Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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Paris, 1. Arrondissement,

       Jardin de Tuileries Orangerie

       Am frühen Nachmittag

      Sie hatten sich im Foyer neben den Kassen verabredet. Warum interessierte sich dieser Mann gerade für eine solche Ausstellung, fragte sich Chantal, während sie irritiert die Plakate betrachtete. Eine Ausstellung von Wandteppichen und Kartons zu Ehren des Vichy-Marschalls Petain. Unfassbar! Schon mit dieser Art von Kunst konnte sie überhaupt nichts anfangen und musste jetzt auch noch feststellen, dass alles dem größten Kollaborateur Frankreichs gewidmet ist. Sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob es nicht besser gewesen wäre, sich in einem Restaurant zu treffen.

      »Schön, dass Sie gekommen sind«, hörte sie plötzlich Stadings Stimme hinter sich. Sie wirbelte herum und zuckte zusammen. Die grau-grüne Wehrmachtsuniform, in der er vor ihr stand und stolz lächelte, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das Bild des hässlichen Deutschen! Ihr war die grenzenlose Affinität ihrer männlichen Landsleute zu Uniformen bekannt. Mit der Machtübernahme der Nazis ging es richtig los. Wehrmacht, SA, SS, Reichsarbeitsdienst, HJ, BDM, dazu Polizei, Post und Bahn. Es gab in Deutschland kaum noch Männer, die keine Uniform besaßen. Nur ungern erinnerte sie sich an die glänzenden Augen ihres Vaters, wenn er seine SS-Uniform aus dem Schrank holte, meistens jedoch nur, um sie stolz zu betrachten und um ein paar Staubflocken zu entfernen.

      »Sie schauen mich so zweifelnd an«, murmelte Stading verlegen, nachdem er sie knapp begrüßt hatte. »Ist es meine Uniform? Ich weiß, was in Ihnen vorgeht, aber wie sie sehen, fällt man hier weniger damit auf als in Zivil. Denken Sie einfach, sie sind jetzt die französische Geliebte eines deutschen Besatzers.« Er lachte kurz auf. Chantal nickte nachdenklich. Sie schauderte eher über sein Angebot, aber das war das Spiel, auf das sie sich eingelassen hatte. Während sie wie ein Paar durch die Ausstellungsräume schlenderten und nachdenklich vor den verschiedenen Wandteppichen stehen blieben, um darüber ein paar Worte zu wechseln, registrierte sie, dass Stading mit dieser Ausstellung ebenso wenig etwas anfangen konnte, wie sie selbst. Sie hatte sowieso keinen Blick für das, was dort gezeigt wurde und konzentrierte sich darauf, umstehenden Besucher im Auge zu behalten. Es waren tatsächlich viele Uniformierte in der Ausstellung und eine ganze Reihe von ihnen hatten tatsächlich eine junge Frau am Arm untergehakt. Natürlich Französinnen. Chantal fiel ein, dass sie noch sehr wenig über den Mann neben sich wusste und beschloss, die Gelegenheit zu nutzen, um mehr über ihn zu erfahren, als das, was er ihr gestern anvertraute.

      »Sie haben gestern nur angedeutet, was Sie hier in Frankreich machen«, begann sie, während sie auf einen hässlichen, ockerfarbenen Wandteppich starrte. »Können Sie mir mehr darüber erzählen.«

      Stading räusperte sich. »Aber natürlich, ich versuche es kurz zu machen. Ich bin vor zwei Jahren zum Oberkommando der Wehrmacht nach Paris gekommen. Meine Aufgabe bestand zunächst darin, französische Arbeitskräfte für den Arbeitsmarkt im deutschen Reich anzuwerben. Später war ich für die Zuführung von französischen Zwangsarbeitern aus dem Service de Travail Obligatoire zur Organisation Todt verantwortlich. Ich weiß jetzt allerdings nicht, ob Sie damit etwas anfangen können?«

      Chantal wusste von der bedauerlichen Lage der Zwangsarbeiter. Das war also sein Job. Er war genauso wie alle anderen in dieser menschenverachtenden Maschinerie involviert.

      »Es sind französische Facharbeiter, die eigentlich auch in Deutschland zum Einsatz kommen sollten«, fügte Stading ungefragt hinzu. »Allerdings klemmt es jetzt oben an der Küste gewaltig, das hatte ich ja gestern schon erwähnt. Ohne sie hätten wir die ganze Sache schon lange beerdigen können. Und die Sabotageakte des französischen Widerstandes seit dem Sommer bereiten uns im Norden Frankreichs immer mehr Probleme. Wir schätzen übrigens, dass bis zum Jahresende mehr als fünfhunderttausend Zwangsarbeiter in den Untergrund abtauchen werden. Da bin ich mal gespannt, wie Rommel darauf reagieren wird.«

      Oh, das war doch mal eine Aussage, die optimistisch stimmte! Chantal konnte ihre Genugtuung nicht zurückhalten.

