Giovanna Lombardo

Galan


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ich stundenlang sitzen und lesen, obwohl ich nur wenige Bücher besaß, denn die waren bei Bauernfamilien nicht üblich. Das Lesen war mehr etwas für Städter und die Reichen, die sich ein Studium auf einer der Universitäten leisten konnten.

      Mein Großvater, ein Gelehrter, unterrichtete als Lehrer die reichen Kinder, trotzdem war es ihm wichtig, dass seine Familie das Lesen und Schreiben beherrschte. So brachte er mir regelmäßig Bücher mit. Leider starb er, als ich dreizehn Jahre alt war. Seine alten Bücher sahen schon sehr abgenutzt aus, aber das war mir egal, denn ich kannte sie in- und auswendig. Durch das Lesen gelangte ich in andere Welten und ich ließ meiner Fantasie freien Lauf.

      Als hätte ich nicht schon genug Träume. Ich dachte an den gestrigen Traum. Er war so echt. Alle meine Träume fühlten sich so echt an.

      Jeremia! Seit zwei Monaten träumte ich von einem Krieger namens Jeremia.

      Diese Träumereien waren seltsam. Nichts in meinen Träumen kam mir bekannt vor, weder die Städte, noch die Menschen, die darin vorkamen.

      Ich war in einer Stadt namens Castar, von der ich fast jede Nacht träumte. Durch die Gassen laufend schaute ich mir alles an. Es gab dort viele Häuser, Tavernen und einen Fluss, der die Bewohner mit frischem Wasser versorgte. Ich sah die Berge, die hoch über der Stadt den Himmel berührten. Es gab eine riesige Kathedrale, die im Zentrum der Stadt alle Häuser überragte. Die Kathedrale war atemberaubend schön. Die Mosaiken der Fenster funkelten im Sonnenlicht in prächtigen Farben. Am Fuße der Kathedrale befand sich der Marktplatz mit den unterschiedlichsten Ständen. An einem Obst- und Gemüsestand beäugte ich eine Frucht. Sie war gelb und mit Stacheln bedeckt und hatte die Größe einer Tomate. So eine Frucht hatte ich noch nie zuvor gesehen. An anderen Ständen bewunderte ich getöpferte Teller und Krüge mit kunstvollen Verzierungen.

      Ich erkundete die Stadt, bummelte durch die Gassen, betrachtete die Bewohner. Sie sahen uns Kalanten ziemlich ähnlich, bis auf ein Detail, das ich erst später bemerkte. Da die meisten Erwachsenen Kopfbedeckungen trugen - die Frauen bunte Kopftücher und die Männer Fellkappen, die an den Seiten die Ohren bedeckten –, erkannte ich es erst auf den zweiten Blick. Die Ohren der Cavalaner liefen oben spitz zusammen.

      Das war aber der einzige Unterschied, denn seltsamerweise sprachen sie die gleiche Sprache wie wir Kalanten, vielleicht mit einem kleinen Akzent.

      Einmal beobachtete ich Kinder, die mit kleinen, agilen Hunden spielten, die auffällig, abstehende spitze Ohren besaßen. Ihr Anblick erheiterte mich. Unwillkürlich dachte ich an die Behauptung, Hund und Herrchen sehen sich in der Regel ähnlich.

      Vor ein paar Wochen erschien mir zum ersten Mal, während meines Rundganges durch die Stadt, in einer Seitengasse, Jeremia. Natürlich kannte ich da damals seinen Namen noch nicht.

      Drei Krieger verließen gerade ein Wirtshaus. Es war schon dunkel und die Laternen erhellten nur wenig die Gasse. Ich hörte sie von weitem, denn sie unterhielten sich lautstark über den weiteren Verlauf des Abends, als ich mich ihnen näherte.

      „Lasst uns noch Manolos Taverne besuchen!“, schlug einer der Männer vor. Er war der Größte von den Dreien und seine Stimme war so tief, dass ich ihn erst nicht verstand. „Ich möchte mich heute betrinken und noch ein paar Weibsbilder in die Arme schließen, bevor wir zurück müssen.“

      Seine zwei Begleiter lachten. „Ich denke, du bist betrunken genug“, meinte ein anderer.

      „Du weißt, dass sich bald etwas ändern wird? Die Bewohner unserer Stadt erkennen noch nicht das sich nähernde Unheil, und morgen könnten wir schon in den Krieg ziehen“, behauptete der Erste.

      „Gerrit, hör auf, davon zu sprechen! Du weißt doch gar nicht, ob es überhaupt passieren wird.“ Das war das erste Mal, dass ich Jeremia sprechen hörte, und ich war angenehm überrascht, wie sympathisch seine Stimme klang. So schön, begann ich schwärmen.

