Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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schaute von den Dokumenten auf, die vor ihr auf dem Tisch lagen. Ihr Blick wanderte zu Chantal, die neben ihr saß und, die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel gestützt, eine Tasse Tee mit beiden Händen hielt.

      »Ich bin sprachlos«, begann Florence und schüttelte fast unmerklich den Kopf. »Diese Dokumente sind unglaublich, das kann selbst ich schon nach einem flüchtigen Blick beurteilen. Und das sind nur ein paar Auszüge. Ich will nicht zu viel sagen, aber sie könnten tatsächlich von enormer Bedeutung sein, zumindest hier an der Westfront. Dieser Mann scheint Zugang zu vielen wichtigen Informationen zu haben, die die Alliierten benötigen. Wen hast du da bloß aufgegabelt, Schätzchen?«

      Florence strich schmunzelnd mit dem Zeigefinger über Chantals Wange. »Eine Sache will mir trotzdem nicht aus dem Kopf gehen«, fuhr Florence fort. »Du glaubst es ja nicht, aber was ist, wenn er doch ein Agent der deutschen Abwehr ist? Wenn das alles Spielmaterial ist? Es hört sich fast zu schön an.«

      »Ich gebe es ja zu, Florence, ohne Kenntnisse von dem Material zu haben, mir will das auch nicht ganz aus dem Kopf gehen. Ich weiß wirklich nicht, wie ich darüber denken soll.«

      »Dieses Material macht mir fast schon ein wenig Angst, weißt du. Es ist fast zu gut um wahr zu sein. Was ist, wenn er uns damit locken oder dich umdrehen will? Hast du wirklich nichts bemerkt, was darauf hinweisen könnte?«

      »Nein Florence, er hat überhaupt keine Fragen gestellt. Wir haben nur ganz allgemein geplaudert. Mein Eindruck von heute Morgen hat sich nicht verändert, eher verfestigt.«

      »Ist das, was er über sich erzählt hat, schlüssig? Gib es irgendwelche Widersprüche? Denk noch einmal nach, Chantal.«

      Chantal lehnte sich zurück und starrte an die Decke. Florence musterte sie. »Nein Florence, ich kann nichts sagen.«

      »Gut. Lass dir aber bitte alles noch einmal ganz in Ruhe durch den Kopf gehen. Solltest du auch nur auf die kleinste Ungereimtheit in seinem Verhalten stoßen, musst du es mir sofort sagen. Hat er ein Interesse an dir als Frau?«

      Chantal zuckte mit den Schultern. »Das glaube ich nicht, obwohl ich...nein, ich weiß es wirklich nicht.«

      Florence erhob sich und ging zum Fenster. Sie zog den Vorhang ein Stück beiseite. Es hatte wieder zu schneien begonnen. Schneeflocken wirbelten im Schein der Laterne zu Boden, wo sich ein weißer Teppich über die Straße ausgebreitet hatte.

      »Ich werde jetzt mit diesen Dokumenten zu Maurice fahren«, sagte Florence, den Blick weiterhin auf die totenstille Straße gerichtet. »Morgen Vormittag, vielleicht schon heute Nacht werden wir das OK für die nächsten Schritte bekommen, da bin ich mir sicher.«

      Sie drehte sich wieder Chantal zu, die weiterhin auf der Couch saß. »Wann ist dein nächstes Treffen mit dem Deutschen?«

       »Morgen Nachmittag um drei. Er hat mir ein Cafè in der Nähe vom Place De La Concorde aufgeschrieben. Ist wohl nicht weit von seinem Hotel entfernt. Willst du die genaue Adresse wissen?«

      »Nein. Ich denke allerdings gerade ein bisschen weiter. Beispielsweise an die Papiere, die wir für ihn anfertigen müssten, falls er tatsächlich evakuiert werden soll. Dafür benötigen wir Bilder von ihm. Das würde bedeuten, ihr müsstet euch morgen zweimal treffen und falls er keine verwendbaren Bilder vorrätig hat, wovon erst einmal auszugehen ist, müssten die noch morgen Abend angefertigt werden. Du siehst, was alles auf uns zukommt, falls es tatsächlich losgehen sollte.«

      »Und wo soll das passieren? Das Schießen der Fotos zum Beispiel?«

      »In einer der konspirativen Wohnungen. Welche wir nehmen, wird natürlich sehr kurzfristig entschieden. Dort wird dann auch alles genau vorbereitet.« Florence kam wieder zum Tisch zurück, blieb vor Chantal stehen, beugte sich zu ihr hinunter und umfasste ihre beiden Oberarme.

