Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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      »Natürlich habe ich auch dieses Szenario einkalkuliert, Mademoiselle Verhoeven. Allerdings muss ich gestehen, dass ich Ihnen das nicht zutraue. In diesem, aus meiner Sicht unwahrscheinlichen, Fall jedoch«, er machte eine dramaturgische Pause und blickte auf sein Weinglas, als suche er nach passenden Worten, »würde ich mich kurz und schmerzlos von Ihnen und von dieser Welt verabschieden.«

      Chantal runzelte die Stirn.

      Stadings rechte Hand verschwand in seiner Hosentasche und förderte kurz darauf eine kleine Messingdose mit einem Schraubdeckel hervor. Mit triumphierendem Augenaufschlag hielt er sie ihr zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand entgegen.

      »Unser Notfallset. Enthält eine Kugel aus hauchdünnem Glas. Gefüllt mit Zyankali. Wirkt zuverlässig und schnell. Haben seit zwei Monaten alle Offiziere der Wehrmacht und der SS in der Tasche. Es gehört jetzt sozusagen zur Kampfausrüstung.« Er lachte heiser auf.

      »Es gibt übrigens nicht wenige meiner Kollegen, die dieser Kugel mehr vertrauen, als denen in ihren Dienstpistolen.«

      Chantal spürte die Beklemmung, die seine Worte bei ihr auslösten. Er schien zu allem bereit zu sein. Sie fragte sich immer noch, warum er gerade ihr seine Fluchtgedanken anvertraut hatte. Wusste er etwas über sie? Über ihre Mission in diesem Restaurant? Oder ist er vielleicht sogar ein Spitzel? Auch davor hatte Florence sie gewarnt. Dann würde seine Geschichte nicht stimmen. Ihr Puls raste.

      »Worüber denken Sie nach?«, unterbrach Stading ihre Gedanken. »Ich kann Ihnen versichern, dass wir ein gemeinsames Ziel haben.«

      »Es kommt für mich etwas überraschend, wissen Sie. Ich muss gestehen, dass es mich augenblicklich sogar überfordert.«

      Krampfhaft versuchte Chantal, die Situation für sich einzuordnen. Es waren nicht mehr nur ein paar nützliche Informationen, um die es hier ging, das war jetzt eine richtig große Nummer und wahrscheinlich eine zu große Nummer für sie. Wenn Stading tatsächlich imstande und bereit war, wichtiges Material über den Atlantikwall zu liefern, Material, dass den Alliierten weiterhelfen würde, dann musste sie alles dafür tun, um dies zu ermöglichen. Aber woher sollte sie wissen, ob sie ihm tatsächlich trauen konnte? Und wie sollte es dann weitergehen? Sie musste noch heute Florence kontaktieren.

      »Wahrscheinlich war das jetzt tatsächlich ein bisschen viel für Sie«, sagte

      Stading. »Sie sollten in Ruhe darüber nachdenken. Es kommt nicht auf einen Tag an. Trotzdem kann ich nicht mehr allzu lange warten.« Stading suchte ihren Blick. »Ich weiß nicht, warum ich glaube, dass Sie mir helfen können. Ist eine Eingebung. Meine Menschenkenntnisse haben mich bisher jedenfalls noch nie getäuscht.«

      Neben Chantal waren zwei Deutsche an den Tresen getreten. Chantal hörte sie über die kommenden Weihnachtsfeiertage plaudern, die sie bei ihren Familien in Deutschland verbringen wollten. Wie sie diese Kreaturen verabscheute. Sich in Frankreich austoben und dann ein paar biedere Tage vor dem Weihnachtsbaum verbringen und den guten Vater und Ehemann geben.

      »Ich werde darüber nachdenken, Monsieur Stading«, sagte Chantal und bemühte sich, distanziert und vage zu bleiben, »vielleicht lässt sich ja tatsächlich etwas machen. Ich kann Ihnen jedoch nichts versprechen.« Sie machte eine Pause. »Ihre Menschenkenntnis funktioniert jedenfalls. Sie können mir vertrauen.«

      Ein Lächeln entfaltete sich auf Stadings Gesicht.

       »Schön zu hören, Mademoiselle Verhoeven. Vielen Dank. Natürlich ist mir auch klar, dass Sie eine Nacht darüber schlafen müssen.«

      »Darum geht es nicht. Ich muss vor allen Dingen herausfinden, ob und wie ich Ihnen helfen kann.«

      Stading schloss für einen kurzen Moment die Augen.

