Giovanna Lombardo

Galan


Скачать книгу

darauf? Wir kannten uns nicht einmal. Ich schob meine Sehnsüchte zur Seite und wollte mich über Calena und Brasnes Verlobung freuen.

      „Lasst uns feiern“, verkündete mein Vater strahlend. „Hol den besten Wein aus dem Keller.“, bat er Theran. „Isma, bringe uns die Gläser aus der Küche, wir wollen anstoßen!“

      Kurze Zeit später hockten wir prostend vor dem Kamin, lachten und sprachen über die Hochzeit, dabei vergaßen wir die Zeit, bis Mutter aufschreckte und in die Küche hastete. „Jetzt habe ich vor lauter Aufregung das Essen vergessen. Isma, komm schnell und hilf mir!“, rief sie aus der Küche.

      Ich erhob mich, eilte zu ihr, half ihr, den Braten zu retten und deckte den Tisch. Nach einer Weile saßen alle gemeinsam beim Festmahl. Ich schaute in die Runde und sah lauter glückliche Gesichter. Wir hatten einen großen langen Holztisch in der Mitte der Küche stehen, und jeder hatte seinen Stammplatz. Ich neben meiner Mutter, links von mir Casper. Mein Vater saß natürlich am Kopfende, rechts von ihm Brasne und mir gegenüber heute Calena, wo eigentlich Aaron seinen Platz hatte. Sie hielten Händchen und flüsterten sich Liebkosungen ins Ohr, wobei Calena leicht errötete. Sie waren so glücklich, dass es mir schon fast das Herz brach. Warum konnte es nicht immer so sein? Bald, recht bald würde sich alles ändern, schneller als wir es für möglich hielten. Ein schreckliches Gefühl überkam mich und eine Stimme in meinem Kopf wiederholte diese qualvollen Worte: Unheil, Krieg.

      Nach dem Essen verabschiedete sich Calena von uns und Brasne begleitete sie nach Hause.

      Ich wünschte allen eine gute Nacht und zog mich in mein Zimmer zurück. Als einziges Mädchen unter sechs Brüdern hatte ich ein eigenes Zimmer – nur für mich ganz alleine. Meine Mutter hatte vor einigen Jahren darauf bestanden.

      Sie fand es nicht schön, wo ich doch zu einer Frau herangereift war, weiterhin ein Zimmer mit einem meiner Brüder teilen zu müssen, und da wir ein ziemlich großes Haus besaßen, konnte Vater das für mich umsetzen. Ich war Mutter dafür mehr als dankbar. Mein Zimmer hatte ich mir nach meinem Geschmack eingerichtet. Immer stand eine Vase mit frischen Blumen auf dem großen Tisch, es hingen mit Blumen bestickte Vorhänge am Fenster und an den Wänden schön gemalte Landschaftsbilder von Casper, der sich als begabter Maler entpuppt hatte und mir mehrere seiner Gemälde schenkte. Wegen seiner Leidenschaft für die Natur, die ich mit ihm teilte, malte er gerne die Wälder und Blumenfelder aus unserer Region.

      Den restlichen Abend wollte ich nutzen, um mir Gedanken über das Buch zu machen, das ich im Garten gelesen hatte. So wusch ich mich schnell, zog mein weißes, knielanges Nachthemd an und setzte mich an meinen Schreibtisch. Draußen stand die schmale Mondsichel bereits hoch am Himmel. Bald würden wir Neumond haben.

      Ich schlug mein Tagebuch auf und begann zu schreiben. Nicht nur die Verlobung von Brasne und Calena ging mir durch den Kopf, sondern in erster Linie das Gespräch mit Aaron über Seelenwanderer. Auch die Geschichten, die ich in diesem alten Buch darüber fand, schrieb ich auf.

      Die Seiten des Buches waren bereits vergilbt und manche Passagen schlecht lesbar. Der Autor, ein Gelehrter, hatte es vor Hunderten von Jahren geschrieben und vervielfältigen lassen. Zu seinen Lebzeiten gab es noch viele Seelenwanderer in den Territorien. Zu ihnen zählte auch seine Ehefrau, die ihre Gabe dazu nutzte, anderen Menschen zu helfen. Ihre Seele verließ ihren Körper und gelangte an Orte, an denen sich bestimmte Menschen aufhielten, an die die Seelenwanderin zuvor gedacht hatte. So konnte sie Informationen über weit entfernt wohnende Verwandte erfahren oder sogar vermisste Personen ausfindig machen. Leider blieben die guten Taten nicht unbemerkt. Schnell sprach es sich herum, wer ein Seelenwanderer war und wo er wohnte. Erfuhr ein Herrscher von einem Seelenwanderer, so wurde dieser zwangsverpflichtet und musste dem Regenten zu Diensten sein. Den entdeckten Wanderern blieb keine andere Wahl. Sie wurden genötigt, ihr eigenes Volk auszuspionieren und zu verraten. Ob unterschlagene Steuergelder, Schwarzarbeit, verborgene Schätze oder kriminelle Missetaten, die Aufdeckungsquote lag zeitweise bei hundert Prozent. Kein Wunder also, dass beim Volk der Unmut wuchs und sich der Hass auf die Seelenwanderer ausbreitete. Es begann eine Zeit, in der die Wanderer von ihren eigenen Gefolgsleuten verfolgt und ermordet wurden.

