Alkohol den Leuten zu Kopf stieg, konnte sie über die geschmacklosen Übergriffigkeiten der internationalen Eliten nur staunen.
Sie beging den Fehler, dass sie einmal auf einen charmanten französischen Kulturattaché hereinfiel, der (so wie alle Welt) von ihrem betörenden Geruch vereinnahmt war. Er umgarnte sie mit „Savoir vivre“ und „Toujour l´amour“, war äußerst galant und einfühlsam.....und pries sie danach in der diplomatischen Szene als seine „Süßeste Trophäe“. Die indiskreten Erläuterungen untermalte er stets mit einem obszönen Züngeln. Seitdem konnte sie sich der Fluten unsittlicher Anträge kaum mehr erwehren; fand sich ständig in einem unfreiwilligen Abwehr-Modus wieder; und die von ihr abgelehnten Männer, gekränkt in ihrer Eitelkeit, verschafften ihr erst recht eine üble Reputation.
Ein Abend in Sonjas Leben scheint uns dafür besonders repräsentativ zu sein, erläutern doch die damaligen Vorgänge ihre Situation auf plastische Weise:
Vor etlichen Jahren kam sie bei einem Empfang in der russischen Botschaft an der Tafel neben einem etwa sechzigjährigen Kunstkritiker aus St. Petersburg zu sitzen. Mit leichtem Akzent sprach dieser ein derbes Deutsch.
Schon vor dem ersten Gang hatte er durch zahlreiche Anekdoten und Indiskretionen aus dem höchsten politischen und kulturellen Milieu dokumentiert, wie weltgewandt und wohlinformiert er sei. Andauernd lieferte er Kostproben seiner kosmopolitischen Eloquenz und kulinarischen Bewandertheit ab. Dabei war es für Sonja offensichtlich, wie er ihr auf penetrante Weise zu gefallen versuchte.
Zum „Hors d ´Ouevre“ gab es Austern. Dazu servierte man Zitronenspalten. Diese wurden von drei bildhübschen und ebenso schüchternen blutjungen Russinnen gereicht, die, die Kristallschalen mit den Zitronenspalten auf den Händen balancierend, sich im Hintergrund hielten und auf Wunsch zum jeweiligen Gast traten, um mit einer kleinen vergoldeten Zange eine Zitronenspalte auf dessen Teller zu legen.
Dies war für den Kunstkritiker aus St. Petersburg - der in einer peripheren Plattenbausiedlung östlich von Samara aufgewachsen war (sein Vater stand zeit seines Lebens am sozialistischen Fließband der Autofabrik 'Lada') - ein willkommener Anlass, um sich durch die Kenntnis vornehmer Sitten hervorzutun.
Mit zaristischer Eleganz winkte er das nächststehende Zitronenmädchen herbei. Sonja fiel auf, dass das lange Herumstehen in den viel zu hohen Stöckelschuhen selbige schmerzte und der linke Arm, mit dessen Hand sie die schwere Kristallschüssel balancieren musste, immer mehr krampfte.
Entsprechend unlocker und mit dem aufgesetzten Lächeln einer minderjährigen Eiskunstläuferin trat sie heran und wollte eine Zitronenspalte reichen. Dabei näherte sie sich dem Galan von links hinten.
„Aber Babuschka!“ rief dieser auf Deutsch mit lauter Stimme - für alle hörbar. „Weißt Du denn nicht, dass man nurr von rrechts serrvierrt?“ Das Mädchen blickte ihn eingeschüchtert an.
„Schau nicht mich an wie eine Jungfrrau, sonst ich värlierä Behärrrrschung!“ und lachte wie der erste Bassist des Don-Kosaken-Chors. Dabei blinzelte er Sonja schmierig zu.
Das Mädchen wechselte schweren Fußes die Seite.
Da der Kunstkritiker aus St.Petersburg sehr breite Schultern hatte und rechts von ihm eine ebenfalls sehr ausufernde Person saß, war der Zwischenraum für die Serviererin ziemlich eng. Sie musste sich extrem strecken, um ihre Aufgabe ausführen zu können. Dabei kam sie mit der Achsel dem Gesicht des Kulturjournalisten in spürbare Nähe.
„Ich kann rriechen Du hast Angst, mein Kind. Keinä Sorrgä, mein Wahlsprruch ist: ‚Läben und läben lassen!‘ Oder, wie die Ungarn sagän: ‚Liebärr Gulasch als Gulag‘!“ Er lachte laut und versicherte sich durch einen Seitenblick Sonjas Aufmerksamkeit.
Als das Mädchen sich zurückziehen wollte, fuhr der Russe fort: „Halt! Ich will noch einä zweitä Spaltä von Dirr!“ Und abermals folgte ein zwischentonreicher Lachschwall.
Sie beugte sich also wieder vor und legte eine zweite Zitronenspalte auf seinen Teller.
