Giovanna Lombardo

Galan


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ihn konnte ich mich wenden, wenn ich Fragen hatte.

      Zwei Jahre nach Aaron kamen die Zwillinge zur Welt. Theran und Talon. Meine Mutter hatte es mit den Zweien nicht immer leicht gehabt. Schon als Kinder heckten sie Streiche aus und waren kaum zu bändigen. Als sie älter wurden, kamen sie endlich zur Ruhe, waren stets die Begleiter meines Vaters und halfen ihm, unser Land zu bewirtschaften.

      Danach folgte Jazem. Er war der Schönling in der Familie. Die Mädchen in den Dörfern liefen ihm reihenweise hinterher, wenn er für meinen Vater die geschäftlichen Angelegenheiten in den Orten erledigte. Nicht nur in Salin, sondern auch anderswo. Außer Brasne hatten meine anderen Brüder noch nicht die Richtige gefunden.

      Der Zweitjüngste war Casper. Casper war das Sorgenkind meiner Eltern. Er lebte sehr zurückgezogen und selten kam ein Wort über seine Lippen. Er war etwas schmächtig und für die Landarbeit nicht geeignet. In der Regel half er meiner Mutter im Haushalt.

      Meine Mutter Kella hatte die Hoffnung schon aufgegeben, jemals ein Mädchen zu gebären. Dann kam ich!

      Sofort nach meiner Geburt war ich für alle der kleine Sonnenschein, die „kleine Isma“. Jeder von ihnen achtete auf mich, damit mir auch ja nichts passieren konnte. So wuchs ich sorgsam behütet auf. Als Kind war es sehr angenehm, den Schutz meiner Brüder zu spüren, doch je älter ich wurde, desto selbstständiger wollte ich sein. Dies gestaltete sich allerdings sehr schwierig, denn dabei standen mir meine Brüder im Weg. Wenn ich im Dorf spazieren ging, schaute mich keiner der Jungen an, geschweige denn, dass sie mich ansprachen. Sie hatten Angst vor meinen Brüdern und ignorierten mich.

      In meinen geschätzten Büchern las ich Geschichten über Liebende, Jünglinge, die ihren Mädchen den Hof machten, sie umwarben und ihnen die ewige Liebe schworen.

      Ob ich das jemals auch erleben durfte?

      Vom Aussehen waren wir uns alle sehr ähnlich. Wir hatten blondes, lockiges Haar von unserer Mutter geerbt, wobei das Haar meiner Mutter bereits ergraut war, wie das meines Vaters Keleb. Von meinem Vater erhielten wir die grünen Augen. Jazem war der Einzige, der himmelblaue Augen hatte.

      Mein schulterlanges Haar trug ich immer zu einem Zopf geflochten. Meine Haut war sehr hell, genau wie die meiner Brüder. Nur bei Theran und Talon war sie durch die Landarbeit gebräunt. Zudem war ihr Körperbau sehr kräftig. Sie trugen ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden und machten den Eindruck von Wilderern. Gutmütig, wie sie waren, würden sie ihr letztes Hemd weggeben.

      Keiner meiner Brüder wollte unser Elternhaus verlassen, wobei meine Eltern oft genug erklärt hatten, dass es langsam Zeit sei, dass sie eigene Familien gründen sollten. Brasne war der Einzige, der schon länger mit einem Mädchen aus dem Dorf ging. Calena, wie ich neunzehn Jahre alt, war ein hübsches Mädchen mit langen braunen Haaren und großen, mandelförmigen braunen Augen. Ihre schüchterne und bescheidene Art hatte es Brasne angetan. Beide schienen sehr verliebt zu sein. Sie strahlten mit der Sonne um die Wette, wenn sie zusammen waren. Ich mochte Calena, sie war mir eine gute Freundin geworden, und wir führten oft lange Gespräche.

      „Isma, wo bist du schon wieder mit deinen Gedanken?“, fragte mein Vater.

      „In ihrer Fantasiewelt, wie so oft.“ Theran grinste.

      Ich achtete nicht auf seine Bemerkung. Sie ärgerten mich nicht mehr. Ich war es gewohnt. „Brasne, wann willst du endlich bei Calenas Vater um ihre Hand anhalten?“, wollte ich wissen, dabei hatte ich ein gehässiges Lächeln auf dem Gesicht.

