch unterdrücken können, doch Daniel nahm sie in den Arm und beruhigte sie. Es war ein entsetzlicher Tag gewesen und sie hatte es zutiefst bereut, ein weiteres Mal nach Paris gekommen zu sein.

      Chantal schaute auf die Uhr. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ein prüfender Blick in den goldgerahmten Spiegel auf dem Flur gab ihr das Gefühl, gut auszusehen. Eigentlich spielte das kaum noch eine Rolle in einer Zeit, wo es nicht mehr um das Aussehen, sondern ausschließlich um das nackte Überleben ging. Aber vielleicht wollte sie gerade deshalb schön sein und genau genommen musste sie es heute Abend auch sein.

      Es hatte sie große Mühen gekostet, ihre rotblonden, halblangen Haare, die sie mit Seitenscheitel trug, am Hinterkopf mit einem geschwungenen Knoten zu schließen. Als Betonung hatte sie die Markasit-Ohrclips und das dezente Silbercollier mit den Glasperlen gewählt. Ihr Blick wanderte nach unten. Das kaminrote Bauwollkostüm mit dem durchgeknöpften Oberteil und dem Schalkragen, das sie erst vor einer Woche erstanden hatte, saß perfekt. Es hatte sie viel Geld gekostet, aber jetzt war sie überzeugt, dass es das wert war. Mit einem knappen Lächeln schlüpfte sie in den grauen Baumwollmantel und wickelte sich den roten Schal um den Hals. Nachdem sie einen letzten Blick in ihre Handtasche geworfen hatte, nahm sie die Hausschlüssel und zog vorsichtig die Wohnungstür zu. Sie schloss zweimal ab und ging vorsichtig das Treppenhaus hinunter. Obwohl sie nicht zum ersten Mal mit den Schuhen unterwegs gewesen war, hatte sie sich immer noch nicht an die hohen Absätze gewöhnt.

      Als sie aus der Haustür trat, wurde sie von einem eisigen Schneeschauer empfangen, der durch die enge Rue Lamartine peitschte. Sofort fürchtete sie um ihre aufwendige Frisur und versuchte ihren Kopf mit der Handtasche zu schützen, was ihr nur notdürftig gelang. Mit schon zur Routine gewordenen Blicken auf die gegenüberliegende Straßenseite sowie in beide Richtungen der Straße überzeugte sie sich, dass alles in Ordnung war. Wie die meisten Pariser hatte sie es sich angewöhnt, auf uninspiriert herumstehende Männer in langen Mänteln und auf parkende schwarze Citroens zu achten. Die Straße war an diesem Freitagabend noch stark frequentiert. Männer hasteten mit Aktentaschen in der Hand von der Arbeit nach Hause. Unter den tief in die Stirn gezogenen Hüten waren die angespannten Gesichter kaum zu erkennen waren. Frauen drängelten mit großen Einkaufstaschen auf der Suche nach Lebensmitteln durch die Menschenmassen auf den Bürgersteigen. Auch sie hatte am Nachmittag fast zwei Stunden in endlosen Schlangen vor Lebensmittelgeschäften zugebracht, um mit den Rationierungsmarken das Nötigste für das Wochenende zu besorgen. Am Ende war sie wie schon so oft entnervt auf einem der von den Boches kontrollierten Schwarzmärkte gelandet, da sie sonst noch nicht einmal eine Flasche Rotwein für das Wochenende im Hause gehabt hätte.

      Chantal bog in die Rue Cadet ein und steuerte auf die nahe gelegene Metro-Station zu. Wie an jeden Morgen, wenn sie zu ihrer Arbeitsstelle fuhr. Fünf Stationen bis Aubervilliers und anschließend bis zum Pere Lachaise. Dort, am Nordende des berühmten Pariser Friedhofs befand sich in der der Avenue Gambetta der kleine Buchladen von Madame Laurent.

