Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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musste sie mit ansehen, wie sich sein Kopf auf ihren Körper herabsenkte. Dann spürte sie seine Lippen auf ihrer rechten Brustwarze. Ein Blitz durchzuckte ihren Körper, sämtliche Muskeln spannten sich an. Ihr gelang es, den linken Arm zu befreien und ihre Fingernägel in seine Ohrmuschel zu krallen. Als sie mit aller Gewalt an seiner Ohrmuschel zog, schrie er vor Schmerzen auf und ließ von ihr ab. Im selben Moment konnte sie auch die rechte Hand befreien und auf seine Kehle drücken. Röchelnd rollte er von ihr herunter. Sie schwang sich hastig auf die Beine, dann trat sie ihm mit aller Wucht in die Genitalien. Er schrie ein weiteres Mal auf.

      »Du widerliches Schwein!«, brüllte sie ihn an und spuckte auf ihn herab. Dann lief sie, von Panik getrieben, zurück zu den Tischen.

      »Lotte, was ist passiert, wo warst du?« Rosa sprang entsetzt auf, als sie ihre Freundin erblickte. »Dein Kleid ist ja vollkommen zerrissen und schmutzig.« »Ich will hier weg«, rief Charlotte unter Tränen, während sie mit beiden Händen versuchte, ihre Kleiderfetzen zusammenzuhalten. »Ich will hier weg! So schnell wie möglich.«

      Rosa hatte ihre Freundin in beide Arme genommen, um sie zu beruhigen. Auch Olaf war aufgesprungen. Viele Gäste blickten entsetzt zu ihnen hinüber, auch der einzelne junge Mann am Nebentisch.

      Beruhige dich doch, Lotte.« Rosa streichelte ihr über das Haar. »Was ist passiert? Sag es mir.« »Er hat versucht, mich zu...« Charlotte wurde von einem Weinkrampf erschüttert.

      »...zu vergewaltigen?« Rosa streichelte ihren Nacken. Charlotte nickte stumm.

      »Wer war es?«, fragte Olaf in ruhigem Ton, als sie wieder zur Ruhe gekommen war. »Der Blonde vom Nachbartisch?«

      Charlotte nickte schluchzend.

      »Ich schnappe mir den Kerl. Wo ist er?«

      »Am Ufer«, stammelte Charlotte. Olaf drehte sich um und rannte zum See hinunter, verfolgt von den neugierigen Blicken vieler Gäste. Heinz hockte direkt am Ufer, um seine eingerissene Ohrmuschel mit Wasser zu kühlen. Blut lief ihm am Hals hinunter und verschwand in seinem Hemdkragen. Als er Olaf hinter sich bemerkte, versuchte er, sich aus der Hocke zu erheben und sich umzudrehen. Noch in seiner Bewegung trat Olaf an ihn heran und schlug ihm die linke Faust ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen und einem Gurgeln auf den Lippen sackte Heinz in den schlammigen Boden. Olaf warf ihm einen verächtlichen Blick zu, wendete sich wortlos ab und ging zurück. »Was hast du gemacht, Olaf?«, fragte Rosa mit besorgter Miene.

      »Ich habe diesem Mistkerl eins in die Fresse gehauen. Er liegt gerade im Wannsee und kühlt seine Birne.«

      Olaf wandte sich Charlotte zu, die geistesabwesend vor einer Limonade saß. »Wie geht es dir, Lotte? Ich schlage vor, wir bestellen eine Droschke und fahren nach Hause.«

      Charlotte nickte geistesabwesend.

      11

       Sonntag, 12. Dezember 1943

       Paris, 20. Arrondissement,

       Avenue Gambetta

       Mittags

      Florence war erst spät zurückgekehrt. Sie hatten daraufhin kurzfristig beschlossen, den Kartoffelauflauf am nächsten Tag zuzubereiten. Nach dem späten Frühstück hatten sie sich ans Kochen gemacht. Nicht zum ersten Mal bestaunte Chantal Florences Kochkünste. Obwohl es kaum Zutaten zu kaufen gab, hatte sie einen schmackhaften Auflauf auf den Tisch gezaubert. Während des Essens diskutierten sie über die aktuelle politische Situation in Frankreich, die sich gerade im Umbruch zu befinden schien. Der Plan einer Invasion der Alliierten war seit einer Woche das alles beherrschende Gesprächsthema hinter den Fenstern tausender französischer Wohnungen. Selbst im öffentlichen Leben waren die Veränderungen zu spüren. Die deutschen Besatzer waren nicht mehr annähernd so zuvorkommend und höflich, wie in den ersten beiden Jahren nach dem Einmarsch. Wahrscheinlich realisierten auch sie, dass sich auf alliierter Seite bald wieder etwas tun würde.

