Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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Gerne erinnerte er sich an die Zeiten vor der Besatzung, als sein Restaurant an fast allen Tagen der Woche ausgebucht war und die Pariser mindestens drei Wochen im Voraus einen Tisch reservieren mussten. Die Jahre hatten ihn zu einem wohlhabenden Mann gemacht und er hätte nichts dagegen einzuwenden gehabt, wenn alles so weitergelaufen wäre. Aber er wollte nicht klagen, denn obwohl sich die politische Lage in Frankreich dramatisch verändert hatte, kam er immer noch wesentlich besser zurecht, als viele seiner Konkurrenten. Dabei war der Michelin-Guide eingestellt worden und er musste auf fast alle alten Stammgäste verzichten. Lacroix konnte es ihnen nicht verdenken, die Menschen waren in diesen schweren Zeiten eben nicht mehr bereit oder in der Lage, ihr Geld in teure Restaurants zu tragen. Dem hatte er Rechnung tragen müssen und da er kaum Skrupel kannte, entwickelte er bald ein Geschäftsmodell, das den meisten seiner Konkurrenten niemals in den Sinn gekommen wäre. Warum, so fragte er sich, sollte er seine Tische nicht exklusiv den deutschen Besatzern anbieten? Höheren Rängen der Wehrmacht oder der SS? Sie wussten sowieso nicht, wo sie ihr Geld ausgeben sollten und schließlich gab es auch noch eine Reihe Franzosen, die selbst in diesen Zeiten noch gut betucht waren und gerne mit den Deutschen tafelten. So würden beide Seiten auf ihre Kosten kommen, seine Geschäfte gingen immer noch gut und die Deutschen konnten weiterhin leben wie Gott in Frankreich. Im Gegensatz zu vielen anderen Pariser Restaurants, die mittlerweile schon Katzen- oder Taubenfleisch verarbeiteten und auf den Speisekarten als Kaninchen- oder Geflügelragout anboten, konnte Lacroix immer noch viele seiner ausgewählten Spezialitäten einkaufen, wenn auch zu drastisch erhöhten Preisen. Dafür wiederum waren seine Gäste verantwortlich, da sie alles konfiszierten, was sie kriegen konnten. Über saftige Rechnungen, die er seinen Gästen vorlegte, holte er sich das Geld zurück.

      Gilbert Lacroix bewunderte die Deutschen schon vor ihrem Einmarsch in Frankreich. Es hatte ihm eine große Portion Respekt abgenötigt, wie sie aus den Trümmern des Ersten Weltkrieges wieder aufgestiegen waren und nach der Demütigung von Versailles eine solche wirtschaftliche Energie entfalten konnten. Nur an der Seite der Deutschen, da war er sich sicher, würde auch Frankreich wieder eine bedeutende, eine angemessene Rolle im künftigen Europa spielen. Er jedenfalls hatte den Einmarsch begrüßt und auch viele seiner Freunde dachten wie er. Was war denn aus Liberté, Égalité, Fraternité geworden? Diese Grundfeste der Revolution haben letztendlich doch zur Zerrissenheit der Nation geführt. Warum hatten so viele Franzosen einen Groll auf Petain? Dessen wohlgemeinte Mission war doch, Frankreich zu erhalten. Nur durch seine Zusammenarbeit mit den Deutschen war der Untergang des Landes zumindest zeitweise verhindert worden. Vichy hatte sich lange gut gehalten. Das waren doch auch Franzosen! Klar, irgendwann wurde Petain zu schwach, zumal er sich von Laval, diesem Wahnsinnigen, der den Deutschen bis in den letzten Winkel ihres Arschloches kroch, zum Schluss aus der Hand fraß. Da hätte er ein bisschen mehr Gespür und Verhandlungsgeschick gebraucht, aber dafür war er wahrscheinlich zu alt gewesen.

      Lacroixs Gedanken begannen sich zunehmend um die Zukunft Frankreichs zu drehen, besonders, nachdem auch Vichy Geschichte geworden war. Irgendwann einmal, da war er sich sicher, würden die Deutschen wieder abziehen ... und ein großes Vakuum hinterlassen. Dieses zu füllen würde Frankreich vor eine enorme Herausforderung, vielleicht sogar vor eine Zerreißprobe stellen. Es würde weit vorausschauende und durchsetzungsstarke Persönlichkeiten erfordern, um dieses stolze Land wieder nach vorne zu bringen. Selbstverständlich zählte auch er sich zu diesem Personenkreis.

      Als Chantal das Maison du Plaisir betrat, kam Lacroix mit seinem anbiedernden Augenaufschlag auf sie zu und begrüßte sie mit zwei Wangenküssen.