      Florence Laurent war eine resolute, aber herzliche Frau, der man ihr Alter von 52 Jahren nicht ansah. Ihre sonore Stimme, die dunkle Hornbrille und kurze, graue Haare sorgten für ein herbes Erscheinungsbild, zu dem der weiche Glanz ihrer blauen Augen nicht passen wollte. Florence hatte ihren Mann im Ersten Weltkrieg verloren und seitdem spielten Männer in ihrem Leben nur noch eine untergeordnete Rolle. Auch wenn sie es so niemals ausdrücken würde, so hatte der Einmarsch der Deutschen vor drei Jahren ihrem Leben eine neue Perspektive gegeben. Fortan hatte sie sich dem Widerstand gegen das verhasste Besatzungsregime verschrieben.

      Chantal erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit Florence. Es war im Sommer 1941, ein Jahr nach dem Einmarsch. Obwohl in Paris alle Feierlichkeiten zum Nationalfeiertag abgesagt worden waren - schließlich gab es in diesen Zeiten nur für die Boches etwas zu feiern - wollten es sich Daniel und seine Freunde trotzdem nicht nehmen lassen, den heiligen 14. Juli mit einem ordentlichen Fest zu begehen.

      Es war ein heißer Sommertag gewesen. Sie trafen sich auf dem Bauernhof von Pauline und Roger in Pacy-sur-Eure. Eine Band spielte Swing von Benny Goodman, Glenn Miller und Django Reinhardt. Dazu interpretierte ein Duo Chansons von Jean Sablon. Endlich mal wieder richtige Musik! Sie tanzten, labten sich an den mitgebrachten Speisen und diskutierten bis in den frühen Morgen hinein über die angespannte politische Situation. Niemand dachte an den dunkelgrauen Alltag, dem sie sich schon am nächsten Morgen wieder ausliefern mussten. Florence saß an einem Tisch unter einer Kastanie und redete unaufhörlich auf ihre jüngeren Zuhörer ein. Sie sprach von Flugblättern, die unter das Volk gebracht werden müssten, von Netzwerken, die es galt auszubauen, von passivem Widerstand überhaupt und sogar über das Auskundschaften von Objekten, die für Sabotageakte geeignete waren.

      Chantal verstand sofort, dass sie über den Widerstand gegen die Deutschen redete. Als Florence kurz darauf Chantals Geschichte erfuhr, war sie sehr angetan und betrachtete es als ihre persönliche Aufgabe, sich um sie zu kümmern. Sie war fortan ihre Arbeitgeberin, beste Freundin und Ersatzmutter zu gleichen Anteilen.

      Daniel hatte ihr sein Engagement bei der Liberation Nord lange Zeit verschwiegen. Bei der Suche nach einem Buch war sie auf einen Stapel Flugblätter gestoßen, den Daniel gut getarnt in seinem Schreibtisch aufbewahrt hatte. Im ersten Moment war sie schockiert. Widerstand gegen die Nazis war nicht die Auseinandersetzung eines bockigen Kindes mit seiner Mutter. Man brauchte nur einen Blick auf Deutschland zu werfen, um sich ein Bild von diesem Gegner zu machen. Noch am selben Abend hatte sie Daniel darauf angesprochen. In der anschließenden Diskussion auf der Couch, die bis in die frühen Morgenstunden andauerte, hatte sie dann von seinen Beweggründen für das Engagement in der Rèsistance erfahren: Daniel war Halbjude aus der Linie seiner Mutter. Sie hatte ihn spontan umarmt, die Tränen aus seinem Gesicht gestrichen und ihm anschließend mit Worten, die keine Widerrede duldeten, zu verstehen gegeben, dass auch sie seinen Kampf unterstützen werde.

      Als Chantal den Bahnsteig der Metro-Station erreichte, erinnerte sie sich daran, dass sie heute nicht zur Arbeit fahren würde und daher den Zug in die entgegengesetzte Richtung nehmen musste.

      Ihr Ziel war Saint Germain, direkt am südlichen Seineufer.

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       Samstag, 30. Juli 1938