      »Dein Auflauf hat wunderbar geschmeckt, Florence«, lobte Chantal, während sie sich vorsichtig mit der Serviette den Mund abtupfte. »Ich platze gleich. Nächste Woche werde ich nichts mehr essen können.«

      »Oh danke, meine Liebe. Das freut mich.«

      »Ich bin wirklich gespannt, was Maurice und die anderen zu den Dokumenten sagen«, sagte Chantal während sie das Geschirr abräumte, um es in die Küche zu tragen.

      »Ich denke, sie werden ebenso angetan sein wie ich gestern Abend. Wenn wir diese Dokumente den Alliierten übergeben könnten, wäre das aus meiner Sicht ein Riesending. Vor allem würde es auch zeigen, wie wichtig die Beiträge der Résistance in dieser Zeit sind. Die Sabotageakte, wie der vor zwei Tagen auf den Militärzug bei Rouen, vor allem aber auch die Kleinarbeit im Untergrund, das funktionierende Netzwerk, die Kurierfahrten, von denen auch du ja schon einige hinter dir hast, die Herstellung von Handzetteln, ich brauch das nicht alles aufzählen. Darauf bin ich richtig stolz, weißt du das.«

      Chantal nickte zustimmend, dann ging sie mit dem Geschirr in die Küche. Florence stand auf und folgte ihr mit den Gläsern.

      »Vor allem bin ich auch stolz auf dich, Schätzchen.«

      Chantal ließ wortlos Wasser in das Spülbecken.

      »Du sagst gar nichts, meine Liebe.« Florence und trat hinter ihre junge Freundin. »Worüber denkst du nach?«

      Sie begann mit beiden Händen Nacken sanft zu massieren. Chantal schloss die Augen und ließ den Kopf kreisen.

      »Du hast goldene Hände, Florence, ich könnte dahinschmelzen. Das kannst du genauso gut wie Kochen.«

      »Worüber denkst du nach?« wiederholte Florence ihre Frage. »Komm, sag es mir.«

      Chantal zögerte, bevor sie antwortete. »Über mich und meine Rolle.«

      »Was meinst du damit?«

      »Eigentlich ist es doch absurd, Florence. Ich arbeite hier in Frankreich gegen meine Landsleute, gegen die unerträglichen politischen Verhältnisse, derentwegen ich Deutschland verlassen habe.«

      »Du glaubst, du hättest das schon in Deutschland machen sollen?«

      »Nein, in Deutschland gab es zu meiner Zeit keine Chance auf einen organisierten Widerstand, von ein paar kleinen Ansätzen abgesehen. Das Volk war berauscht von den außenpolitischen Erfolgen Hitlers und dem wirtschaftlichen Aufschwung. Kaum jemand fragte sich, wohin das führen würde, außer Sozialdemokraten oder Kommunisten, aber die zerfleischten sich obendrein noch gegenseitig oder wurden von den braunen Bastarden aus dem Spiel genommen, indem man sie in Konzentrationslager steckte.« »Was bewegt dich dann, Chantal?«

      Florence nahm sich ein Handtuch um das Geschirr abzutrocknen. Chantal drehte sich um, einen nassen Teller in der Hand.

      »Ich habe mich lange Zeit gefragt, ob es richtig ist, gegen die eigenen Landsleute zu arbeiten. Es sind ja nicht nur SS-Schergen und Gestapo-Beamte, sondern auch einfache Wehrmachtsangehörige. Viele von ihnen sind gezwungenermaßen hier oder an der Ostfront.«

      Chantal schwiege einige Sekunden lang und fuhr dann fort. »Als wir beide uns kennenlernten, Florence, damals auf dem Sommerfest, du erinnerst dich, hätte ich es wahrscheinlich noch nicht gekonnt, obwohl der Einmarsch in Paris für mich ein ebenso großer Schock war, wie für euch Franzosen.« »Und jetzt, Chantal, kannst du jetzt gegen sie arbeiten?«

      »Ja, jetzt kann ich es. Jetzt muss ich es! Du weißt es, Florence. Es war auch nicht erst der Tod von Daniel, der meinen inneren Widerstand gebrochen hat. Ich hatte schon für Daniel ein wenig gearbeitet und führe seinen Kampf jetzt umso entschlossener fort.« Chantal widmete sich wieder dem Abwasch. »Ich habe mich lange geschämt, eine Deutsche zu sein. Was hat unser Land an Kulturschaffenden und Wissenschaftlern hervorgebracht. Goethe, Einstein, Marx, Beethoven. Ein ehemals kultiviertes Land, das jetzt schon zehn Jahre lang von menschenverachtenden Gangstern regiert wird, die sich ganz Europa einverleiben wollen. Ich kann das