Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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einfach und wird wahrscheinlich auch kaum komplett möglich sein. Es hat bis jetzt gedauert, aber ich fühle mich derzeit kaum noch als Deutsche. Die Deutschen sind auch für mich nur noch die Boches.«

      Florence legte Chantal ihre Hand auf die Schulter. »Du hast in vielen Dingen recht, aber denke auch an die unzähligen Kollaborateure und Profiteure hier in Frankreich, die das grausame Spiel der Boches mitspielen und deren grausame Herrschaft erst ermöglichen. Ohne die würde das alles gar nicht funktionieren. Und es sind nicht nur Petain und Laval. Mindestens jeder dritte Nachbar von uns kollaboriert mit den Boches. Oder sieh dir die Milice Francaise, die seit dem Sommer in der ehemaligen Vichy-Zone ihr Unwesen treibt und um ein Vielfaches brutaler agiert als die SS. Das sind Franzosen...nein, Chantal, auch wir haben einen großen Anteil an diesen Verhältnissen in unserem Land und ich fürchte, wenn die Deutschen abgezogen sind stehen uns noch schwierige Zeiten bevor. Dann wird nämlich abgerechnet.« Chantal nickte und trocknete sich die Hände ab. Zusammen gingen sie zurück in das Wohnzimmer.

      »Ich habe deine Verhaltensänderungen bemerkt, Chantal«, sagte Florence, nachdem sie sich neben Chantal auf die Couch gesetzt hatte.

      »Wirklich?«

       Florence nickte. Sie rückte ganz nahe an Chantal heran, umfasste sanft ihren Kopf und zog ihn vorsichtig zu sich heran. Dann strich sie Chantal mit dem Daumen eine Träne von der Wange und küsste sie auf die Stirn.

      »Weißt du, Chantal«, begann sie, nachdem sie einige Sekunden in Ruhe verharrt hatten, »in unserem Widerstand geht es nicht nur um einen Beitrag zur Befreiung Frankreichs. In erster Linie schon, aber es geht vor allem auch um ein Zeichen an Europa und die Welt. Die Botschaft, dass sich ein ganzes Volk niemals solchen Verbrechern unterwirft. Ich bin übrigens ganz zuversichtlich, dass der Krieg bald zu Ende ist.«

      Es klingelte zweimal kurz an der Wohnungstür.

      »Das ist sie«, sagte Florence und erhob sich und ging in den Flur. Die junge Kurierin von Maurice Durand trat ein und begrüßte die beiden Frauen knapp ohne ihren Namen zu sagen. Sie berichtete kurz, dass Durand zusammen mit zwei Experten des Special Operations Excecutive aus England Stadings Material geprüft hatte und sie ebenso wie Florence zu der Einschätzung gekommen waren, dass die Dokumente des Deutschen für die geplanten Landungsoperationen von enormer Bedeutung sein würden. Die Kurierin erläuterte darauf hin kurz den Plan des SOE, nach dem Stading zusammen mit einer Begleitung England nach ausgeflogen werden soll und dass sie dabei sind, alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen.

      »Eines ist jetzt wichtig«, betonte die Kurierin und schaute die beiden Frauen abwechselnd an. »Die Dèfence de la France benötigt Passfotos von beiden Personen. Maurice sagte, wir sollten vorsichtshalber einen Termin mit dem Fotografen machen. Um sieben in der Wohnung im 2. Arrondissement. Darüber hinaus will Maurice definitiv wissen, ob es bei der Begleitperson bleibt.«

      »Der Dèfencede la France ist die Abteilung, die die notwendigen Papiere herstellt«, erklärte sie Chantal und wandte sich wieder an die Kurierin. »Sag bitte Maurice, dass wir auch das finale Treffen in der konspirativen Wohnung ansetzen sollten.«

      Die Kurierin nickte, verabschiedete sich und verließ die Wohnung. Florence bat Chantal, nochmals neben ihr Platz zunehmen.

      »Ich habe mit Maurice über dich gesprochen, Chantal«, begann sie und legte eine Hand auf Chantals Oberschenkel.

      »Über mich? Worüber denn?«

      »Über das, was die Kurierin soeben angeschnitten hatte. Normalerweise sollte der Deutsche von einer erfahrenen Person aus der Gruppe begleitet werden. So haben wir das immer gemacht. Da Stading jedoch dir gegenüber mehrmals geäußert hat, dass ausschließlich du seine Begleitperson sein sollst«, Florence räusperte sich, »würden wir, die Liberation Nord, dem natürlich entsprechen. Aber auch nur, wenn du dir das wirklich zutraust.« Florence musterte Chantal.

      »Das Ziel liegt nicht allzu weit von Paris entfernt«, fuhr sie fort. »In drei Tagen wärst du wieder zurück. Ich bin mir absolut sicher, dass du in der Lage bist, diese Aufgabe zu bewältigen. Es liegt, wie gesagt, an dir.« Chantal nickte. Sie konnte ihre Aufregung kaum verbergen.