      „Jeremia, du weißt ganz genau, dass es bald passieren wird, vielleicht sogar schon morgen. Dadurch, dass du der Sohn des Herrschers bist, erfährst du es mit als Erster. Du kennst die Gefahr“, fauchte Gerrit.

      Jeremia antwortete mit sanfter Stimme, denn er spürte, dass sein Freund ängstlich klang. „Lass uns zu Manolo gehen und noch einen trinken. Wir werden die ganze Nacht feiern, als wäre es die letzte!“

      „So soll es sein“, stimmten alle im Chor zu.

      Sie machten sich in die entgegengesetzte Richtung auf den Weg. Ich folgte ihnen mit schnellen Schritten, denn ich war neugierig geworden und wollte wissen, von welcher Gefahr und welchem Unheil sie sprachen. Ich fragte mich immer wieder, wie ich so etwas Dummes träumen konnte.

      Plötzlich hielt der Krieger mit dem Namen Jeremia inne. „Spürt ihr das?“, fragte er seine Kameraden.

      „Was sollen wir spüren?“, fragte der Größere.

      „Ich habe das Gefühl, wir werden beobachtet“, antwortete der Krieger namens Jeremia und schaute sich um.

      „Du hast zu tief ins Glas geschaut“, meinte Gerrit und klopfte Jeremia belustigt auf die Schulter.

      Trotzdem drehte sich Jeremia immer wieder nach hinten um, wo ich stand. Er hätte mich nicht sehen können, denn keiner dieser Menschen in meinen Träumen konnte mich sehen. Das ist mir direkt in meinem ersten Traum aufgefallen, als ich in der Stadt umherirrte und versuchte, die Bewohner auf mich aufmerksam zu machen, jedoch nahm keiner von mir Notiz. Ich schrie sie an, kam ihnen ganz nah und konnte sogar durch sie hindurchgehen. Sie bemerkten weder etwas noch spürten sie mich.

      Dieser Jeremia hatte aber etwas bemerkt. Ich blickte mich um, doch ich sah niemand hinter mir in dieser kleinen Gasse. Wie konnte er meine Anwesenheit spüren? Er musste sich irren. Leider konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, dafür spendeten die Laternen zu wenig Licht.

      Die Krieger schlenderten weiter und ich folgte. Ich wollte seine Mimik sehen. Ich wollte wissen, warum er mich fühlen konnte. Oder war es nur Einbildung seinerseits gewesen? Sie redeten und lachten, zwischendurch blickte Jeremia immer wieder zurück.

      Dann blieben sie vor einer Taverne stehen. Einer von ihnen öffnete die Tür und sie traten ein. Ich blieb draußen und lugte durchs Fenster ins Innere. Im Schankraum hielten sich viele Männer auf, die gequetscht an kleinen, runden Holztischen saßen. Einige von ihnen unterhielten sich am Tresen mit leicht bekleideten Frauen. Dahinter stand ein dicker, glatzköpfiger Mann, der die Getränke ausschenkte. Der Wirt, mutmaßte ich. Jeremia und seine Freunde setzten sich an einem freien Tisch in der hintersten Ecke.

      Während ich dastand und sie beobachtete, ging nochmals die Tür auf und einige Betrunkene kamen heraus, die sich schwankend den Weg nach Hause bahnten, sowie ein verliebtes Pärchen, das in einer dunklen Gasse verschwand.

      „Isma? Liebes“, rief meine Mutter aus der Küche, „Ich brauche deine Hilfe.“

      Unsanft wurde ich aus meinen Erinnerungen gerissen.

      Wie ich es hasste, wenn sie mich Isma nannte. Schon als kleines Mädchen gaben mir meine Eltern und Brüder diesen Kosenamen, den ich nicht mehr loswurde.

      „Ich komme sofort, Mutter!“ Ich versteckte mein Tagebuch unter meinen Kopfkissen und rannte in die Küche. Ich fühlte mich noch ganz benommen, weil meine Gedanken noch in der Gasse bei der Unterhaltung der Männer hingen.

      Krieg. Unheil. Welch schreckliche Worte!

      „Kleine, reich mir doch bitte mal die Kartoffeln!“, spottete mein ältester Bruder Brasne schelmisch. Er lachte und streckte mir die Zunge raus. Er wusste, dass ich es nicht mochte, wenn man mich „Kleine“ nannte.

      Als jüngste Schwester von sechs älteren Brüdern war es für mich nicht leicht, mich durchzusetzen. Bevor ich Brasne die Kartoffeln reichte, bekam er von mir einen sanften Tritt gegen sein Schienbein. Das war die Strafe für seine Hänseleien. Trotzdem mochte ich Brasne am liebsten, denn er schaffte es immer, mich zum Lachen zu bringen. Ich schenkte ihm das süßeste Lächeln, das ich zustande brachte. Er zwinkerte zurück.

      Ein knappes Jahr nach Brasne wurde mein Bruder Aaron geboren.