Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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es in den Kaffee. Fast jeden Samstag frühstückte sie in der kleinen Bar von Roger Boyer, in der es schon am frühen Morgen zuging, wie auf dem großen Basar in Istanbul. Wortgewaltig und gestenreich diskutierten Rogers Gäste die wichtigsten innenpolitischen Entwicklungen der Woche. Die meisten Gesichter kannte sie schon, sehr oft auch die Charaktere dahinter. Mit Beklemmung registrierte sie die sich von Woche zu Woche immer mehr aufladende Atmosphäre. Diskussionen endeten zuletzt auch schon in handfesten Prügeleien. Trotzdem war sich der überwiegende Teil der Gäste, die aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten stammten, darüber einig, dass der Tiefpunkt erreicht war und es irgendwann wieder aufwärtsgehen müsste. Obwohl Rogers Bar gleich an der nächsten Ecke lag, hatte Chantal sie erst vor einigen Wochen für sich entdeckt, als sie die Bar wegen eines wichtigen Telefongespräches betrat. Roger hatte sofort Gefallen an ihr gefunden und ihr einen Pernod spendiert. Seitdem hatte sich ihr Verhältnis zu Roger so intensiv entwickelt, als würden sie sich schon jahrelang kennen. Immer wenn sie auf dem Weg zur Wohnung an der Bar vorbeikam, winkte sie Roger zu und meistens bedeutete er ihr mit wilden Armbewegungen, kurz hereinzukommen. Der kleine Mann entsprach genau dem Klischee des französischen Mannes, wie sie es sich in Deutschland vorstellten. Ein riesiger Schnauzbart, listig funkelnde Augen und nie ohne seine Baskenmütze. Roger wohnte direkt über der Bar, die er schon in der dritten Generation bewirtschaftete und die eine Institution im Kiez war. Hier wurden alle Neuigkeiten und Informationen aus dem 9. Arrondissement zusammengetragen, die für die Bewohner oft überlebenswichtig waren. Wo es Kohlen zu kaufen gab oder wer nachts heimlich ein Schwein geschlachtet und Fleisch zu verkaufen hatte, aber auch über Razzien der letzten Tage und Nächte, in denen die Boches immer häufiger Menschen aus ihren Wohnungen verschleppten.

      Chantal unterdrückte zum wiederholten Mal ein Gähnen. Die Nacht war schrecklich gewesen. Sie hatte kaum ein Auge zubekommen. Immer wieder schoss ihr das Treffen mit Stading durch den Kopf. Zweimal war sie in der Nacht aufgestanden, um etwas zu trinken.

      »Noch einen Wunsch, Chantal?«, fragte Roger, als er mit einem Tablett an ihr vorbeiging. Sie schaute auf ihre Uhr. In knapp zwei Stunden würde sie Florence am Grab von Moliere treffen.

      »Ja, Roger, bring mir noch einen«, sagte sie und zeigte auf ihre Tasse. »Ich habe noch etwas Zeit.«

      Für die Fahrt zum Friedhof im Osten der Stadt benötigte sie ungefähr eine dreiviertel Stunde. Friedhöfe, auch da stimmte sie Florence zu, eigneten sich bestens für konspirative Treffen, denn Friedhofsbesucher waren meistens mit ihren Gedanken bei den Toten oder mit sich selbst beschäftigt. Verdächtige Personen, wie Spitzel der deutschen Abwehr, würden hier sofort auffallen, wenn sie denn überhaupt auf die Idee kämen, auf Friedhöfen herumzulungern.

      »Ich habe übrigens einen Zentner Kohlen für dich, Chantal«, sagte Roger, als er den Kaffee brachte.

      »Das ist nicht dein Ernst, Roger. Ich wollte schon auf dich zukommen.« »Sag mir, wann du zu Hause bist und ein Freund hier aus dem Kiez bringt sie bei dir vorbei.«

      »Oh Roger, du bist ein Schatz.« Chantal erhob sich und drückte Roger einen Kuss auf die Wange. »Vielleicht am nächsten Montag. Gegen Abend.« »Kein Problem. Melde dich einfach. Der Sack ist für dich reserviert.«

      

      

      

       Paris, 20. Arrondissement,

       Cimitière du PereLachaise

       Zwei Stunden später

      Paris‘ berühmtester Friedhof bot um diese Zeit, in der sich das von grauem Schnee bedeckte Laub auf den Wegen häufte und die kahlen schwarzen Äste der Bäume vor dem wolkenverhangenen Himmel wie menschliche Skelette wirkten, das trostlose Abbild der Stadt. Schon kurz nachdem Chantal die Kapelle passiert hatte und in die Chaussee Molière et La Fontaine eingebogen war, erkannte sie Florence, die stillschweigend direkt vor dem schwarzen Zaun der monumentalen Grabanlage stand und in sich gekehrt auf das Grab blickte. Auf den Schultern ihres beigefarbenen Mantels, zu dem sie einem schwarzen Wollschal trug und auf ihrem schwarzen Hut hatte sich Unmengen Schneeflocken versammelt.

