Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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gegenüber aus. Sie hatte ihn nicht mehr wiedererkannt. Das liebevolle Familienoberhaupt, das mit ihr im Garten spielte, an den Sommerwochenenden mit der Familie zum Baden an die Krumme Lanke oder in den Zoologischen Garten fuhr, immer verbunden mit einer großen Portion Eis und einem Glas Limonade. Was war mit dem angesehenen Rechtsanwalt, der bald seine gutgehende Kanzlei einer Nazi-Karriere opferte, passiert? Sie konnte es sich lange nicht erklären.

      Nachdem er seinen neuen Dienst angetreten hatte, war er nur noch für diese sogenannte Bewegung da und Abend für Abend nach dem Essen in sein Arbeitszimmer verschwunden, wo er sich bald auch an den Wochenenden verschanzte. Gleichzeitig hatte sie die Veränderungen ihrer Mutter registriert. Mit einer erstaunlichen Hingabe war sie in die Rolle geschlüpft, die die Nazis den Frauen zugedacht hatten: ihrem Mann zu jeder Zeit die Beine zu spreizen, um dem deutschen Volk möglichst viel blonden und blauäugigen Nachwuchs für die großen Aufgaben der Zukunft bereitzustellen und ihn von den lästigen Pflichten im Haushalt zu entlasten. Getreu dem Vorbild und den Predigten der Reichfrauenführerin Scholz-Klink. Bildung und eine eigene berufliche Karriere waren in dieser nationalsozialistischen Lebensgemeinschaft für Frauen nicht vorgesehen. »Entschuldigen Sie, Mademoiselle Verhoeven, Sie wirken etwas ... nachdenklich«, hörte sie Stadings Stimme und zuckte zusammen.

      »Oh, verzeihen Sie, ich war tatsächlich etwas weggetreten. Habe beim Einkauf heute Nachmittag etwas vergessen.«

      »Dann sollten Sie hier am Buffet zuschlagen, damit es über das Wochenende reicht.« Stading grunzte durch die Nase. Chantal sah sich genötigt, mit zulächeln.

      »In welcher Funktion sind Sie hier in Paris?«, fragte sie, um das Gespräch wieder in Fahrt zu bringen, »oder dürfen Sie das nicht verraten?«

      Stading räusperte sich. »Doch, doch. Wenn ich Ihnen sage, was ich hier mache, ist das ja noch kein Geheimnis. Ich sitze beim Oberbefehlshaber West im Planungsstab für den Atlantikwall.«

      Chantal schluckte. Sie hatte von den mächtigen Befestigungsanlagen gehört, die die Deutschen von Norwegen bis zur Biskaya errichten, um eine Landung der Alliierten zu verhindern. Diese Irren!

      »Aber es läuft nicht so, wie es laufen sollte«, fuhr er fort und Chantal registrierte seinen verächtlichen Blick. »Von Rundstedt kriegt das nicht mehr alleine hin. Das wird so nichts.«

      Chantal sah ihn fragend an.

      »Ja, das sind Dinge, die Sie nicht verstehen können«, fuhr er fort, als er ihren Gesichtsausdruck registrierte. »Einfach ausgedrückt: Wir liegen nicht im Soll! Im Amt ist durchgesickert, dass Rommel die Sache in die Hände nehmen wird. Man munkelt, dass unser Wüstenfuchs schon in der Bretagne ist, aber das ist alles offiziell noch nicht bestätigt.« Er hielt inne, dann lachte er kurz auf. »Was erzähle ich da eigentlich? Ich weiß gar nicht, ob Sie so etwas überhaupt interessiert?«

      »Oh doch, ich finde das total spannend.«

      An einem der nahen Tische hatte sich eine Gruppe von Deutschen aufgebaut und ließ sich von einem Kellner fotografieren. Sie grinsten wie Spanferkel in die Kamera. Die Stimmung lief dem Höhepunkt entgegen und der Alkohol begann hier und da seine fatale Wirkung zu zeigen. Abgestoßen von der Wirtshausatmosphäre wandte Chantal sich wieder Stading zu, der näher an sie herangerückte war.

      »Wissen Sie was ich glaube?«, begann Stading und hielt inne. Chantal sah ihn fragend an.

      »Alles, was wir da oben an der Küste machen, ist für die Katz«, fuhr er fort. »Die Alliierten stehen auf dem Sprung. Es dauert nicht mehr lange, dann sind die in Frankreich gelandet. Ich gebe uns noch ein paar wenige Monate, um ehrlich zu sein. Dann ist Schluss mit Besatzung.«

      Chantal schluckte. Sie konnte ihr Erstaunen kaum verbergen. Aus dem Mund eines Deutschen waren diese Sätze ungeheuerlich. Anzeichen einer inneren Kapitulation! Defätismus! Nebenan wurde es immer lauter. Lacroix hatte die Musik gewechselt. Lale Andersens Stimme erfüllte den Saal.