      »Ich hoffe nur, dass die Sabotageakte erfolgreich verlaufen.«

      »Da kann ich Sie voll verstehen. Sie kennen ja meine Einstellung zu dieser Thematik. Ich würde dieses Hotel in der Avenue Klèber lieber heute als morgen verlassen.«

      Er rückte näher an Chantal heran und versuchte aus den Augenwinkeln die Umgebung zu erfassen.

      »Ich habe darüber hinaus noch ein anderes Problem«, fuhr er mit abgesenkter Stimme fort. »Seit Beginn meiner Tätigkeit habe ich auch für die Deutsche Abwehr gearbeitet und wir waren ein ständiger Dorn im Auge der SiPo, denn die fühlten sich für die Sicherheit und damit die Verfolgung des Widerstandes alleine zuständig. Den Machtkampf hat die Abwehr verloren und seitdem sind alle Mitarbeiter im Visier der Gestapo.«

      Chantal war unbeeindruckt. Sie fragte sich, warum er dieses Problem ins Spiel brachte. Wahrscheinlich, um seine bedrohliche Lage hervorzuheben. Sie ging langsam weiter und blieben vor dem Karton des Bildhauers

      Janniot mit dem Titel La Renaissance de la France sousl' égide des chefs d' État stehen.

      »Lassen Sie uns zu dem kommen, weswegen wir hier sind«, flüsterte Stading, ohne den Blick von dem überladenen Gemälde zu wenden. Er ergriff Chantals Arm.

      »Ich werde Ihnen jetzt die Dokumente übergeben.«

      Obwohl sie die ganze Zeit darauf vorbereitet war, erschrak sie heftig und wagte es kaum, sich zu bewegen. Stading zog sie sanft zu sich heran. Sie standen jetzt so eng zusammen wie ein vertrautes Paar.

      »Es sind neun Kopien, die ich Ihnen jetzt unauffällig in Ihre Manteltasche stecken werde«, fuhr Stading mit gedämpfter Stimme fort. »Sie dürfen sie auf keinen Fall hervorholen, bevor sie in Ihrer Wohnung sind, verstanden?« Chantal nickte zaghaft. Sie spürte, wie ihr Puls raste. Instinktiv schaute sie zur Seite, um festzustellen, ob nicht gerade in diesem Moment jemand zu ihnen hinüberschaute oder direkt hinter ihnen stand. Paris wimmelte von Denunzianten. Als sie Stadings Hand und die zusammengefalteten Papiere in ihrer Manteltasche spürte, schien sich ihr Puls zu überschlagen. Die Papiere fühlten sich wie eine Bedrohung an. Am liebsten hätte sie das Gebäude sofort verlassen und wäre schnurstracks nach Hause gefahren. Stading bemerkte ihre Aufregung.

      »Bleiben Sie ganz ruhig. Niemand interessiert sich für uns. Hier sind wir Deutschen fast unter uns.«

      Er begann über Malerei zu plaudern, doch sie nahm seine Worte kaum wahr und dachte nur an die explosive Fracht in ihrer Manteltasche. Nachdem sie noch einige Minuten ziellos durch Ausstellung gewandert waren und dabei weiterhin darauf bedacht waren, den Anschein hoch interessierter Besucher aufrechtzuerhalten, kehrten sie in das Foyer zurück.

      »Ich hatte Ihnen ja versprochen, Sie zu einem Glas Champagner einzuladen«, sagte Stading entspannt und bedeutete ihr, ihn zum Bistro zu begleiten, wo sich viele Besucher zu einem Snack oder Getränk eingefunden hatten.

      »Warten Sie hier bitte, Maidemoiselle Verhoeven. Ich bin gleich zurück.« »So, dann wollen wir mal. Zum Wohl«, raunte Stading, als er zurückgekehrt war und Chantal ein Glas entgegenhielt. »Vielleicht ist das ja mein letztes Glas Champagner in Frankreich. Einerseits hoffe ich es und würde es gleichzeitig auch bedauern.«

      Er schaute sein perlendes Getränk mit einem prüfenden Blick an.

      »Für uns Deutsche wird es in der nächsten Zeit vermutlich sowieso keine Anlässe mehr geben, Champagner zu trinken.«

      Nachdem sie ihre Gläser geleert hatten, verließen sie die Orangerie. Vor dem Gebäude schloss Chantal kurz die Augen und atmete tief die klare Luft ein. Immer wieder dachte sie an die Dokumente in ihrer Manteltasche und hoffte inständig, dass wirklich niemand die Aktion in der Ausstellung beobachtet hatte.

      »Ich würde Sie gerne noch zur Metro-Station begleiten«, unterbrach Stading ihre Gedanken.

      »Ja, das ist sehr freundlich von Ihnen, darf ich?« Chantal hakte sich bei Stading unter. Sie spürte plötzlich, wie sich ihre innere Spannung