Christian Milkus

Treulose Seelen


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Reet seine Welsgeschichten. Aber anders als die anderen Kinder hörte er damit nicht auf, als er älter wurde. Er baute sich eine Hütte abseits des Dorfes, heiratete nicht und brauchte so wenig, dass die Leute manchmal fast vergaßen, dass er noch da war. Trotz seiner Verschrobenheit galt er jedoch als ausgezeichneter Fischer. Er hatte ein gutes Gespür für Fangplätze und –zeiten. Die Fahrten mit seinem Bruder waren für Knut oft die einträglichsten. Grund genug, ihm seine Grillen mit den Welsen nachzusehen. In all den Jahren hatte Knut gelernt, Reet so zu nehmen, wie er war.

      »Was haben dir die Welse gezeigt?«, fragte er verbindlich, tötete einen Fisch und warf ihn in einen Eimer. »Was wird das Jahr dir noch bringen, außer volle Netze?«

      »Volle Netze, ja ...«, antwortete Reet, »... aber nicht für mich. Die Welse sagen, ich werde das Fenn bald verlassen.«

      Knut ließ die Keule sinken, einen zappelnden jungen Flussbarsch in der anderen Hand. Er schluckte und versetzte: »Unsinn!« Gleich darauf nahm er die Schärfe aus seiner Stimme. »Ich meine, warum solltest du gehen? Und vor allem, wohin? Wir sind Fischer, ein Teil vom Fenn, ein Teil vom See.« Er schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Ich weiß, was die Welse dir zeigen, ist wahr, aber ...«

      »Schon gut«, sagte Reet, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er lächelte nach wie vor. »Ich verstehe ihre Zeichen auch nicht immer so genau. Vielleicht täusche ich mich dieses Mal ja. Ist früher auch schon vorgekommen.«

      Während er sein klopfendes Herz zu zügeln versuchte, beobachtete Knut seinen Bruder verstohlen. Wie immer ging Reet vollkommen in dem auf, was er gerade tat. Entweder, er ist ein Spinner oder ein Weiser, dachte Knut, und der Gedanke kam ihm nicht zum ersten Mal.

      Etwas später hatten sie ihren Fang ruhiggestellt und in drei Eimern untergebracht. Knut klemmte sich die Ruderpinne unter den Arm, wechselte ihren Kurs und trimmte das Segel neu. Reet zupfte derweil die gröbsten Algen und Seepflanzen aus dem Netz und warf sie über Bord. So fuhren sie eine Weile, inmitten von Sternen, die über ihnen wachten und sich auf der Oberfläche des Sees spiegelten.

      Als das Netz halbwegs sauber war, legte Reet es zusammen, schob es sich in den Rücken und lehnte sich im Bug zurück, inmitten eines Allerleis aus Eimern, Reusen, Angelruten und Keschern. Sein Blick verlor sich auf dem Wasser. »Wie geht’s Sonya?«, fragte er. »Ist das Fieber besser?«

      Knut ließ sich Zeit mit einer Antwort. »Ja«, sagte er dann. »Zuletzt hat sie wieder ruhiger geschlafen. Die Alpträume blieben aus. Ist nicht mehr schreiend aufgewacht, jedenfalls nicht mehr so oft. Und sie schwitzt auch nicht mehr so stark.«

      »Das ist gut«, sagte Reet. »Das freut mich.« Er legte einen Arm über die Bordwand und ließ die Hand sinken, so dass seine Finger durchs Wasser kämmten. »Weißt du was? Nimm diesmal allen Fisch, den wir nicht verkaufen. Ich hab noch genug von der letzten Fahrt übrig. Und ich hab auch noch etwas Pökelfisch. Wenn Sonya vernünftige Portionen bekommt, ist sie sicher bald wieder die Alte – jetzt, wo es wärmer wird. Vergiss das teure Gebräu von dem fahrenden Bader. Der ist doch bloß ein Quacksalber. Gib ihr, was der See uns schenkt, und gib ihr genug davon. Dann ist sie bestimmt bald wieder ganz gesund.«

      Knut hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, die Augen zusammengekniffen, die Lippen schmal. »Das kann ich nicht annehmen«, murmelte er.

      Reet legte den Kopf in den Nacken und lächelte zu den Sternen empor. Wenn er lächelte, wurde sein hageres Gesicht erstaunlich weich. »Natürlich kannst du das. Bitte, lass es uns so machen. Nur dieses eine Mal. Und wenn wir das nächste Mal rausfahren, steht Sonya wieder mit den Kindern am Steg und winkt uns nach, wirst schon sehen.«

      Knut öffnete den Mund, sagte aber nichts und schloss ihn wieder. Dann murmelte er durch die Zähne, leiser noch als zuvor: »Danke.«

      Reet schloss die Augen, die Finger noch immer im See. Es war Knut ein Rätsel, wie er die Kälte so lange aushalten konnte. Als wäre er selbst ein Fisch, dachte er. Ein großer Wels, und die Finger sind seine Barteln, mit denen er umherspürt in seinem Reich. Mit der Zungenspitze fing er eine Träne auf. Bei Taront! Ich wünschte fast, ich könnte sehen was er sieht, und glauben, was er glaubt. Die Welse und ihre Vorhersagen. Dann wüsste ich, ob er recht hat. Ich wüsste, ob die Götter mir meine Sonya lassen, oder ...

