Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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Sommerfeste wurden von diesen braunen Bastarden nicht mehr verschont. »Wie wäre es mit einem kleinen Spaziergang zum See, Charlotte?« Heinzs Stimme ließ sie zusammenfahren. Sie schluckte, holte tief Luft. Spaziergang zum See? Sie hatte keine Ausrede parat. Warum auch? Verlegen lächelnd erhob sie sich. Eigentlich eine gute Idee, nicht nur, um auf andere Gedanken zu kommen. Sie schlenderten nebeneinander zum Wasser hinunter. Es war stockdunkel geworden und der Himmel war mit Sternen übersät wie ein sommersprossiges Gesicht im Juli. Kaum hörbar schoben sich die schmalen Wellenstreifen schmatzend ans Ufer. Ein beleuchteter, weißer Haveldampfer verschwand soeben hinter Schwanenwerder.

      »Ich möchte aber nicht so lange bleiben, sonst machen sich meine Freunde Gedanken«, bemerkte Charlotte, »Sie wissen nicht, wo ich bin.«

      »Nein, ich ja auch nicht«, entgegnete Heinz. »Mein Freund wird sich auch fragen, wo ich bin, wenn er vom Tanzen zurückkommt. Er hat gerade das erste Mädel aufgefordert.«

      Heinz ging zum Ufer und bückte sich. »Das Wasser ist schön warm. Wenn wir Badezeug dabeihätten, könnten wir eine Runde Schwimmen.«

      »Im Dunkeln hätte ich Angst. Zum Baden bin ich meistens am Schlachtensee.«

      »Da würde ich gerne einmal mitkommen.«

      Sie schlenderten den schmalen Weg am Ufer entlang. Kurz darauf erreichten sie eine Baumgruppe, unter der eine Bank stand.

      »Sehen Sie mal, Charlotte, ein schattiges Plätzchen.« Heinz freute sich sichtlich über seinen Scherz und steuerte auf die Bank zu. »Wollen wir uns etwas setzen?«

      »Eigentlich würde ich gerne noch ein bisschen laufen.« Charlotte spürte die Hitze in sich aufsteigen.

      »Ach kommen Sie, die Bank steht doch nicht umsonst da.«

      Heinz nahm Charlotte an die Hand und zog sie sanft hinter sich her. Nachdem er sich gesetzt hatte, klopfte er mit der Handfläche auf den freien Platz neben sich. »Na setzen Sie sich schon, Charlotte, ich beiße nicht.« Zaghaft setzte sie sich. Heinz hob einen Stein auf, schleuderte ihn ins Wasser und schaute ihm wortlos hinterher.

      »Ist es nicht romantisch hier?«, fragte er einige Sekunden später und legte seine Hand auf ihre Schulter.

      »Ja«, hörte sie sich mit belegter Stimme sagen. Ihr Herz begann zu rasen. Sie war nie schüchtern gewesen, hatte nicht das erste Mal den Arm eines Mannes auf ihren Schultern gespürt, aber irgendetwas blockierte sie. Im Hintergrund hörte sie die Kapelle einen Foxtrott spielen.

      »Wir könnten eigentlich ‚Du‘ zueinander sagen, was meinst du, Charlotte?« Seine Finger begannen, ihre Halspartie zu kraulen. »Meinetwegen«, entgegnete sie heiser ohne ihn anzuschauen und presste ihre Hände auf die Oberschenkel. Es herrschte das blanke Chaos in ihrem Kopf. Einerseits fühlte sich zu diesem Mann hingezogen, andererseits mahnte eine innere Stimme sie zur Zurückhaltung. Und diese Stimme behielt immer noch die Oberhand.

      »Was machst du beruflich, Heinz?« Charlotte hatte sich diese Frage schon seit geraumer Zeit gestellt, jetzt konnte sie damit noch etwas Distanz bewahren.

      »Oh, ich arbeite in einem riesigen Projekt«, begann er mit stolzem Unterton. »So etwas hat die Welt noch nicht gesehen.«

      »Wirklich? Und was ist es?«

      »Wir bauen auf der Insel Rügen eine gigantische Wohnanlage für KDF-Urlauber. 10000 Zimmer, Schwimmbäder, Kino, Festhalle. Alles was ein entspannter Urlaub benötigt. Sogar Anlegestellen für Ausflugsdampfer sind vorgesehen. Die gesamte Anlage besteht aus acht Gebäudeblöcken, keine 150 Meter vom Strand entfernt, insgesamt viereinhalb Kilometer lang und für bis zu 8000 Familien. Eine Idee des Führers persönlich.«

      Heinzs Augen leuchteten stolz, während Charlotte irritiert über seinen letzten Satz nachdachte.

