Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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       Ein Abend von bleibender Erinnerung

      »Rosa, Olaf und noch eine hübsche Dame«, grüßte der junge Mann mit der schwarzen Melone auf dem Kopf am Eingangstor des riesigen Clubgeländes. »Schön euch zu sehen. Tretet ein und amüsiert euch.« Mit einer ausladenden Armbewegung und einer Verbeugung komplimentierte er die drei Neuankömmlinge auf das Gelände.

      »Vielen Dank, Roland«, lachte Olaf, »das werden wir, oder?« Er zwinkerte seinen beiden Begleiterinnen zu, seiner Frau Rosa und ihrer besten Freundin Charlotte, mit der sie auf der Station 12 des Stubenrauch-Krankenhauses in Lichterfelde als Stationsschwestern zusammenarbeitete. Olaf und Rosa waren begeisterte Ruderer und seit mehr als drei Jahren Mitglieder des Ruderclubs Südwest am Westufer des Großen Wannsees. Kaum ein Sommerwochenende verging, an dem sie nicht mit ihren schnittigen Booten auf der Havel unterwegs waren, zwischen Glienicker Brücke und der

      Wilhelmstadt oder auf dem Tegeler See, ihren bevorzugten Ruderrevieren. Das Sommerfest des Ruderclubs war seit Jahren der Höhepunkt der Saison und galt als das beste unter den vielen Festen, die von den Segel- und Ruderclubs an der Havel veranstaltet wurden.

      »Dort sind noch ein paar freie Plätze«, freute sich Olaf und steuerte sogleich einen Tisch unter einer großen Kastanie an. Die beiden Mädels folgten ihm. »Ist es nicht wundervoll, Lotte?« fragte Rosa, als sie nebeneinander am Tisch saßen. Sie schaute ihre Freundin mit verklärtem Blick an. »Ich liebe nichts mehr als diese lauen Sommerabende an der Havel.«

      »Ja, ich finde es großartig hier«, stimmte ihr Charlotte zu. Auch sie sog die stimmungsvolle Atmosphäre ein.

      Vor dem Clubhaus war eine Bühne aufgebaut, auf der eine Combo gerade ein Foxtrott-Intermezzo spielte, während sich unzählige Paare auf einer Fläche davor zum Tanz drehten. Bis hinunter zum See erstreckte sich die große Rasenfläche, auf der sonst die Boote lagerten und sich jetzt Tische aneinanderreihten, an denen ausgelassene junge Leute aßen, tranken und lachten.

      »Wir haben wirklich wieder einmal Glück mit dem Wetter«, sagte Olaf. »Es hätte auch anders kommen können. Und wie hell es noch ist. Dort drüben ist das Strandbad. Kann man hinschwimmen.«

      »Na ja, jetzt übertreibst du aber«, sagte Rosa und zeigte ihm einen Vogel. »Ach Charlotte, ein paar Häuser weiter, hatte übrigens Max Liebermann gewohnt. Seine Frau lebt wohl noch dort.« Charlotte nickte nachdenklich. »Der würde sich wahrscheinlich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was in Deutschland gerade vor sich geht.«

      Ein Kellner mit schneeweißer Jacke erschien an ihrem Tisch, ein Tablett leerer Gläser in der Hand.

      »Was wünschen die Herrschaften zu trinken? Das Essen gibt es vorne im Clubhaus.«

      »Ich hätte gerne eine Berliner Weiße, Waldmeister«, sagte Rosa und sah Charlotte fragend an.

      »Ich nehme auch eine, aber eine rote, bitte.«

      »Und mir bringen Sie bitte ein großes Gezapftes«, fügte Olaf hinzu.

      Der Kellner notierte die Bestellungen, nickte und verschwand.

      »Ihr kennt bestimmt viele Leute hier, oder?«, fragte Charlotte. Olaf wiegte den Kopf.

      »Na ja, ein paar Clubmitglieder, aber die sind hier heute in Unterzahl. Ich habe noch keinen Bekannten getroffen, außer Roland am Eingang. Das Fest ist für alle offen, nicht nur für Ruderer.«

      »Genau«, ergänzte Rosa, »und so viele Mitglieder sind wir auch gar nicht.« Charlottes ließ ihren Blick umherwandern und sie verharrte einen Moment am Nebentisch, wo zwei junge Männer saßen und sich angeregt unterhielten. »Und, Lotte, ist etwas für dich dabei?«, fragte Olaf grinsend.

      »Olaf!«, entrüstete sie sich und trat ihm gleichzeitig unter dem Tisch gegen das Schienbein.

      »Na komm schon, meine Liebe, solch ein Fest ist doch eine gute Gelegenheit«, mischte sich Rosa ein, während sie ihren Arm um Charlottes Nacken legte.

