Sie wechselten kaum ein Wort in den folgenden Minuten. Am Hotel angekommen, träumte Steffen kurz, seine Begleiterin würde sich zu einem längeren Gespräch auf seinem Zimmer entscheiden, doch er wagte nicht, sie zu fragen. "Oh - dort wartet man schon auf mich", sagte sie und deutete durch die Glastür zum kleinen Frühstücksraum des Hotels auf einen Mann der einen langen schwarzen Lodenmantel und großem schwarzen Indiana Jones Hut trug". Steffen erkannte den Mann sofort, obwohl er ihm den Rücken zukehrte. "Sieh mal einer an", dachte er, wandte sich dann wieder der schönen Riza zu, die ihm nochmals überschwänglich dankte und ein "God bless you" zum Abschied wünschte. Sie verschwand durch die Glastür, und Steffen wendete sich ab, um von dem Mann nicht erkannt zu werden.
Professor Berger war einer der renommiertesten Spezialisten für Krebserkrankungen in Deutschland. Er war als Individualist und Querdenker bekannt und auch in seinem äußeren Bild hob er sich von der Masse ab. Gut aussehend mit imposantem Schnauzbart und immer bestens gekleidet, imponierte er allein durch seine Erscheinung, wenn er am Rednerpult stand. Als Steffen ihn das erste Mal traf, war er überrascht, als Berger das Rednerpult verließ. Er war sehr klein. Zu klein, um wirklich männlich zu wirken. Aber trotz seiner nicht zum restlichen Äußeren passenden Körpergröße, war seine Wirkung im Raum überragend. Berger war ein Machtmensch, aber ein sympathischer. Er war hoch intelligent und hatte zweifellos Großes in seinem Fach geleistet, aber er war auch jemand, der das Leben, das Essen, einen guten Wein oder Champagner und nicht zuletzt Geld nicht verachtete. Und hübsche Frauen.
Steffen spähte noch einmal durch die Glastür. Berger und die Asiatin hatten jetzt ein Glas Champagner in der Hand und sprachen nur wenig miteinander. "Also doch ein Callgirl", dachte Steffen und hätte jetzt, den Geruch ihres lieblichen Parfums noch in der Nase, gern mit Berger getauscht. Er wendete sich ab und ging in Richtung Fahrstuhl. Das Glück war mit ihm. Der Fahrstuhl war im Erdgeschoss und öffnete sich umgehend. Er drückte den Knopf für die dritte Etage und kurz bevor sich die Fahrstuhltüren komplett schlossen, sah er durch den Spalt, wie drei ihm vertraute Männer die Glastür zum Frühstücksraum öffneten und sich Berger und der jungen Frau anschlossen.
Steffen warf einen Blick auf sein Handy. Ein Uhr zwanzig morgens, Professor Berger, Mainpharma-Vorstandsvorsitzender Vosse, eine attraktive Asiatin und der Geschäftsführer der Agentur, die Gesundheitskongresse in Deutschland organisierte, trafen sich in dem leeren und wenig gemütlichen Frühstücksraum eines Hotels im verregneten Hamburg. "Scheiße, Steffen. Du kannst jetzt nicht schlafen gehen". Er verließ den Fahrstuhl nicht, betätigte den Erdgeschoss - Knopf und spürte, wie der Fahrstuhl mit einem leichten Surren wieder nach unten fuhr.
Kapitel 4
Professor Woltner-Lentek war müde. Seine Augen brannten, er hatte seit Stunden nicht gegessen und getrunken. Er war allein im Labor und sah sich vor einer unlösbaren Aufgabe. Immer und immer wieder hatte er die Krankenakte von Eva gelesen und sich gefragt, warum der Verlauf so negativ war. Manche Patienten waren einem näher als andere. Er wusste nicht, warum gerade Eva ihn berührte. Vielleicht wegen der Bilder, die sie malte. Sehr ausdrucksstark und immer das gleiche Motiv. Pferde. Viel Rot, viel Schwarz. Die Psychologin seiner Abteilung hatte gemeint, es wäre viel Kraft und Willen in den Bildern, aber auch Verzweiflung. "Die Eva packt das", hatte sie gesagt. Er war angepiepst worden, in einer dieser sinnlosen Gesprächsrunden mit Vertretern verschiedener Organisationen. Verlassen hatte er diese Besprechung nicht können. Woltner-Lentek hatte auf 1,5 Millionen Euro Fördermittel gehofft. Damit könnte er endlich effektiver forschen. Der Geschäftsführer einer großen Hilfsorganisation war persönlich anwesend. Welch Ehre. Also war Lächeln angesagt, Schulterklopfen und Scherze machen. Als er auf die Station kam, war Evas Zimmer bereits leer. Ihr Lebensgefährte war dabei gewesen, als die anwesenden Ärzte verzweifelt um das Leben der Sechsundzwanzigjährigen gekämpft und schließlich den Kampf verloren hatten. Woltner-Lentek wusste, dass auch er nicht hätte helfen können. Aber das nahm ihm nicht die Schwere, die jetzt auf ihm lastete. Er fühlte sich schuldig. Schuldig, seine Zeit damit verbracht zu haben, das zu tun, was die Verwaltung von ihm forderte. Geld einzutreiben, kosteneffizient zu arbeiten, Politik zu machen.
