Patrizia Lux

Love of Soul


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danke“, rief ich noch hinterher.

      „Für was?“

      „Dass du da warst.“

      „Ich war gerne da, das weißt du“, sagte er, und weg war er.

      ***

      Zum Glück war Anna ein paar Tage weg. Ich setzte mich aufs Bett und raufte mir die Haare. Ich musste verrückt sein. Was hatte ich getan? Denn wenn ich an Nadim und Anna dachte, dann wurde mir schon etwas mulmig. Aber Marc hatte recht, die dachten auch nicht an uns. Ich brauchte schließlich einen Grund, um meine Lage zu rechtfertigen, dann sah sie nicht ganz so schlimm aus. Vielleicht konnte ich ja Marc genauso lieben wie Nadim? Ich meine, die Möglichkeit konnte ja bestehen. Am Wochenende wollte ich zu ihm fahren, und dann würde ich es einfach auf mich zukommen lassen, ohne schlechtes Gewissen. Das schlug ich mir jetzt einfach aus dem Kopf, musste doch funktionieren. Ich sah auf den Nachttisch, wo Nadims Gedichte lagen. Sein Parfum stand auch da. Ich hatte es auf das Kopfkissen gesprüht, damit ich seinen Duft riechen und mit ihm einschlafen konnte, damit ich etwas hatte, das mich an ihn erinnerte. Na ja, ich hatte noch etwas, mein Kind in meinem Bauch. Als wir zusammen gewesen waren, dachte ich, ohne ihn nicht mehr leben zu können. Ich brauchte ihn wie die Luft zum Atmen. Und jetzt musste ich ohne ihn leben, vielleicht für ein Jahr, vielleicht für immer, denn ob er wirklich nach einem Jahr wieder zurückkam, stand in den Sternen, und nach dem letzten Telefongespräch glaubte ich nicht mehr daran. Ich hatte ihn verloren, für immer. Vielleicht war es auch eine Prüfung der Herzen gewesen, und wir hatten verloren? Vielleicht schwammen wir aber auch nur in einer Suppe voller Illusionen? Das mit Nadim war eine Kollision der Herzen. Zwei Kulturen prallten unschuldig aufeinander, er Perser, ich Deutsche, und doch waren wir uns so vertraut gewesen. Im Herzen sprachen wir dieselbe Sprache. Das Problem war nur, dass es zum Totalcrash kam und ich dabei schwer verletzt wurde. Ich hatte keine Chance, ihm auszuweichen, wir steuerten frontal mit der vollen Wucht unserer Herzen aufeinander zu und dachten nicht an die Folgen. Der Verstand hatte eine Auszeit genommen, weil die Gefühle darüberstanden. Die Liebe fragt nicht warum. Sie war einfach da, und man konnte ihr nicht entrinnen, sie war stärker als der Verstand. Ich hatte die Tiefe unserer Liebe unterschätzt, denn je tiefer man liebt, umso tiefer kann man verletzt werden. Und ich spürte, dass es verdammt tief war. Marc war irgendwie meine Versicherung. Er konnte zwar den Schaden nicht ganz beheben, aber zumindest konnte ich weiterleben. Er rettete mich vor dem absoluten Fall, fing mich kurz davor auf. Der Retter in der Not. Liebe bedeutet manchmal auch loslassen. Ok, ich ließ Nadim los, auch wenn mir dabei fast das Herz brach, aber ich musste es tun, schließlich hatte er mir schon zum zweiten Mal das Herz gebrochen. Ich kam mir schon langsam vor wie Maggy aus den Dornenvögeln, Omas Lieblingsfilm, den ich mit ihr früher oft ansehen musste, weil sie ihn als Video hatte. Maggy machte die Leidenschaft mit Pater Ralf ein ganzes Leben mit. Sie hatte immer Verständnis und verzieh immer. Gott schickte ihnen immer wieder Prüfungen, bis zum Schluss. Nadim war zwar nicht Pater Ralf, aber doch außergewöhnlich und fast verboten, wenn es nach den Moralvorstellungen ging. Aber Liebe lässt sich nicht verbieten, sie hat ihre eigenen Regeln und Gesetze. Gott schickte uns auch lauter Prüfungen, aber ich wollte nicht mein ganzes Leben Leidenschaft. Ich wollte keine Prüfung mehr, und ich wollte keine Leidenschaft mehr. Ich beendete hiermit meine Leidenschaft. Schluss damit, für immer. Die musste doch verschwinden. Ich wollte sie nicht mehr haben. Ich machte das Fenster auf und sprühte das ganze Parfum in die Nacht. Das T-Shirt, das ich von ihm noch hatte, zerschnitt ich. Die Briefe legte ich in ein Buch, wegwerfen konnte ich sie nicht. Ich schmiss die ganzen verrotzten Taschentücher weg, die noch überall herumlagen. Mich wunderte, dass die Wohnung vor lauter Tränen nicht unter Wasser stand. Ich schrie laut ins Kissen, so laut es ging. Ich ließ den ganzen Schmerz heraus, und danach ging es mir wirklich besser. Danach nahm ich noch ein Kissen und schlug mit Annas Badmintonschläger darauf ein. Ich wollte die Leidenschaft erschlagen. Sie rührte sich hoffentlich nicht mehr. Es war reine Notwehr und Selbstschutz.

      ***

      Ich hatte drei Tage Zeit bis zum Wochenende, wo ich bei Marc sein wollte. Ich packte meine Sachen, fuhr in Omas Haus, das ja jetzt eigentlich mir gehörte, wo ich aber noch nicht leben konnte, weil ich mich zu einsam fühlte. Aber jetzt, für die drei Tage, war es genau richtig, um Abstand zu gewinnen und über mein Leben nachzudenken, darüber, wie alles überhaupt so weit kommen konnte. Ich kaufte mir noch was zu essen ein und eine CD von Rihanna, etwas, was mich nicht an Nadim erinnerte.

