Christian Milkus

Treulose Seelen


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Zeit angehalten. Anspannung, Ungeduld, innere Zerrissenheit – würde man ihn jetzt schütteln, würden all seine Gefühle überkochen und sich wie eine Rauchschwade an finsteren Gedanken im Raum verteilen.

      Der Meister der Justiz trat nach vorne. Er hustete und würgte, als hätte er Asche verschluckt, bevor er endlich sprechen konnte: »Unter den Händen Youlinas, Göttin der Gerechtigkeit, und im Namen König Zalamos, Herrscher und Beschützer über Qython, verkünde ich hiermit das Urteil. Die Angeklagte Fayne aus dem Hause Haberle wurde des Mordes an Schatzmeister Kelion überführt. Als Strafe wird sie den Rest ihres Lebens in den Kerkern Lloyandasburgs verbringen.«

      Eine diffuse Mischung an Geräuschen erfüllte den Saal, laut, durchdringend, für Joaquin kaum auseinanderzuhalten. Ein Donnerwetter, das sich entlud und in seinen Ohren dröhnte. Die Leute klatschten, brüllten, johlten, eine Fehde zwischen Zustimmung und empörter Ablehnung, wenngleich die Freudenrufe zu überwiegen schienen.

      Doch sämtliche Laute wurden verschluckt, als sich Faynes Stimme über alle anderen erhob. »Tu doch was!«, schrie sie aus voller Lunge. »Hilf mir! Bitte!«

      Es war ein verzweifelter Ruf, der mit düsteren Klauen nach Joaquins Seele griff. Ihre Worte waren an ihn gerichtet. An wen sonst konnte sie sich im Angesicht dieser schrecklichen Strafe jetzt noch wenden? Es war nicht der Tod, den sie gefürchtet hatte, dem hätte diese starke Frau sogar trotzig in die Augen geschaut. Nein, es war der Aufenthalt im Kerker, der sie Beherrschung und Würde vergessen und wie ein kleines Kind flehen ließ. Denn er bedeutet nur Eines, und das wusste sie genau: Folter.

      Wenn das Königspaar eine Person loswerden wollte, so war die Hinrichtung meistens der unkomplizierte Weg, schnell und risikolos. Dass Fayne in diesem Fall ihr Leben zugestanden wurde, war kein Geschenk, sondern eine noch schlimmere Strafe als der Tod selbst und gleichzeitig ein erbarmungsloser Schachzug. Es galt, mögliche Mitverschwörer zu entlarven, und das würde nur im Verhör auf der Streckbank oder mit dem Brandeisen auf der Haut gelingen.

      »So führt sie hinab und geleitet sie in die Katakomben«, befahl die Königin. »Sie wird dort genug Zeit haben, über ihren Verrat nachzudenken. Wir werden dafür beten, dass sie ihre Schuld bereut, und die wahren Götter bitten, ihr zu verzeihen.«

      Eine Wache griff Fayne unter die Arme und hievte sie hoch. Die Verurteilte schrie erneut, schluchzte. Tränen rannen ihre Wangen herunter. Doch schon kurze Zeit später schlug ihre Hilflosigkeit in Wut um, sie trat aus und versuchte, sich loszureißen. Eine andere Wache schlug ihr in den Magen, die Menschen um sie herum kamen näher und brüllten sie an.

      Bei dem Schlag zuckte Joaquin zusammen und legte die rechte Hand an den Griff seines Schwertes. Doch er besann sich, atmete tief durch und nahm die Hand wieder weg.

       Hoffentlich hat niemand meine Bewegung gesehen.

      Er stieg die Stufen hinunter und ging auf die Meute zu, die Schmährufe der Zuschauer ignorierend, ebenso die vernichtenden Blicke seiner besten Freundin, die sie ihm durch ihre verquollenen Augen zuwarf. Offenbar hatte die Freundschaft für sie keinen Bestand mehr.

      Er packte Faynes rechten Arm und begleitete sie zusammen mit der anderen Wache zum Ostausgang des Saales, um zu den Katakomben zu gelangen. Die Menschen erschwerten ihnen den Weg, inzwischen hatte sich eine Traube um sie herum gebildet. Sie pöbelten, schimpften, wünschten der Verurteilten alles Schlimme dieser Welt.

      »Sei froh, dass sie deinen Kopf nicht unters Schwert legen!«, brüllte jemand.

      Weitere Soldaten eilten herbei und schirmten die drei von der wütenden Menge ab. Nur langsam konnten sie sich vorkämpfen, es kam Joaquin vor, als liefen sie durch kinnhohes Wasser. Dennoch erreichten sie schließlich den Ausgang und durchschritten die verworrenen Gänge des jahrhundertealten Gebäudes. Nach der ersten Treppe nach unten wurde es dunkler, kälter und enger. Ihre Schritte echoten zwischen den Wänden hin und her, während die Schmährufe aus dem Thronsaal allmählich verblassten.