      Die Frau des Gelehrten versuchte sich, vor dem Mob zu verstecken, doch sie wurde entdeckt und mit Gewalt weggeschleift. Auch der Versuch des Gelehrten, seine Frau vor der Meute zu retten, schlug fehl. Er wurde gewaltsam niedergeschlagen. Erst nach langer, komplizierter Suche konnte er, mithilfe eines letzten Seelenwanderers ihre Leiche auf dem Grund eines Sees ausmachen. Der Schmerz und die Ohnmacht, die an ihm nagte, bewegte ihn dazu, dieses Buch zu schreiben und zu verbreiten, damit sich die nächsten Generationen daran erinnern sollten, dass den Seelenwanderern schweres Unrecht angetan wurde und dass ihre Fähigkeiten kein Teufelswerk seien. Er beschrieb ausführlich, wie die Seelenwanderung funktionierte und berichtete von den guten Taten und den Vorteilen, warb um mehr Verständnis.

      Die beschriebene Fähigkeit der Seelenwanderer kam mir sehr bekannt vor. Ich verstand jedoch nicht, warum es Jeremia war, den ich besuchte, da ich ihn nie zuvor gesehen hatte. Wie konnte ich herausfinden, ob ich wirklich eine Seelenwanderin bin? Ich schloss mein Tagebuch und schob es unter mein Kopfkissen. Dann löschte ich das Licht und legte mich in mein Bett. Ich lag auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit.

      Es gab nur eine Möglichkeit herauszufinden, ob ich eine Seelenwanderin war oder nicht. Ich musste mir eine Person vorstellen, die ich sehen wollte. Wenn ich es schaffen konnte, zu ihr zu gelangen, würde ich diese Gabe besitzen. Aber an wen sollte ich bloß denken?

      Lange überlegte ich, bis mir eine Person einfiel, die ich persönlich nicht kannte, die ich aber gerne sehen wollte.

      Narissa.

      Ich wollte sie sehen. Wie sah sie aus? Leider konnte ich nicht einschlafen, ich war zu aufgeregt. Meine Gedanken kehrten immer wieder zu Jeremia zurück. Ich stellte mir sein Gesicht vor. Wie sehr wünschte ich mir, dass seine Hände mich berührten und seine weichen Lippen mich küssten. Wie konnte das sein? Warum fühlte ich mich so von ihm angezogen? Mir war bewusst, dass er mich niemals würde haben wollen. Ich war nichts Besonderes, und ich fand mich auch nicht schön.

      Langsam wurden meine Lider schwer. Ich musste aufhören, an Jeremia zu denken.

      Narissa, Narissa, an nichts anderes durfte ich jetzt denken!

      Und dann schlief ich ein.

       Überrascht fand ich mich in einem riesigen Ballsaal wieder. Damen mit den schönsten und raffiniertesten Abendkleidern und Herren in maßgeschneiderten Smokings tummelten sich um mich herum. Vor einer großen Fensterfront, durch die das Mondlicht fiel, spielte eine Gruppe von Musikern auf ihren Instrumenten. Musik, Gelächter und Wortfetzen drangen an meine Ohren. Einige Paare schwangen ihr Tanzbein auf dem Parkett und andere Leute standen in Gruppen beisammen und plauderten angeregt. Was für ein herrliches Fest.

       Ich fragte mich, warum sie so ausgelassen feierten. Wussten sie denn nicht, dass es bald Krieg geben würde?

       Vollkommen irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass dieser Traum so gar nicht meinen üblichen Träumen ähnelte, welche ich in den vorangegangenen Nächten hatte.

       Langsam schritt ich den Saal ab und beobachtete die feine Gesellschaft. Dann meinte ich den Herrscher dieses Territoriums ausgemacht zu haben, denn er saß erhobenen Hauptes auf einem Thron im Zentrum des Geschehens. Zu seiner Linken, wie auch zu seiner Rechten sah ich zwei Frauen sitzen. Die ältere Frau zur Rechten musste seine Gemahlin sein, die andere und jüngere war wahrscheinlich seine Tochter, denn beide Damen hoben sich mit ihren königlich anmutenden Festgewändern und den wertvollen Schmuckstücken, die sie trugen, von der Gesellschaft ab. Die Jüngere trug ein goldenes, mit unzähligen echten Perlen besticktes Kleid, das ein Vermögen wert sein musste. Es war einzigartig, sogar prachtvoller und glänzender als das der Herrscherin.

       Ich stellte mir mich in diesem Kleid vor, wie ich den Stall ausmistete und die Schweine fütterte. Wie absurd. Bei der Vorstellung musste ich grinsen. Um etwas von der Unterhaltung der edlen Damen mitzubekommen, näherte ich mich ihnen zaghaft.

       „Du hast es mir versprochen“, sagte die junge Frau in dem goldenen