Ulrich Paul Wenzel

Am Ende Der Dämmerung


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erkennbar. Er schüttelte nachdenklich den Kopf. Es war noch nicht lange her, da lebte er sprichwörtlich wie Gott in Frankreich. Das ist vorbei, endgültig! Die Versorgungslage wird auch hier immer katastrophaler. Langsam geht alles den Bach runter. Dazu der zunehmende Widerstand in der französischen Bevölkerung. Unglaublich, was für einen Zulauf die Résistance gerade erfährt. Und die Wehrmacht wirkt zusehend hilfloser im Angesicht der alliierten Bombenangriffe.

      Schrader schloss für einen kurzen Moment die Augen und sog noch einmal den Alkohol durch die Nase ein. Selbst der Cognac schmeckte nicht mehr so wie früher. Ein ganz schlechtes Zeichen! Aber er hatte es kommen sehen und ständig verdrängt. Ging ja immer gut. Doch jetzt rächt sich die Strategie dieser Möchtegern-Feldherren Jodl und Keitel. Diese Hampelmänner! Die Westfront war ein riesiger Fehler! Okay, er schnaufte verächtlich durch die Nase, ohne diese Westfront wäre er nicht hier in Paris. Aber egal, die entscheidende Frage ist doch, wie es weitergeht. Wie lange wird das Leben hier noch ertragbar sein? Wenn sich nicht bald etwas Entscheidendes tut, wenn es nicht gelingt, der unweigerlichen Landung der Alliierten in Frankreich etwas Angemessenes entgegenzusetzen, dann ist alles ganz schnell vorbei. Die Amerikaner und Engländer sollen schon mit den ersten Vorbereitungen für ihren Einsatz begonnen haben, das war jedenfalls auf der letzten Sicherheitsbesprechung durchgesickert. Innerhalb der nächsten sechs Monate musste man mit ihnen rechnen. Und aus dem Desaster von Dieppe im Sommer vor einem Jahr, dieser schlampig geplanten Landung, werden sie ihre Lehren gezogen haben. Die nächste Landung wird eine andere Nummer werden, das ist schon mal sicher!

      Leider tragen Rommels Einschätzungen über den Atlantikwall nicht gerade zu einer Beruhigung bei. Ganze sechs Panzerdivisionen haben sie...er wollte nicht mehr darüber nachdenken, doch diese beschissenen Gedanken ließen sich einfach nicht mehr vertreiben. Wir brauchen endlich einmal gute Nachrichten! Scheiße noch mal, der Führer muss doch eine Antwort finden! Unsere Wunderwaffe, zum Beispiel. Was machen die beiden Feldwebel-Arschgeigen überhaupt bei den Lagebesprechungen in der Führerbaracke? Die hätte der Führer schon längst feuern sollen.

      Schraders Backenknochen mahlten. Seine Wut war knapp am Siedepunkt. Am liebsten hätte er den Cognacschwenker an die Wand gefeuert. Er öffnete das Fenster und sog die kalte Luft ein. Die Luft tat gut.

      Im Sommer erst hatte er diese wundervolle Sieben-Zimmer-Wohnung des jüdischen Kunsthändlers bezogen. War ein Schnäppchen gewesen, der Mann hätte damit in Ausschwitz sowieso nichts mehr anfangen können. Trotzdem hatte es noch eine Menge Geld gekostet, sie ein bisschen herzurichten.

      Klar, vielleicht war er ein wenig blauäugig gewesen, seine mittelfristige Lebensperspektive mit dieser Wohnung, mit Frankreich zu verbinden, schließlich war er mit seinen vierunddreißig Jahren noch jung und jetzt auch flexibel genug, um überall auf der Welt zu leben. Aber seit er hier in Paris angekommen war, fühlte er sich immer mehr von dieser wundervollen Stadt angezogen, die ihm obendrein eine bezaubernde Freundin beschert hat. Schrader schüttelte nachdenklich den Kopf. Zum Kotzen ist das alles! Vor ein paar Monaten noch wäre er gar nicht auf solche Gedanken gekommen, jetzt kosten sie ihn schon die eine oder andere schlaflose Nacht. Und vor allem, was kommt danach? Sein Posten als stellvertretender Kontrolleur des Sicherheitsdienstes für Paris würde weder bei den Alliierten noch bei der Bevölkerung einen besonderen Klang haben. Er lachte heiser auf. Scheiße noch mal, das wird ein riesiges Problem werden! Es nutzte auch wenig, dass er hier bestens integriert war. Sein Französisch war mittlerweile mehr als akzeptabel und er zählte eine Reihe von Franzosen zu seinem Freundeskreis. Darauf werden sie aber keine Rücksicht nehmen. Sein Blick wurde hart. In zwei Wochen ist Weihnachten und Mittwoch der letzte Tag um die Geschenke für Kathrin einzukaufen, damit sie noch rechtzeitig in Deutschland eintreffen.