Doch bevor sie zurücktreten konnte, fasste der Kulturkritiker aus St.Petersburg sie mit energischer Intensität um die Hüften.
Dies brachte das übermüdete Mädchen buchstäblich aus dem Gleichgewicht. Ein Schwall übersäuerten Eiswassers schwappte über den kristallenen Rand der Zitronenschüssel und klatschte auf die künstlerhaft wildgepflegte Dichthaarfrisur des Erzählers. Auch strauchelte das Mädchen und verfing sich mit der goldenen Zange in dessen durchnässter Haarpracht, was er aber nicht bemerkte.
Ein Schreckensschrei ließ die Hörergemeinde mit offenen Mündern dasitzen. Doch wider Erwarten verfiel der Kulturkritiker nicht in eine Haltung der Empörung gegenüber dem Mädchen, um sich als 'Angeschütteter' auf diese Art Respekt zu verschaffen. Nein, das hatte er doch gar nicht nötig! Bot sich ihm doch jetzt eine weitere Gelegenheit, seine Weltgewandtheit zu demonstrieren!
Er nahm die unverkrampfte Haltung des Chaos-erprobten Weltmannes ein, breitete die Arme aus, ein Ivan Rebroff in Spendierlaune, und rief:
„Keine Angst, Babuschka, mein Spaltenprinzesschän, ‘Shit ‘äppens‘!“
Wieder blinzelte er Sonja zu.
Allerdings bemerkte er nicht, dass sein peinlichstes Geheimnis vor der Welt nunmehr gelüftet war – nämlich, dass seine Haare nicht echt waren! Durch die Nässe-Einwirkung und den gleichzeitigen Goldzangen-Zug, hatte sich die voluminöse Perücke gelöst und zwischen Haaren und Kopfhaut ein Zwischenraum gebildet; von vorne betrachtet bot sich der Eindruck eines behaarten gleichschenkeligen Dreiecks, mit der kahlen Kopfhaut als gewölbter Basis.
Nichtsahnend gab der Kritiker nun ein paar schlüpfrige Anekdoten aus seinem Leben zum Besten – dabei keine Gelegenheit auslassend, Sonja zu betätscheln.
Schließlich blickte der Russe selbstzufrieden in die Runde. Er war so sehr vom eigenen Charisma betört, dass ihm gar nicht auffiel, wie die Reaktion auf seine Geschichten deutlich unter den zu erwartenden Ovationen blieb. Die Wertschätzung der eigenen Person brodelte in der Ursuppe seines Seins wie ein unendlich ergiebiger 'Tafelspitz'
So registrierte er auch nicht die verschämten Blicke, die an seinem Haaransatz hafteten.
Der Hauptgang wurde serviert – es gab 'Boeuf Stroganoff'.
Der Kritiker sah nun den Moment gekommen, seine ganze Aufmerksamkeit der links neben ihm sitzenden Sonja zu widmen. Die ganze Zeit schon hatte er Seitenblicke auf den wohlrasierten Glanz ihrer aristokratischen Waden geworfen. Auch in das seidenmatte Rot der sorgfältig lackierten Fingernägel, die Krönung ihrer zartgliedrigen Hände, hätte er sich stundenlang mit ganzem Leib versenken können. Für Sonja war das so spürbar wie der Zugriff eines erotomanischen Gynäkologen.
„Ich liebä die österreichischä Musikk!“ begann er unverfänglich und schob sich genießerisch einen Bissen in den Mund. „Ich fühlä mich auch der leichten Musä verbundän. Meinä Lieblingsoparrettä stammt von Frranz Leharr - ‚Der Zaräwitsch‘! Kennen Sie den ‚Zaräwitsch‘? Wissen Sie, worrum es darrin gäht?“ (Anmerkung des Verfassers: Die Inhaltsangabe des 'Zarewitsch' finden sie im Anhang.)
Sonja antwortete mit professioneller Höflichkeit: „Ich habe zwar einmal als Kind mit meiner Mutter den 'Zarewitsch' gesehen, kann mich allerdings nicht mehr so genau erinnern.“
Sie hatte immer mehr Mühe einen Lachkrampf zu unterdrücken: die Spalte zwischen dem sich ablösenden Toupet und dem kahlen Schädel glich immer deutlicher dem offenen Schlund eines algenvertilgenden Riesenkarpfens.
„ ‚Zaräwitsch‘ – ein wunderschönäs Stick iber die Liebä zweiär Menschän zueinandärr.“
Er blickte Sonja tief in die Augen und fuhr mit sanfter Stimme fort:
„Der jungä Zaräwitsch ist alleinä, er fiehlt sich einsam, er ist tott-traurig, er sieht im Lebän keinän Sinn, weil er im goldenän Kchäffig sitzt... ‚Es stäht ein Soldatt am Wolgastrrand…‘ - so singt er. Jedäs Mal wenn ich in Oper sitzä, wird mirr warrm ums Chärz…“
„Ja?“ sagte Sonja,