Eva war mit Trufenib behandelt worden. Einem der neuen Wirkstoffe, auf die man so viel Hoffnung setzte. Die Studienlage zur Behandlung des NSCLC, dem nicht kleinzelligem Lungenkrebs, war mehr als eindeutig. Eine signifikante Gesamtüberlebensverlängerung, die sich sehen lassen konnte. Die sogenannte Trufu-Studie seines Kollegen Berger in Zusammenarbeit mit Professor Rodriguez von der National Health Clinic in Manila hatte für Schlagzeilen gesorgt. Die Studie war in sechs asiatischen Kliniken durchgeführt worden und nach Veröffentlichung der Ergebnisse war der Wirkstoff in Windeseile für Asien zugelassen worden und galt dort jetzt als Goldstandard in der Behandlung von Patienten wie Eva. Es war eine Monotherapie mit dem neuen Wundermittel Trufenib, einem Tyrosinkinaseinhibitor, der oral eingesetzt wurde und dafür sorgte, bestimmte Wachstumssignale im Zellkern zu unterbinden, so dass die Krebszellen durch diese gezielte Hemmung das Wachstum einstellten oder verlangsamten. Ein logisches und geniales Prinzip, allerdings konnte Woltner-Lentek die Behandlungserfolge bei seinen Patienten nicht erzielen. Auch er stellte anfangs eine Verbesserung der Lebensqualität und des allgemeinen Zustands der Patienten fest. Dann allerdings verschlechterte sich die Situation schnell, und die zu Beginn der Therapie noch als positiver Indikator für ein besseres Therapieansprechen interpretierten Hautreaktionen an Händen und Füßen eskalierten kurz vor Eintreten des Todes der Patienten.
Woltner-Lentek hatte die Studie immer und immer wieder gelesen. Die Ergebnisse waren eindeutig und die Anzahl der behandelten Patienten war groß genug, um aussagekräftig zu sein. Er zweifelte an sich selbst und stand vor der Entscheidung, die Mitwirkung seines Hauses an einer angekündigten Folge - Studie in Deutschland absagen zu müssen. Er fühlte sich im Kampf. Im Kampf gegen ein System, dass es ihm nicht erlaubte, sinnvoll zu forschen. Im Kampf gegen die Interessen der pharmazeutischen Industrie, der Fachverbände und der Politik, die alle beteuerten, nur im Sinne der Patienten und des Fortschritts in der Behandlung zu agieren, aber letztlich nur sich selbst dienten. Die Industrie war der einzige Mittelgeber. Allerdings gab es fast ausschließlich Mittel für Studien, die zur Einführung neuer Wirkstoffe wie Trufenib dienten. Gelder von der Regierung gab es so gut wie keine und die finanziellen Zuschüsse nicht staatlicher Organisationen waren zwar hilfreich, aber letztlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Woltner-Lentek hatte immer wieder zum Thema gemacht, dass auch Therapieoptimierungsstudien ein effizienter Weg seien, um die Optionen für Krebserkrankte deutlich zu verbessern und Überlebensverlängerung zu erreichen. Er hatte Applaus dafür erhalten, Zustimmung und viele Schulterklopfer. Doch geändert hatte sich nichts. Er wusste, dass er Jahre, wenn nicht Jahrzehnte brauchen würde, um zu Ergebnissen zu kommen, die vielleicht in wenigen Jahren möglich wären, wenn er nur die Mittel für größere Studien zur Verfügung hätte.
An Tagen wie diesen fühlte Woltner-Lentek das dringende Bedürfnis, alles hinzuschmeißen. Er ekelte sich vor sich selbst, wenn er eine Laudatio zur feierlichen Übergabe des Bundesverdienstkreuzes zur besonderen Anerkennung von selbstloser Leistung hielt und er wusste, dass der so Ausgezeichnete letztlich nur seinem Ego gedient hatte. Vielleicht würde auch er eines Tages das Bundesverdienstkreuz bekommen oder eine andere der zahlreichen Ehrungen, die es für Forscher gab. Würde er diese Ehrung ablehnen? Oder würde er sich mit einem Lächeln auf dem Gesicht feiern lassen und die Auszeichnung als eine besondere Ehrung seiner Leistungen empfinden? Woltner-Lentek wusste es nicht. Er wandte sich wieder seinen Akten zu, stellte aber fest, dass er die Buchstaben nicht mehr erkennen konnte und entschloss sich, den Rest der nur noch kurzen Nacht zu Hause zu verbringen. Früh morgens würde er bereits im Zug nach Hamburg sitzen. Vielleicht könnte er im Zug noch etwas Schlaf nachholen. Diesen Tag beendete er ohne einen Fortschritt. Wieder einmal.
Kapitel 5
Warum nachts um ein Uhr zwanzig? Warum in diesem drittklassigen Hotel, in dem mit Sicherheit weder Berger noch Vosse ein Zimmer gebucht hatte? Und wer war die deutlich nicht in die Runde passende Asiatin? Steffen hatte sich im Foyer einen verdeckten Platz gesucht und beobachtete die jetzt an einem Tisch sitzenden Gesprächspartner aufmerksam. Er kam sich vor wie ein Paparazzo oder ein heruntergekommener Privatdetektiv und stellte sich die Frage, ob er nicht besser in seinem Bett sein sollte. Die Müdigkeit war jetzt fast größer als seine Neugier.