      »Bonsoir, Chantal. Schön dich zu sehen.«

      Widerwillig ließ sie es geschehen und zwang sich ein Lächeln ins Gesicht. Obwohl sie diesen devoten Wirt bis in die Haarspitzen verachtete, musste sie das Spiel mitspielen. Es war Teil ihres Jobs. Dieses skrupellose Arschloch tat alles, um den Deutschen zu gefallen. Schon als sie das Restaurant vor einigen Wochen zum ersten Mal aufgesucht hatte, erfasste sie das blanke Entsetzen. Die bierselige Atmosphäre eines Schützenfestes mit deutschen Schlagern und Volksmusik hatte sie in einem Pariser Gourmet-Restaurant nicht erwartet. Fast wäre sie auf dem Absatz wieder umgekehrt. Lacroix tat alles, um seinen Gästen einen angenehmen Abend zu bereiten. Er war ein schlauer Hund und hatte ein Gespür für gute Geschäfte. Es reichte ihm nicht, seinen immer zahlreicher werdenden deutschen Gästen das Leben in Paris mit auserlesenen Weinen, Speisen und - auch hier war ihm nichts peinlich genug - deutscher Blasmusik zu versüßen. Geschäftstüchtig, wie er war, hatte er schnell herausgefunden, was die hart arbeitenden deutschen Männer im Ausland noch mehr zu schätzen wissen, als gutes Essen: attraktive Frauen. Da waren sie nicht anders als Italiener, Amerikaner oder selbst Franzosen. Es war eine Win-win-Situation. Die Deutschen konnten für ein paar Stunden einen anregenden Abend genießen und viele hübsche Französinnen ließen sich in dieser enthaltsamen Zeit nicht zweimal bitten, einen Abend auf Kosten des Hauses. oder besser gesagt, der Deutschen zu verbringen. Ein kleiner Fehler hatte sich allerdings in Lacroixs Kalkulation eingeschlichen, dessen Auswirkungen weniger ihn, sondern vor allem die Deutschen traf. Denn auch die Pariser Widerstandsorganisation Liberation Nord war auf diese Amüsements aufmerksam geworden und rekrutierte attraktive Résistance-Aktivistinnen, um sie in diesen edlen Kreis von Besatzern und Kollaborateuren einzuschleusen. Wie konnte man besser an Informationen herankommen, als bei erotisch aufgeladenen Smalltalks mit viel Alkohol?

      Chantal konnte sich noch genau an den Sonntagnachmittag vor fast drei Monaten erinnern, als Florence sie zum Kaffee eingeladen hatte. Sie hatten sich eine Zeit lang über belanglose Dinge unterhalten, doch schon bald ging es um die Aktivitäten der Widerstandsgruppe. Irgendwann hatte Florence sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Informationen direkt von den Deutschen abzuschöpfen. Auf Chantals entsetzten Blick hin erklärte sie ihr, was sie damit meinte. Chantal musste schlucken, sie fröstelte plötzlich. Eine Edelhure? Bei den Boches! Niemals, war ihr spontaner Gedanke. Alles würde sie tun, es gab eine Reihe gefährlicher Jobs im Widerstand, aber niemals mit einem Deutschen ins Bett gehen. Florence hatte ihr aschfahles, versteinertes Gesicht registriert und war an sie herangerückt.

      »Es ist nicht so, wie du denkst, Chantal«, versuchte sie sie zu beruhigen, »ich weiß, was dir gerade durch den Kopf geht.« Florence legte ihr den Arm um die Schulter.

      »Ja, es geht um Informationen, die wir den Boches entlocken wollen und attraktiven Frauen fressen sie nun mal aus der Hand. Aber du alleine entscheidest, wie weit du gehst. Wenn du etwas erfahren willst, brauchst du dafür nicht mit irgendeinem Fettsack ins Bett gehen. Meistens reichen schon ein paar Andeutungen und Herren geben alles angesichts eines erotischen Abenteuers preis.« Florence begann zu schmunzeln. »Ich bin leider zu alt für diesen Job und sehe auch nicht gut genug aus. Das ist nur etwas für Frauen wie dich.«

      Chantal fühlte sich geschmeichelt. Florence gab ihr ein paar Tage Zeit, um darüber nachzudenken. Am Ende willigte sie ein.

      Lacroix führte Chantal zu einem Platz an der Bar. »Wie immer einen Pernod, meine Liebe?«

      »Bitte erst einmal nur ein Glas Perrier, Gilbert.«

      Nachdem Lacroix verschwunden war, ließ Chantal den Blick durch den großen, gut gefüllten Raum schweifen. Wie schon bei ihrem ersten Besuch vor einigen Wochen, war sie von den stilvollen Möbeln aus dem letzten Jahrhundert fasziniert. Ebenso von den raffinierten Arrangements auf den mit weißen Tischtüchern gedeckten Tischen, den verspielten, glitzernden Kronleuchtern. An den dunkelgrünen Wänden hatte Lacroix Aquarelle von Raoul Dufy platziert, der hier selbst ein paar Mal zu Gast gewesen sein soll. Und dazu deutsche Volksmusik! Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. Sie konnte es einfach nicht verstehen. Es war schließlich ein Pariser Gourmet-Restaurant.

      Chantal schlug die Beine übereinander, holte ihren Schminkspiegel aus der Handtasche und prüfte ihr Make-up. Über den Spiegelrand hinweg taxierte sie die Anwesenden. Frauen im Smalltalk mit gestriegelten Herren. Allesamt attraktiv, das musste sie zugeben. Gesellschaftsdamen, wie sie selbst und doch unterschied sich ihre Mission von denen ihrer »Kolleginnen« sehr deutlich. Oder gab es vielleicht außer ihr noch andere Résistance-Aktivistinnen in diesem Kreis? Florence hatte angedeutet, dass sie nicht die Einzige wäre. Sie musste schmunzeln. Die Stimmung war ebenso aufgeladen wie an den Abenden zuvor und dies, obwohl es auch den Besatzern in Frankreich zunehmend schlechter ging. Man soff sich das Leben schön. War das Endzeitstimmung?