      Ich fing an, meine Vergangenheit auszugraben und die unvergessenen Augenblicke zu ordnen. Ich wurde schon als Neunjährige mit dem Tod konfrontiert, als mein kleiner Bruder mit vier Jahren an Leukämie starb. Wir konnten seinen Tod nicht aufhalten. Diese Sicherheit und Geborgenheit, die ich als Kind verspürt hatte, ging mit ihm verloren. Auf einmal war nichts mehr sicher, außer der Tod. Mein Dasein selbst wurde zu einer Gratwanderung zwischen Leben und Tod. Meine Mutter wurde zunehmend kälter. Sie befand sich monatelang in einem Schockzustand, zu dem ich keinen Zugang hatte. Mein Vater verdrängte es durch seine Abwesenheit. Die Einzige, die mich auffing, war Oma. Mein Wachsengel hatte meine Bitte erhört. Ich durfte zu ihr, weg von all dem Dilemma, das meine kindliche Welt verdunkelte. Bei Oma konnte ich wieder Geborgenheit finden und fast alles vergessen. Nach einem Jahr sollte ich wieder nach Hause zurück, weil ich in eine andere Schule musste. Meine Eltern zogen in ein anderes Viertel, das viel zu weit weg von Oma war. Zu Hause hatte ich die Hölle auf Erden. Mein Vater trank immer mehr, und meine Mutter ließ ihre Unzufriedenheit an mir aus. Erst in den großen Sommerferien durfte ich wieder zu Oma. Am letzten Schultag stand Oma auf der anderen Straßenseite, und als ich sie sah, ging endlich die Sonne wieder auf. Voller Freude wollte ich zu ihr hinüberlaufen, und dabei erfasste mich ein Auto, das um die Kurve kam. Es war zum Glück nicht schnell dran gewesen. Ich stürzte auf die Straße, und als ich die Augen aufmachte, sah ich Omas entsetztes Gesicht, ein paar andere entsetzte Gesichter und ein seltsames Licht, das mich so faszinierte, dass ich noch eine Weile länger liegen geblieben wäre, wenn der Schmerz meines Beines nicht stärker gewesen wäre. Ich stand mit dem anderen Bein auf und hielt mich an Oma fest. Die anderen Leute wollten einen Arzt holen, aber ich wollte nur nach Hause. Meine Oma meinte, dass ich einen Schutzengel gehabt hätte. Mein Bein war zum Glück nur geprellt. Ich war wirklich froh, dass ich noch lebte, und es gab wieder Augenblicke, in denen ich wieder glücklich war. Ich wusste aber auch, dass meine Kindheit zu Ende war, denn ich kannte auch die Schattenseite des Lebens, die zu meinem ständigen Begleiter wurde. Gott war für mich gut und böse, er war Leben und Tod, er war gütig und grausam, Licht und Schatten, Liebe und Hass, Belohnung und Bestrafung. Er war alles in einem. Er war das Schicksal und die Prüfung. Wir konnten es leben, mit Glaube, Hoffnung, Kraft und Liebe oder mit Hader, Wut, Zweifel, Hass und Neid, denn alles war in uns. Das war unser freier Wille, unsere Entscheidung. Wir konnten das Beste oder Schlechteste daraus machen. Wir konnten das Schicksal aber auch durch unsere Taten, Gedanken und Worte herausfordern. Viele hofften oft auf die Gnade Gottes, und ich fand, dass er oft gnadenlos war, auch wenn er Gnade erweisen konnte. Er war unser Ebenbild oder umgekehrt, nur in der höchsten Instanz. Er war der große Gott, der unser Leben bestimmte, und wir die kleinen Götter, die mitbestimmen konnten. Gott wirkte durch uns. Wenn man betete, konnte man sich seine Liebe zugänglich machen, aber manchmal nutzte auch das Beten nichts, weil er anders entschieden hatte. Ich dachte immer, dass das Gute siegen müsste, dass dies Gerechtigkeit war, bis Nico, mein Bruder, starb. Er war gut, jung und unschuldig. Wieso konnte stattdessen nicht irgendein ein alter, böser Mensch sterben, ein Mensch, der es verdient hatte? Gott war nicht gerecht, er konnte ziemlich hart sein. Meine Oma sagte immer, dass alles irgendwie einen Sinn hätte. Ich fand, dass das Leben ein unsinniges Geschenk war, aus dem man vielleicht einen Sinn machen konnte. Mancher hatte mehr, mancher weniger Zeit, aber der Sinn oder Unsinn lag nicht in der Zeit, sondern in dem, was wir daraus schöpften, lernten oder hinterließen. Die Zeit war relativ. Nur der Augenblick zählte, er entschied über Glück oder Unglück. Wenn ich das Glück fühlte, dann war es, wie wenn der Himmel die Erde berührte.

      In den Ferien bei Oma war ich glücklich. Wenn ich dort im Mohnblumenfeld lag und vor mich hin träumte, war ich glücklich. Wenn ich barfuß bei Regen in der Wiese laufen konnte, war ich glücklich. Wenn Oma von Opa erzählte, der auch viel zu früh gestorben war, oder wenn Omas Haus nach Apfelstrudel roch und damit sogar eine schlechte Schulnote vertreiben konnte oder wenn mein Hund Sammy, den ich von Oma bekommen hatte, über die Felder lief, dann war ich glücklich. Wenn ich Nadim sehen