      „Wir sind nicht sicher, ob jetzt der richtige Zeitpunkt ist. Die Alte Frau aus dem Dorf hat prophezeit, dass uns ein baldiges Unheil heimsucht.“

      Da war dieses Wort wieder. Unheil! Ich erschrak und glaubte erst, mich verhört zu haben. „Wann hat sie das gesagt, und was meint sie damit?“

      Die Alte Frau aus dem Dorf, jeder nannte und betitelte sie so, war eine Seherin, die behauptete, die Zukunft sehen zu können, und die Prophezeiungen aussprach, die sich oftmals bewahrheiteten. Wieso sie das Schicksal so genau voraussagen konnte, wusste ich nicht. Eine solche Gabe, wie sie sie besaß, wurde in Familien von Mutter zu Tochter vererbt. Unter manchen Familiennamen gab es etliche Seherinnen, besonders hier in Kalander. Die Kalanten hatten in allen Städten und Dörfern Weissagerinnen, die dank ihrer Fähigkeiten ihren Lebensunterhalt verdienten. Sie kamen mir etwas unheimlich vor, obwohl sie eigentlich ein unauffälliges Äußeres hatten und auch ein ganz normales, unscheinbares Leben führten. Warum blieben sie so bescheiden, wenn sie doch die Zukunft kannten und ihr eigenes Schicksal verbessern hätten können?

      „Gestern! Calena wollte, dass die Alte Frau ihr sagen sollte, was uns unsere Zukunft bringt und sie weissagte, dass uns Unheil und Krieg bevorstehen wird. Dass fremde Krieger unser Territorium durchqueren werden und unsere Hilfe benötigen. Denn das Böse wird kommen, und es wird Zerstörung und Tod mitbringen.“

      Mich überraschte, wie nüchtern Brasne uns dies berichtete. Ein Schauder lief mir den Rücken runter. Was für eine grauenvolle Wahrsagung. Prompt kamen mir meine Träume wieder ins Bewusstsein. Seit Wochen ging es bei Jeremia und seinem Volk um nichts anderes, und nun musste ich auch hier in meinem Zuhause davon hören.

      „Wann wolltest du mir das sagen?“ Mein Vater schaute leicht verärgert auf Brasne.

      „Ach, ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll, Vater. Ich war auch nicht erfreut darüber, dass Calena eine Seherin befragt hat, was unsere Zukunft bringt. Das wissen nur die Götter und nur sie kennen unser Schicksal.“

      „Hört auf!“, befahl meine Mutter. „Ich will nichts mehr davon hören. Isma, hilf mir den Tisch abzuräumen! Ihr Männer geht in den Stall und kümmert euch um die Tiere!“

      Schweigend standen alle auf. Nachdem ich meiner Mutter in der Küche geholfen hatte, lief ich auf mein Zimmer und warf mich aufs Bett, um weiter zu grübeln.

      Kapitel 2

      Wie sollte ich das alles deuten, was gerade um mich herum geschah? Die Seherin sprach von drohendem Unheil. Wollte sie nicht oder konnte sie sich nicht präzise ausdrücken?

      Ich lag auf meinem Bett, mein Tagebuch zwischen meinen Händen aufgeschlagen.

      War ich auch eine Seherin?

      Nein, das konnte nicht sein, denn in meiner Familie gab es diese Gabe nicht. Die Seherinnen träumten nicht, sondern hatten Visionen. Ich jedoch träumte.

      Jede Nacht - schon seit Wochen - erlebte ich eine andere Welt, die so real erschien. Es waren doch nur Träume. Ich sah das Leben von jemand anderem, ich sah Jeremias Leben. Ich war eine Beobachterin. Nie konnte ich an dem Geschehen in meinem Träumen teilnehmen. Kaum schlief ich ein, traf ich auf Jeremia. War er nur eine wünschenswerte Fantasievorstellung, die entstand, weil ich mir die Liebe eines Mannes wünschte?

      Ich blätterte in meinem Tagebuch, um die Stelle zu finden, wo ich mir die zweite Begegnung mit Jeremia notiert hatte. Ich las und las bis ich bemerkte, wie schwer meine Lider wurden. Der Schlaf legte sich über mich und schon fing ich an, zu träumen. Nur dieses Mal träumte ich nicht von der Stadt Castar.

       Ich fand mich in einem geräumigen Saal wieder. So einen hohen Raum hatte ich noch nie zuvor gesehen. An den großen Fenstern fielen Vorhänge aus schwerem, rubinrotem Samt bis zum Boden. An den Wänden hingen Wandleuchter, die den Raum in ein warmes Kerzenlicht tauchten. Über mir an der Decke entdeckte ich einen riesigen Kronleuchter mit unzähligen brennenden Kerzen und glitzernden, tropfenförmigen Glaskristallen, in denen sich das Kerzenlicht spiegelte. Die beiden Saaltüren waren beinahe so hoch wie Stadttore. Sie bestanden aus purem Gold und waren mit feinen Ornamenten verziert. Über jeder Tür prangte ich ein auffälliges Wappen mit einem goldenen Adler auf rubinrotem Grund. Der Kerzenschein spiegelte sich in den Türen wider.

       Der Fußboden bestand aus weißem Marmor. Ich fühlte mich wie in einer Kathedrale. Dies war sicherlich Teil eines der prunkvollsten Herrschaftspaläste von Galan.

       Mitten im Raum stand ein großer, rechteckiger Tisch mit zwanzig