      »Vielleicht würde es ja den Prozess etwas beschleunigen, wenn ich Ihnen morgen bei einem zweiten Treffen ein paar Materialproben überlasse. Die würden beweisen, dass ich es ernst meine. Sie hätten dann etwas in der Hand und könnten es, durch wen auch immer, prüfen lassen. Natürlich werden sie sich jetzt fragen, warum gibt der Bursche mir nicht einfach das Material, damit ich es weiterleiten kann und gut ist?« Stading räusperte sich zweimal. »Das wäre natürlich die einfachste Möglichkeit, aber, verstehen Sie mich bitte nicht falsch, es geht auch um mich. Ich muss auch aus Frankreich verschwinden! Ansonsten habe ich ein Problem.«

      Chantal nickte verständnisvoll. Sie blickte zur Seite. Die beiden Deutschen waren immer noch miteinander im Gespräch vertieft. Sie wandte sich wieder Stading zu.

      »Ja, ich verstehe das alles. Ist übrigens eine gute Idee, dass mit der Materialprobe.«

      »Okay, lassen wir das jetzt. Ich bestelle uns einfach noch etwas zu trinken«, sagte Stading. »Ein Glas Champagner?«

      »Nein, ich...«

      »Ach, kommen Sie Mademoiselle Verhoeven, das geht sowieso alles auf mich. Ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben.«

      Ohne eine Reaktion Chantals abzuwarten, suchte er den Blickkontakt zu einem Kellner und bestellte zwei Gläser Champagner.

      4

       Samstag, 30. Juli 1938

       Berlin-Zehlendorf,

       Am Großen Wannsee

       »Mein lieber Mann, hier ist ja ganz schön was los«, stellte der junge Mann mit den blonden, scharf gescheitelten Haaren und einem kräftigen Körperbau fest, während er von seinem Platz aus in die Runde schaute. »Sieh mal nebenan.« Er nickte unauffällig zum Nebentisch. »Das Mädel mit der Berliner Weiße. Scheint solo hier zu sein. Wäre genau meine Kragenweite.«

      »Deine Kragenweite?«, fragte sein Gegenüber grinsend. »Du bist doch verheiratet, Heinz, und hast deine Braut zu Hause. Ich...«

      »Das lass man meine Sorge sein, mein lieber Bernd«, fiel Heinz ihm in beleidigtem Tonfall ins Wort.

      »Versaue mir jetzt bitte nicht die Stimmung. Außerdem ist ein kleiner Seitensprung nichts Verwerfliches.«

      Heinz war sichtlich verärgert. Immer wieder schmieren sie mir aufs Brot, dass ich verheiratet bin. Es wird Zeit, dass ich mal ein paar deutliche Worte spreche. Schließlich ist das ganz alleine mein Problem, verdammt noch mal. Natürlich war es ein Fehler gewesen, Renate zu heiraten. Sie ist eine herzensgute Frau, nett anzusehen, wenn auch nicht attraktiv im herkömmlichen Sinn. Er glaubte allerdings, sie mal geliebt zu haben, was allerdings schon eine Ewigkeit zurücklag. Momentan war ihrer Beziehung jedenfalls die Luft entwichen und wenn er es ehrlich ausdrücken wollte, war der Reifen total platt. Da ging nichts mehr. Renate hatte alles versucht, um ihre Ehe zu retten, ihre Lösung war aber immer nur ein gemeinsames Kind. Das würde sie zusammenschweißen, ihrer Beziehung frischen Wind bescheren! Wie hatte er es gehasst, wenn sie schon beim Frühstück davon anfing. Der ganze Vormittag war hin. Seine Gegenargumente, die berufliche Anspannung und dass er noch etwas erreichen wolle, zählten bei ihr scheinbar gar nicht. Natürlich musste er zugeben, dass es ihm in erster Linie darum ging, seine Freiheit zu bewahren. Sonntagsspaziergänge mit dem Kinderwagen konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

      Als er Renate vor neun Jahren auf dem Schulhof des Victoria-Gymnasiums in Potsdam angesprochen hatte, war sie Feuer und Flamme gewesen. Sie war zwei Klassen unter ihm und himmelte ihn an, wie seinen Namensfetter Heinz Rühmann. Klar, er hatte einen großen Schlag bei den Mädels, sie war auch nicht seine erste Freundin. Schon bald trafen sie sich ein erstes Mal und dann regelmäßig. Als er im folgenden Sommer zu Hause in der elterlichen Wohnung in der Kaiser-Wilhelm-Straße blieb, während seine Eltern in ihrer Sommerresidenz in Heringsdorf auf Usedom verweilten, nutzte er die Gelegenheit, um sie flachzulegen. Seitdem wich sie ihm nicht mehr von der Seite.

      »Ach Herr Ober«, rief Heinz, als der Kellner vorbeikam, »wir hatten noch zwei Schnäpse bestellt.«

      »Ich weiß, aber ich habe nur zwei Hände zum Tragen. Wenn ich vier hätte, würde ich im Zirkus