      Zu keiner Zeit nahm Fayne ihren schwer lastenden Blick von Joaquin. Noch würde er ihn ertragen müssen und er hatte vollstes Verständnis für sie. Sie sah einem hungrigen Wolf ins Maul, ihr scheinbar unausweichlicher Gang in den Kerker bedeutete, hilflos zwischen die Reißzähne der Königsfamilie zu geraten.

      Doch nicht alles war vorherbestimmt.

      Das eine, unausweichliche Ende, das sich seine Eltern vorstellten, würde es nicht geben. Nein, den letzten Absatz des Manuskripts hatte er gestrichen und selbst geschrieben. Und einige Abzweigungen und dunkle Gänge später erreichten sie endlich die Stelle, die er sich für seinen Teil des Plans ausgesucht hatte. Niemand außer ihnen war hier, niemand konnte sie hören.

      Er zückte seinen Dolch und bohrte ihn der Wache in den Hals.

       Es tut mir so leid.

      Joaquin hatte den Mann kaum gekannt, nur sporadisch mit ihm gesprochen. Er war ein feiner Kerl gewesen, zwar etwas frech, doch vertrauenswürdig und ambitioniert. Die Götter würden dem Prinzen diese Tat niemals verzeihen, und auch er selbst würde sich damit auf ewig belasten.

       Für unsere Freundschaft, Fayne.

      Blut ergoss sich über die Klinge, aus der Kehle des Mannes drang Röcheln und Gurgeln. Seine Augen waren weit aufgerissen, für einen kurzen Moment befand sich sein Gesicht in einer Starre aus Schock und Schreck, bevor er zusammensackte.

      Faynes Mund stand offen, ihr Blick ging zur Leiche, zu ihm, wieder zur Leiche. »Du ...«

      Joaquin schnappte sich die Schlüssel, die am Hosenbund der Wache befestigt waren, und befreite Fayne. »Flieh! Nimm den Gang hinten links, die Treppe nach oben und lauf von dort aus nach rechts. Der Weg führt dich direkt zu einem Ausgang. Alle Türen sind offen, niemand wird dort stehen.«

      Erleichterung umspielte Faynes Gesicht, sie legte ihre Hände in seine. »Ehrlich? Du hast ... für mich?«

      »Fayne, wir halten zusammen. Immer. Das weißt du doch. Ich musste aber auf die richtige Gelegenheit warten.«

      Sie fiel ihm um den Hals.

      »Hau ab! Sie werden bald herausfinden, was los ist.«

      Sie ließ ihn wieder los, doch statt ihm endlich den Rücken zu kehren und so schnell zu rennen, wie sie konnte, sah sie ihn forsch an. »Eine Sache muss ich noch wissen. Warum musste der Schatzmeister sterben? Er hat sich nichts zu Schulden kommen lassen.«

      »In den Augen meiner Eltern schon. Um es mit den Worten meiner Mutter zu sagen: Unfähig, trottelig, würde nicht einmal mit einem Bordell Geld machen.«

      Ihr kämpferischer Blick kehrte zurück, das Feuer in ihr loderte wieder auf. »Verdammt seien sie! Warum haben sie ihn nicht einfach abgesetzt?«

      »Verschwinde endlich!«

      »Erst verrätst du es mir!«

      Er seufzte. »Es war nicht mehr als pragmatische Notwendigkeit. Hätten meine Eltern ihn abgesetzt, hätten sie die Loyalität seiner Familie gefährdet. Doch mit dem Mord haben sie gleich zwei Tauben mit einem Pfeil erlegt: Du im Kerker, der Schatzmeister im Jenseits. Und der Ärger seiner Familie konzentriert sich ganz auf dich.«

      »Typisch!« Sie schnaubte. »Verstehst du jetzt endlich, warum ich das nicht länger mit ansehen konnte? Sie sind skrupellos, irgendwann werden sie das Königreich wieder in den Krieg stürzen.«

      Joaquin drehte seinen Kopf immer wieder zur Seite, jeden Moment konnte jemand nachsehen kommen und die beiden erwischen. »Bitte lass das! Ich verstehe dich ja. Aber du musst jetzt gehen.«

      »Wir brauchen einen neuen Herrscher. Dich!«

      »Ich bin nicht geeignet. Ich bin schwach.«

      Sie rollte mit den Augen. »So ein Fliegenschiss! Natürlich bist du das. Irgendwann wirst du deine Eltern beerben und das Reich in eine Ära voll Wohlstand führen.«

      »Lass das! Geh jetzt, du wirst keine zweite Gelegenheit kriegen.«

      »Wieso kommst du nicht mit?«

      »Ich