      »Bonjour, Florence«, raunte Chantal, als sie hinter Florence stand. Florence drehte sich zu ihr um und lächelte.

      »Bonjour, mon amour.«

      Sie küssten sich auf beide Wangen, dann blickten sie eine Weile schweigend auf das Grab. Ein Ritual.

      »Ist es nicht kalt geworden?«, fragte Florence in gedämpften Ton und hüstelte.

      »Ja, sehr kalt. Ich habe gerade einen Sack Kohlen bekommen.«

      »Wirklich?«

      »Ja, von Roger. Und er wird mir in die Wohnung geliefert.

      »Na was für ein Glück, meine Liebe. Es wird bestimmt wieder ein harter Winter werden. Ich muss mich auch darum kümmern. Unser Treffen hier passt mir ganz gut. Ich musste unbedingt mal an die frische Luft.«

      Florence zeigte ein flüchtiges Lächeln. »Ist sowieso nicht viel los im Laden.« Sie strich mit der Hand ein wenig Schnee von Chantals Mantelkragen.

      »Du willst mir von deinem gestrigen Abend berichten. Am Telefon hörte es sich an, als wenn es sehr wichtig wäre.«

      »Ja, ich denke schon.«

      In knappen Sätzen berichtete Chantal von ihrem Zusammentreffen mit Stading. Florence hörte geduldig zu und nickte dann und wann. Nachdem Chantal geendet hatte, schloss Florence für einen kurzen Moment die Augen. Dann schaute sie Chantal forschend an.

      »Was hast du für ein Gefühl dabei, Chantal? Wie denkst du über die Sache?« »Ich habe die ganze Nacht lang gegrübelt und wusste bis heute Morgen absolut nicht, was ich davon halten sollte. Es war ein ständiges Hin und Her in meinem Kopf. Einerseits kommen immer noch Zweifel zum Vorschein und ich habe Angst, dass er ein Agent der Deutschen Abwehr sein könnte, andererseits ist die Geschichte auch irgendwie plausibel und stimmig. Vielleicht war es auch einfach nur zu viel für den Moment und es lag daran, dass ich überhaupt nicht darauf vorbereitet war.« Sie machte eine Pause und sah, wie sich Schneeflocken auf den schwarzen Gitterstäben vor dem Grab aufhäuften.

      »Im Augenblick tendiere ich dazu, dass alles stimmt, was er sagte«, fuhr sie fort. »Ich bin mir fast sicher.«

      »Und warum bist du dir jetzt sicher?«

      »Ich kann es nicht erklären, Florence. Intuition? Es gibt da ein paar Dinge, die diesen Eindruck bei mir immer mehr verfestigen.«

      Florence sah sie fragenden an.

      »Wie ich vorhin schon sagte, Florence, ist dieser Mann überhaupt nicht der typische Boche, so wie wir ihn uns vorstellen. Du weißt, was ich meine. Ehrlicherweise muss ich gestehen, dass er mir sogar positiv aufgefallen ist. Zugegeben, es ist ein rein subjektives Empfinden, aber ich glaube deutliche Signale empfangen zu haben, dass er genug vom Krieg hat und es ernst meint. Ich denke nicht, dass er mir etwas vorgespielt hat.«

      »Er hat dich also beeindruckt?«

      »Ja, seine Art und seine Sicht auf die Situation haben mich schon beeindruckt.«

      »Findest du ihn attraktiv, Chantal?« Chantal spürte, wie sich ihre Gesichtsfarbe urplötzlich veränderte. Diese Frage hatte sie nicht erwartet. »Nein, bestimmt nicht«, antwortete sie mit fester Stimme. »Warum fragst du, Florence?«

      »Man muss in solch einer Situation auf viele Dinge achten, die einem kaum präsent sind. Persönliche Gefühle sind meistens schlechte Ratgeber und es ist nicht ganz einfach, aber enorm wichtig, Gefühle aus dem Spiel zu halten. Besonders, wenn es um sol-che brisanten Dinge geht. Glaube mir, ich habe das alles schon hinter mir.«

      Chantal registrierte, wie Florence mit ihren Gedanken kämpfte. Ein älteres Ehepaar ging mit Blumen in der Hand an ihnen vorüber. Florence nickte freundlich und blickte ihnen hinterher. Als sie sich einige Meter entfernt hatten, wandte sie sich wieder Chantal zu.

      »Du