      Sein Blick verschwamm, und das Boot glitt über den See, mit drei Eimern voll Fisch und zwei reglosen Gestalten, die eine gebeugt am Ruder, die andere dämmernd im Bug, die Finger im Wasser.

      Sie liefen ohne einen Ruck auf Grund, so sachte hatte Knut sie durch das Schilf gesteuert. Gleichwohl schlug Reet die Augen auf, kaum, dass der Kiel im Uferschlamm steckte. Er blinzelte und fragte mit vom Halbschlaf schwerer Stimme: »Wo sind wir?«

      »In der Bucht, wo ich die Händler treffen möchte«, gab Knut zurück, stand auf und machte einen langen Hals. »Heda!«, rief er. »Ist da jemand? Wir sind’s, die Fischer aus dem Öden Fenn.« Er sprang ins seichte Wasser und zog das Boot noch ein Stück weiter. Dann reffte er das Segel und holte die Schott dicht.

      Auch Reet sah sich um. »Die Gegend kenn ich nicht«, sagte er verblüfft. »Hier war ich noch nie.« Er nahm die Hand aus dem Wasser und saugte einmal an seinen Fingern. »Der See schmeckt anders. Das ist nicht mehr das Fenn. Nicht mal mehr das Ostufer.« Er stand ebenfalls auf.

      Vom Land her näherten sich Lichter durch das Schilf.

      »Hier drüben sind wir!«, rief Knut noch einmal und schwenkte die Arme über dem Kopf, einen Fisch in der Hand, der das Licht reflektieren sollte, um den Ankömmlingen die letzten Schritte zu den Brüdern zu weisen.

      »Und hier willst du Händler treffen?«, fragte Reet. »Keine Händler, die ich kenne, soviel steht fest.«

      »Nein«, sagte Knut über die Schulter. »Diese Händler kennst du noch nicht. Ich mache selbst auch das erste Mal Geschäfte mit ihnen.«

      Jetzt konnten sie drei Fackeln ausmachen, und gleich darauf auch die Männer, die sie trugen. Aus der Dunkelheit dahinter lösten sich vier weitere Fremde. Als sie heran waren, zeigte sich, dass jeder von ihnen eine Waffe in der Hand hielt, einen Knüppel, einen Dolch oder einen Spieß. Der Anführer trug eine der Fackeln und ein Schwert an der Seite.

      Knut sagte rau: »Ich habe die Ware gebracht.«

      »Wurd auch Zeit«, antwortete der Anführer. Er hatte mehrere Zahnlücken und nuschelte. »Keine Lust, noch bis zum Morgen im Schilf zu hocken wie ein verfluchter Fischreiher!« Mit einem knappen Nicken nach vorn ergänzte er: »Greift ihn euch!«

      »Seepiraten!«, platzte Reet heraus, doch da hatten ihn zwei der Männer schon gepackt. »Knut, was ...?« Mehr konnte er nicht sagen, denn einer der beiden zog ihm einen Knüppel über den Kopf. Als Reet danach noch zuckte, schlug der Pirat ein zweites Mal zu.

      »Aufhören!«, rief Knut. »Ihr bringt ihn ja um!«

      »Keine Bange«, versetzte der Anführer. »Tot wär er wertlos, Bürschchen. Wir machen ihn nur klar für die Reise zum Sklavenmarkt.«

      Die beiden Männer legten Knuts bewusstlosen Bruder im Boot ab und fesselten ihn.

      »Mein Geld«, forderte Knut mit wackliger Stimme. »Ihr habt mir fünf Silbernoks versprochen.«

      Der Anführer baute sich vor ihm auf, drückte die Zungenspitze durch eine Zahnlücke und zog sie schmatzend wieder zurück. »Ist das so?«, sagte er und machte eine weite Geste, die das Schilf ringsum einschloss. »Schau dich um, Bürschchen. Was siehst du?«

      »Das Ufer«, sagte Knut lahm.

      »Genau«, bestätigte der Anführer. »Und siehst du an diesem Ufer irgendjemanden, der uns daran hindern könnte, dich auch noch mitzunehmen?«

      »Wir hatten eine Abmachung«, fuhr Knut auf. »Ich brauche das Geld! Mein Weib ist krank! Und der Bader, er verlangt fünf Silber...!«

      Die Faust des Anführers kam wie aus dem Nichts. Knut fand sich mit aufgeplatzter Lippe im Wasser wieder, die Hände aufgestützt, schmeckte Blut und spürte, wie Schlamm durch seine Finger quoll.

      »Unsere