      »Und was machst du bei diesem Projekt?«

      »Bauleiter für den dritten Block. 500 Meter lang, sechs Stockwerke hoch. Ich bin dort für die Siemens-Bauunion beschäftigt. Realisiert wird das Ganze übrigens von der Deutschen Arbeitsfront.«

      »Und über das Wochenende bist du nach Berlin gekommen?«

      »Na ja«, Heinz räusperte sich, »ich wohne schon noch in Berlin und bin im Augenblick dreimal die Woche vor Ort. Den Rest erledige ich von Berlin aus. Demnächst beziehe ich allerdings ein Zimmer in Binz und werde dort von Montag bis Freitag wohnen. Bekomme einen kleinen Zuschuss und der Verdienst ist sowieso grandios. Also ich sage dir, für einen Bauingenieur gibt es kaum eine reizvollere Aufgabe.«

      Charlotte nickte, ohne seine Euphorie zu teilen. Ein Nazi-Projekt, von dem er schwärmte! Wahrscheinlich gehörte es in die Reihe dieser größenwahnsinnigen Einfälle Hitlers, die im April in allen Zeitungen des Reiches angekündigt wurden. Der Umbau der Hauptstadt zur Metropole der Zukunft! Und dieser Mann neben ihr war dabei. Sein glühender Enthusiasmus irritierte sie zutiefst. Alles was er sagte ließ nur den einen Schluss zu, dass er diesem menschenverachtenden System äußerst aufgeschlossen gegenüberstand. Charlotte erhob sich und ging ein paar Schritte zum Ufer des Sees. Musik, vermischt mit ausgelassenem Gekicher, drang vom Clubgelände herüber, das Fest schien auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Sie fragte sich, ob Olaf und Rosa sich tatsächlich über ihren Verbleib Gedanken machten. Vielleicht sollte sie wieder zurückkehren. Plötzlich vernahm sie das Knacken von Ästen. Bevor sie sich umdrehen konnte, spürte sie seine rechte Hand auf ihrer Taille. Gleichzeitig begann er mit den Fingern der linken Hand ihren Nacken zu massieren. Ein warmer Schauer lief ihren Rücken hinunter. Sie wollte sich lösen, verharrte aus unerfindlichem Grund jedoch. Sie spürte seinen heißen Atem im Nacken. Seine Lippen. Sie wandte ihm den Kopf zu und erkannte schemenhaft die Konturen seines Gesichtes. Sein Mund näherte sich jetzt ihren Lippen. Sie roch die Bierfahne, gleichzeitig sein schweres Parfüm. Warum wehrte sie sich nicht? Er küsste sie. Zurückhalten zunächst, dann immer fordernder. Sie ließ es geschehen, blieb jedoch passiv. Lange hatte sie kein Mann mehr geküsste. Jetzt fühlte sie, wie sehr es ihr gefehlt hatte. Aber dieser Mann war der Falsche, das wusste sie seit ein paar Minuten. Kein Mann für die Zukunft, nicht einmal für eine kurze Affäre! Oder vielleicht doch? Seine Hände begann ihren Körper zu ertasten, jeden einzelnen Wirbel ihres Rückens, ihre Taille, die Schultern. Sie ließ es geschehen. Seine linke Hand schob sich behutsam in den Ausschnitt ihres blauen Sommerkleides. Im selben Moment spürte sie seine Erektion. Nein, schoss es ihr durch den Kopf, nicht das! Reflexartig ergriff sie sein Handgelenk, um das weitere Vordringen seiner Hand zu stoppen.

      »Ich möchte das noch nicht. Ich hoffe, du verstehst das. Wir kennen uns doch erst ein paar Stunden.«

      »Aber Charlotte, hab dich doch nicht so. Ich habe mich in dich verliebt. Was ist denn schon dabei?«

      Heinz machte keine Anstalt, seine Hand zurückzuziehen. Im Gegenteil, sein Zeigefinger glitt über den Ansatz ihrer linken Brust. Vom anfänglichen Kribbeln in ihren Bauch war nichts mehr zu spüren. Ihre Gefühle waren urplötzlich abgestorben.

      »Ich möchte es wirklich nicht«, entschied sie mit festem Ton und versuchte, seine Hand zu entfernen. Ohne auf sie einzugehen, drang er weiter in die Schale ihres BHs ein und legte die Hand über ihre Brust. Der warme, elektrisierende Schauer, der noch vor wenigen Minuten jede Ecke ihres Körpers erreicht hatte, war einem eiskalten Wasserstrahl gewichen, der das Blut in ihren Adern erstarren ließ.

      »Lass mich sofort los«, rief sie barsch und versuchte, sich mit allen Kräften aus seiner Umklammerung zu lösen, doch es gelang ihr nicht. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie fühlte Übelkeit und war kurz davor, sich zu übergeben. Als Heinz ihr Kleid mit einem Ruck aufriss, sodass die beiden ersten Knöpfe am Ausschnitt abgetrennt wurden, erschrak sie heftig. Reflexartig versuchte sie, ihre Blöße mit den Händen zu bedecken. Mit einer heftigen Körperbewegung gelang es hier, sich aus seiner Umklammerung zu lösen und wollte losrennen, stolperte jedoch über eine Baumwurzel und fiel zu Boden. Heinz warf sich sofort über sie. Sie spürte einen starken Schmerz an der Schulter, wollte schreien, aber er presste ihr seine Hand auf den Mund, sodass nur ein Gurgeln herauskam.

      »Warum machst du solche Umstände, Charlotte?«, fragte er mit vor Hohn triefender Stimme, während er ihr mit Gewalt