      »Wenn du dazu bereit bist, wirst du allerdings eine große Verantwortung haben, Chantal. Der Deutsche wird aus Gründen der Konspiration keinerlei Informationen über das Ziel und den weiteren Ablauf bekommen und ausschließlich auf dich angewiesen sein. Wir müssen bis zum Ende noch mit dem Restrisiko leben, dass er ein Spitzel sein könnte. Es sind zu viele Aktivisten aus unseren Reihen in letzter Zeit festgenommen oder sogar umgedreht worden. Und...du musst dich jetzt entscheiden, ob du es nicht machen willst.«

      Florence machte eine Pause.

      »Nochmals, du hättest mein volles Verständnis, wenn du es ablehnst. In diesem Fall müsste der Deutsche eine andere Begleitperson akzeptieren oder die Sache platzt.«

      Florence sah Chantal tief in die Augen.

      »Ich nehme den Auftrag an«, hörte Chantal sich sagen und erschrak über ihre geschäftsmäßige Wortwahl. »Genau deswegen bin ich doch hier.«

      »Du musst dir aber absolut sicher sein«, entgegnete Florence. Sie behielt Chantal weiterhin fest im Blick. »Wenn du auch nur die geringsten Zweifel hast, dann must du es ablehnen. Nicht nur deinetwegen!«

      Chantal hielt ihrem Blick stand. »Du weist genau, dass ich es will und auch tun muss, Florence. Nicht nur für Daniel!« Sie unterbrach sich kurz und senkte den Kopf. »Auch für mich und wenn das jetzt alles sehr pathetisch klingt, letztendlich auch für Frankreich!«

      Florence nahm Chantal in die Arme. Wortlos verharrten die beiden Frauen, dann löste sich Florence.

      »Ich wusste, dass ich auf dich zählen konnte und es freut mich sehr.« Florence gab Chantal einen sanften Kuss auf die Wange.

       Paris, 16. Arrondissement,

       Quai Louis-Blériot

       Am Abend

      SS-Standartenführer Schrader setzte den Saphir des Grammofons vorsichtig auf der Schallplatte auf. Sekunden später ertönte die Stimme von Zahra Leander. ‚Ich weiß, es wird einmal ein Wunder geschehen‘. Er nahm die Flasche Frapin aus dem Regal und füllte den Cognacschwenker in seiner Hand. Mit geschlossenen Augen inhalierte er den aromatischen Duft des Alkohols. Dann ging er, das Glas mit dem kostbaren Getränk vorsichtig in seiner linken Hand kreisend, zum großen Fenster mit Blick auf den Quai und die Seine. Der wolkige Himmel über Paris hatte sich komplett schwarz eingefärbt, es hatte aufgehört zu schneien. Schrader nahm einen Schluck und ließ die sanft brennende Flüssigkeit auf der Zunge wirken. Nachdenklich verfolgte er die Lichter eines Lastkahns, der sich die Seine hinauf quälte und im nächsten Moment unter der Pont Mirabeau verschwand. Der Verkehr auf dem Quai hatte jetzt am Abend etwas nachgelassen und war kaum noch zu hören. Überhaupt war es viel ruhiger in der Stadt, als noch vor einem Jahr. Angenehm ruhig. Oder eher beängstigend? Die Nachrichten aus dem Osten jedenfalls wurden von Tag zu Tag unangenehmer. Er konnte die Berichte von der Ostfront schon gar nicht mehr hören. Eine riesige Scheiße, die sich dort abspielt, dachte er und spürte wieder diese mit Zorn vermischte Hilflosigkeit in sich aufsteigen. Die Russen scheinen nach dem Fall von Charkow das Heft vollends in die Hand genommen zu haben. Haben wir dem denn nichts mehr entgegenzusetzen? Das kann doch nicht sein. Seit Wochen schon werden doch Truppenteile aus Frankreich an die Ostfront verlegt. Da stimmt doch was nicht.

      Schrader blickte gedankenvoll auf das Glas, als könne er hier Antworten auf seine unzähligen Fragen finden. Im Osten wehte schon lange ein anderer Wind, im wahrsten Sinne des Wortes, das wusste er aus verschiedenen Berichten, die im Hauptquartier ihre Runde machten. Natürlich hinter vorgehaltener Hand. Seit Stalingrad scheint es dort nur noch ums nackte Überleben zu gehen! Endkampf nennen sie das! Diese armen Schweine. Verrecken gerade in Schneebergen und Schlamm oder verlieren bei der grausamen Kälte ihre Gliedmaßen. Er atmete tief ein. Es ist ein Scheißjob, dort an der Ostfront. Die reinste Hölle! Und es sieht so aus, als wenn es nicht besser werden würde.

      Schrader nippte an seinem Cognac. Noch kommt man hier im Westen