      »Du musst langsam mal wieder zu dir finden.«

      Sie gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange. Charlotte musste ihr zustimmen. Es war schon fast ein halbes Jahr her, seit sich Harald von ihr getrennt hatte. Nur zwei Wochen vor der Verlobung. Es hatte sie hart getroffen und sie benötigte lange, um sich von diesem Schock zu erholen. Bis heute schmerzte es sie, dass sie niemals den Grund dieser Trennung erfahren hatte. Zuerst vermutete sie einen Zusammenhang mit Haralds beruflicher Situation. Er war bis vor einem dreiviertel Jahr mit Herz und Seele Redakteur beim Berliner Tageblatt gewesen. Als die Nazis die unabhängige Berichterstattung unterboten und der liberale Chefredakteur Scheffer, mit dem Harald sich prächtig verstand, daraufhin das Handtuch geschmissen hatte, wollte auch er nicht länger in der Redaktion bleiben und kündigte. Charlotte hatte es kommen sehen und alles versucht, um ihn davon abzuhalten, was er jedoch mit seinem Verständnis von Journalismus, wie er ihr entgegnete, nicht vereinbaren konnte. Sie war entsetzt. Gerade in dieser Zeit seinen Job zu kündigen, war einfach instinktlos! Ihr war bewusst gewesen, dass er in dieser Zeit keinen neuen Job finden würde und schon bald zeigten sich die ersten Verhaltensmuster, die auf eine beginnende Depression hindeuteten. Dann war er plötzlich weg. Von einem Tag zum anderen. Mindestens achtmal hatte sie vor seiner Wohnungstür in der Weserstraße gestanden, doch sie traf ihn nie an. Irgendwann gab sie auf. Sie dachte bald an eine andere Frau und obwohl sie nie etwas Konkretes in Erfahrung bringen konnte, hatte sie dieser Gedanken bis zum Ende keine Ruhe gelassen. Letztendlich glaubte sie, dass sie sich einfach zu früh kennengelernt hatten, und die Trennung wäre so etwas wie ein Ausbruch Haralds aus einer Routine gewesen. Seit der zehnten Klasse hatten sie zusammen die Schulbank des Dürer-Lyzeums gedrückt und die Liebe zueinander entdeckt. Der Kellner erschien mit den Getränken und riss Charlotte aus ihren Gedanken.

      »Zum Wohl«, rief Olaf und hob sein Bierglas. Charlotte staunte nicht schlecht, als er sein Glas mit einem Zug halb austrank.

      »So, ich habe einen Bärenhunger«, sagte Olaf, während er sich mit dem Handrücken den Schaum vom Mund wischte. »Lasst uns mal etwas essen gehen. Das Berlin Buffet ist hier einsame Spitze.« »Geht ruhig erst einmal«, erwiderte Charlotte, »ich bleibe noch ein wenig sitzen. Habe noch nicht solchen Hunger.«

      »Wir können dir auch etwas mitbringen«, sagte Rosa und erhob sich. »Das ist lieb, Rosa, aber ich habe wirklich noch keinen Hunger. Später bestimmt.«

      »Warte aber nicht zu lange, Lotte. Das Buffet ist sehr beliebt.«

      Nachdem ihre Freunde gegangen waren, ließ Charlotte ihren Blick über die Anlage schweifen, verkniff es sich jedoch, zum Nebentisch zu den beiden Jungen hinüberzuschauen. Die Tanzfläche vor der kleinen Bühne war rappelvoll.

      »Unser nächstes Stück heißt: In der Nacht ist der Mensch nicht gerne alleine«, rief der Sänger ins Mikrofon und kurz darauf schmetterte die Sechs-Mann-Kapelle mit Hingabe los, während sich unzählige Paare begannen, zu dem Stück drehen. Ist zwar nicht meine Musik, dachte Charlotte, aber trotzdem ein tolles Fest. Ihr Blick verweilte bei den tanzenden Paaren. Gerne hätte sie auch mal wieder getanzt. Sie hob den Kopf, blickte verträumt in den tiefblauen Nachthimmel und genoss den Augenblick.

      3

       Freitag, 10. Dezember 1943

       Paris, 6. Arrondissement,

       Rue de l’ Eperon

       Am Abend

      Gilbert Lacroix hatte sein Restaurant Maisondu Plaisir innerhalb nur weniger Jahre zu einem festen Bestandteil der Pariser Gourmet-Szene entwickelt. Mit seinen Spècialitès du Sud-Quest, Gänseleberpastete, Hirschragout und Entenbrust hatte sich der Weinhändler mit dem Körperbau eines Schwergewichtsringers aus Bordeaux einen Stern im Guide Michelin ergattert, worauf er mächtig stolz war. Schnell hatte es sich in Paris und im gesamten Ile-de-France herumgesprochen, dass er für seine Gäste in der Rue de la Huchette das größte Sortiment