      »Das könnte übrigens Ärger geben«, bemerkte Stading und nickte in den Raum. »Lilli Marleen ist in Deutschland verboten, aber das scheint hier auch keine Rolle mehr zu spielen ... wo war ich stehengeblieben? Ach so, wir haben natürlich keinen Schimmer, wo die Alliierten landen werden. Klar, irgendwo zwischen Dünkirchen und Brest. Das sind aber an die tausend Kilometer Küstenlinie.« Er lachte trocken auf. »Der absolute Wahnsinn! Alle gehen davon aus, dass sie bei Calais kommen werden, aber ich bin mir da nicht so sicher.« Stadings Augen flackerten. Er blickte noch einmal prüfend zur Seite, aber die Deutschen waren mit sich selbst beschäftigt und kaum noch in der Lage, um sich herum etwas wahrzunehmen.

      »Das wird nichts, sage ich Ihnen. Wir können hier einpacken! Je eher, desto besser!«

      Chantal sah den Deutschen fasziniert an und überlegte, wie sie mit dieser Offenbarung umgehen sollte. Das war zu viel auf einmal. Oder war es auch der Alkohol? Sie brauchte eine Pause.

      »Was Sie gerade erzählen ist kaum zu glauben«, sagte sie. »Aus Ihrem Mund, meine ich. Wir sollten etwas essen, bevor Sie fortfahren.«

      »Aber selbstverständlich, eine gute Idee. Ich habe auch einen riesigen Hunger.«

      Als Chantal zum Buffet kam, auf dem Quiche, Canardà l’Orange Rôti de boeuf, Crepes, Mousse au chocolate und andere Köstlichkeiten aufgebaut waren, spürte sie eine Beklemmung in sich. Während der Großteil der französischen Bevölkerung Fleisch und andere Zutaten nur noch auf Schwarzmärkten und zu astronomischen Preisen erstehen konnte, ließen es sich die Herrenmenschen hier gutgehen. Sie konnte die aufkeimende Wut kaum noch unterdrücken. Wie schon bei ihrem ersten Besuch in diesem Gourmet-Tempel, hätte sie die sorgsam arrangierten Schalen und Pfannen am liebsten von den Tischen gefegt. Ihr Appetit war wie weggeblasen, als sie sich einen leeren Teller vom Stapel nahm.

      Nachdem Stading sich mit der Serviette den Mund abgetupft hatte, zündete er sich eine weitere Zigarette an. Er nahm einem Schluck Rotwein und musterte Chantal mit entrücktem Gesichtsausdruck.

      »Was ist mit Ihnen, Monsieur Stading? Jetzt wirken Sie nachdenklich«. Stading rutschte von seinem Hocker und baute sich seitlich hinter ihr auf. »Ich brauche Ihre Hilfe«, raunte er ihr ins Ohr, während er sich vorsichtig nach allen Seiten hin umschaute. Chantal drehte den Kopf und sah ihn überrascht an.

      »Ich habe wichtige Unterlagen und möchte diese den Alliierten übergeben. Brisantes Material!«

      Sie zuckte zusammen, als wenn ein Blitz direkt neben ihr eingeschlagen wäre. Ein Überläufer? Darauf war sie nicht vorbereitet.

      »Mein Beitrag, den Krieg etwas früher zu beenden«, fügte er hinzu, den Blick in den Raum gerichtet. »Es könnte mich allerdings wegen Hochverrats den Kopf kosten. Insofern muss ich meine meine Aussage von vorhin, mein Job wäre kein Geheimnis, etwas revidieren.«

      Chantal spürte plötzlich den Druck, mit dem ihr Herz das Blut durch die Venen pumpte, das Pochen ihrer Schläfen, die unangenehme Feuchtigkeit, die aus allen Poren ihrer Haut austrat. Unzählige Gedanken schossen ihr durch den Kopf und alle schnitten sich in einem Punkt. Sie war plötzlich mitten in einem ganz anderen Spiel!

      »Und was kann ich für Sie tun?« Ihre belegte Stimme klang unsicher und brüchig.

      »Wie schon gesagt, ich muss mit meinem Material einen Weg zu den Alliierten finden. So bald wie möglich!« Er machte eine Pause, räusperte sich. »Und glauben Sie mir, meine Dokumente über den Atlantikwall würden den Alliierten einige Türen öffnen.«

      Chantal atmete flach. Reflexartig griff sie zum Weinglas und trank einen Schluck.

      »Wie kommen Sie darauf, dass gerade ich Ihnen dabei helfen könnte?« Stading lächelte reserviert.

      »Das sagt mir mein Instinkt. Auch wenn Sie, wie ich glaube, keinen direkten Zugang zu den Alliierten haben, werden Sie bestimmt in der Lage sein, eine Verbindung herzustellen.« Er klopfte die Asche seiner Zigarette über dem Aschenbecher ab. »Obwohl ich diesen Gedanken schon ein paar Tage mit mir herumtrage, ist das jetzt ganz spontan, wissen Sie.«

      »Und was macht Sie so sicher, dass ich nicht einen der anwesenden Herren hier anspreche? Man würde Sie in den nächsten