      Schrader trank von seinem Cognac. Im März wird seine Tochter fünf Jahre alt werden und seit über drei Jahren hatte er sie nicht mehr gesehen. Das Bild, wie sie in dem blauen Kleidchen und den weißen Kniestrümpfen vor ihm stand, ist ihm bis jetzt präsent. Das scheue Lächeln, die Grübchen. Er musste schlucken. Es war genau eine Woche vor seiner Entscheidung, die Abteilungsleiterstelle in Paris anzunehmen und es war sein letzter Kontakt zu seiner Tochter. Er hatte Kathrin in Bayern besucht, wo sie bei ihrer Mutter lebte. Hartnäckig versuchte er die Tränen zu stoppen, die sich in seinen Augenwinkeln sammelten, doch es gelang ihm nicht. Nach den intensiven Tagen mit seiner Tochter am Chiemsee und in den Bergen war die Rückreise nach Berlin zur Qual geworden. Er hatte zum ersten Mal die unerträglichen Schmerzen gespürt, die ihm der Verlust seiner Familie bescherte und musste sich eingestehen, dass allein er selbst dafür verantwortlich war. Eine Rückkehr, das hatte Edith ihm unmissverständlich klargemacht, war ausgeschlossen. Natürlich hatte er geahnt, dass ihm seine Frauengeschichten irgendwann einmal das Genick brechen würden und trotzdem hatte er immer weiter mit dem Feuer gespielt, bis es lichterloh brannte. Ute, seine Sekretärin im Reichssicherheitshauptamt war die letzte seiner unzähligen Affären. Sie brachte das Fass zum Überlaufen. Lippenstift am Hemdkragen, für diese Dusseligkeit hätte er sich heute noch ohrfeigen können. Das anschließende Gespräch mit Edith empfand er wie eine Tracht Prügel, ihre Worte wie Keulenhiebe. Es hatte keine zwei Wochen gedauert, bis Edith die gemeinsame Wohnung verlassen hatte und in ihre Heimat nach Bayern gezogen war.

      Es war der erste ernstzunehmende Rückschlag seines Lebens, das bis dahin so glatt gelaufen war. Es hatte nicht viel gefehlt und diese Affäre hätte ihn obendrein auch noch seine Karriere gekostet. Nur ungern erinnerte er sich an den Rüffel der Partei. Dort hatte man für Seitensprünge und Frauengeschichten außerhalb der Ehe überhaupt kein Verständnis, schon gar nicht zu Kriegszeiten, wo eine intakte Ehe oder Familie das höchste Gebot war. Die krachende Standpauke seines Chefs, der ihn auf Briefmarkenformat zusammenfaltete, war äußerst peinlich und unangenehm, Er brauchte Wochen, um sich von diesem Tiefschlag zu erholen. Dass er den Job in Paris trotzdem antreten durfte, hatte er ganz allein seinen außerordentlichen beruflichen Qualitäten zu verdanken, wie man ihm hinterher zu verstehen gab. Darauf war er stolz. Die anderen Kollegen waren ersetzbar, auf ihn konnten sie nicht verzichten. Kein Wunder, dass es dann ganz schnell nach oben ging. Nur ein halbes Jahr nach diesem Schlag ins Kontor nahm er die ausgeschriebene Stelle bei der Sicherheitspolizei in Paris an und schaffte es innerhalb von zwei Jahren zum stellvertretenden Kontrolleur des SD. Jetzt hatte er das obere Ende der Karriereleiter erreicht: Kommandeur der SiPo und des SD in Paris. Das ist schon was. Mehr ist nicht drin.

      Schrader lächelte in sich hinein. Ihn fröstelte. Er schloss das Fenster und leerte sein Glas mit einem letzten Zug. Die nächsten Wochen werden entscheidend sein. Wir müssen jetzt richtig gut funktionieren! Wenn alle ihre Pflichten so erledigen würden, wie er und seine Mitarbeiter, gäbe es überhaupt keine Probleme. Die Zahl der Juden und Roma nimmt in Paris stetig und mit atemberaubender Geschwindigkeit ab. Die Lager in Drancy und Compiègne sind jetzt schon randvoll. Da haben wir den größten Engpass! Natürlich geht das nicht mehr lange gut, aber in Berlin reagiert man auf seine unzähligen Eingaben ja nicht. Wie oft hatte er schon dieses Thema angesprochen. Zusammen mit anderen Kollegen machten sie den Vorschlag, das verdammte Judenpack auf direktem Weg in die Ostgebiete zu karren, aber da gibt es angeblich riesige logistische Probleme mit der Reichsbahn. Von zu wenigen Ressourcen quatschen die, aber wahrscheinlich fehlt denen nur ein ausgeklügelter Plan. Wenn sich nicht ganz schnell etwas ändert, wird das nichts mehr, Freunde!

      Schrader zog sein silbernes Zigarettenetui aus der Tasche, nahm eine Zigarette heraus und zündete sie an. Gerade als er den ersten Rauch inhalierte, öffnete sich die Flügeltür am Ende des Wohnraumes.

      »Voilà Cherie, ich bin so weit.« Claire stand freudig strahlend im Türrahmen. Schrader fuhr zusammen, er hatte überhaupt nicht mehr an die Zeit gedacht. Anmutig lächelnd stolzierte Claire in ihrem eng geschnittenen blauen Kostüm auf ihn zu. Seine Gesichtszüge entspannten sich.

      »Du siehst zauberhaft aus, Liebling. Ist es wirklich schon so weit?«

      Er schob den Ärmel seiner Anzugjacke hoch und blickte auf die Uhr. »Ja, du hast recht, wir haben gerade noch neun Minuten. Pünktlich um viertel nach sieben steht der Wagen vor der Haustür bereit.«

      Claire schmiegte sich an ihn und gab ihm einen zärtlichen Kuss auf die Wange.

      »Alles ist genau geregelt, nicht wahr, Cherie?«, flötete sie. »Das liebe ich an euch Deutschen so. Nichts wird dem Zufall überlassen.«