      »Du solltest heute hier übernachten, Schätzchen. Falls es dir nichts ausmacht.«

      »Nein, natürlich nicht, Florence. Im Gegenteil.«

      »Wenn ich zurück bin, kochen wir uns etwas zu essen ja? Ich habe noch ein paar Vorräte in der Speisekammer. Wird allerdings zwei Stunden dauern.« Florence strich Chantal mit der Hand über das Haar. Dann nahm sie die Dokumente, verstaute sie in einer Ledertasche und verließ das Wohnzimmer. Im Flur zog sie die Stiefel und den Wintermantel an.

      »Du kannst schon ein paar Kartoffeln schälen. Sie sind auch in der Speisekammer.«

      10

       Samstag, 30. Juli 1938

       Berlin-Zehlendorf,

      Am Großen Wannsee

      »Was haltet ihr eigentlich von der Kapelle?«, fragte Olaf.

      »Also ich weiß nicht, die spielen immer nur diese Schlager«, entgegnete Charlotte. »Ein bisschen Swing könnte auch nicht schaden, oder?«

      »Sie fürchten wahrscheinlich die zivilen Aufpasser«, meinte Rosa. »Seitdem die Nazis Jazz und Swing auf den Index gesetzt haben, sollen die ja immer mal wieder auf Tanzveranstaltungen auftauchen.«

      Charlotte fiel sofort ihr Elternhaus ein. Auch ihr Vater, der Vorzeige-Nazi, redete ständig von entarteter Musik, wenn er Jazz meinte und von Negermusik, wenn er sich ganz präzise ausdrücken wollte. Ihr war es so peinlich.

      »Ich finde es übrigens schön, dass wir beide zusammen an diesem Wochenende dienstfrei haben«, sagte Rosa, während sie Charlotte ihre Hand auf den Unterarm legte. »Das passiert ja wirklich selten.«

      »Ich hatte ursprünglich gar nicht frei«, entgegnete Charlotte, »nur wegen der Umbaumaßnahmen haben sie den Plan geändert.«

      »Ach ja, die Umbaumaßnahmen. Da machen sie ein richtiges Geheimnis drum. Ich habe gehört, dass die SS Räume und Betten bei uns okkupierte hat.«

      »Ja, das Gerücht kenne ich auch. Angeblich als Lazarettabteilungen für Angehörige der Leibstandarte in der Kadettenanstalt.«

      »Zum Glück haben wir mit denen nichts am Hut, aber wer weiß, was noch kommt. Man muss immer an das Schlimmste denken.«

      Charlotte schob sich das letzte Stück ihrer Schmalzstulle in den Mund und nahm einen Schluck von ihrem Getränk.

      »Komm Lotte, lass uns mal eine Runde drehen«, sagte Olaf, erhob sich und umrundete den Tisch. »Du erlaubst doch, Liebling?«

      »Na, ich weiß nicht...« Rosa schmunzelte, während Olaf Charlotte sanft hochzog und mit ihr zur Tanzfläche ging. Aus dem Augenwinkel beobachtete Charlotte, wie Heinz ihr vom Nebentisch aus hinterher sah. Auch Olaf konnte gut tanzen. Nicht nur deswegen beneidete sie Rosa um ihren Freund. Charmant, humorvoll und gutaussehend. Als Elektro-Ingenieur bei der AEG im Wedding verdiente er darüber hinaus gutes Geld. Bald wollen sie heiraten und zwei Kinder kriegen und irgendwo ins Umland ziehen, wie Rosa ihr anvertraut hatte. So ähnlich stellte auch sie sich ihre Zukunft vor, nur dass sie unter keinen Umständen aufs Land ziehen würde. Sie brauchte einfach das städtische Leben, schon Steglitz war ihr viel zu ruhig. Aber irgendwann, daran glaubte sie fest, würde sie auch wieder Glück haben und jemand finden, mit dem sie in Berlin ihr Leben teilen könnte. Sie musste einfach nur Geduld haben.

      »Vielen Dank für den Tanz, Olaf«, sagte Charlotte, als er sie wieder zum Tisch zurückführte. »Es hat mir viel Spaß gemacht.«

      »Ganz meinerseits, Lotte.«

      Sie sprachen noch eine Weile, dann wollte Rosa noch einmal tanzen.

      »Man, das wird ja richtig anstrengend«, lachte Olaf. »Ich gehe nie wieder mit zwei Frauen auf ein Sommerfest.«

      Dann folgte er seiner Freundin, die schon auf dem Weg zur Tanzfläche war. Charlotte blickte den beiden hinterher. Ein tolles Paar! Sie wollte sich gerade wieder ihrem Getränk zuwenden, als sie erstarrte. Am Rand der Tanzfläche standen die SA-Männer mit Biergläsern in der Hand und pöbelten die tanzenden Paare