Lucie Tourmalin

Nur ein Märchen?


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Hochzeiten platzen würden, also sagt niemand Brunhild die Wahrheit und es findet – trotz ihrer Bedenken – eine Doppelhochzeit statt. Sofort am nächsten Tag brechen Siegfried und Kriemhild nach Xanten auf, um dort am Hof in Frieden zu leben.

      Zehn Jahre später. Siegfried und Kriemhild leben glücklich in Xanten und haben einen kleinen Sohn, den sie nach seinem Onkel Gunther genannt haben. König Gunther dagegen führt keine sehr glückliche Ehe, da seine Frau Brunhild auch nach all den Jahren mit der Hochzeit von Kriemhild und Siegfried nicht einverstanden ist.

      Sie ist sich sicher, dass man sie betrogen hat, aber sie weiß nicht, wie. Schließlich fordert sie, dass Kriemhild und Siegfried zurück an den Wormser Hof kommen müssen, um dort ihre Dienste zu verrichten.

      Da Kriemhild ihrer Meinung nach einen Diener geheiratet hat, hat sie sich auf dessen gesellschaftliche Stufe gestellt und muss nun ebenfalls als Bedienstete angesehen werden. Und weil die beiden schon zehn Jahre lang nicht freiwillig für den König gearbeitet haben, müssen sie nun gezwungen werden, ihrer Verpflichtung nachzukommen.

      Gunther weiß sehr genau, dass Siegfried ihm zu rein gar nichts verpflichtet ist, kann sich dem Drängen seiner Gattin aber nicht widersetzen. Er und Hagen beraten sich und beschließen, Siegfried und Kriemhild auf einen Besuch nach Worms einzuladen, um den Schein zu wahren.

      Kriemhild, die immer wieder unter starkem Heimweh leidet, freut sich über die Einladung und die Xantener reisen nach Worms. Dort verschärfen sich jedoch die Spannungen zwischen den Frauen.

      Königin Brunhild erwartet Demut und Bescheidenheit von ihrer Schwägerin. Kriemhild dagegen sieht sich als eine der rechtmäßigen Erbinnen des Königreiches Burgund und Herrscherin über Xanten und erwartet eine angemessene Behandlung. Der Streit spitzt sich zu, weil jede meint, ranghöher als die andere zu sein. Schließlich werden auch die Ehemänner in den Streit involviert.

      Die Königin verlangt öffentlich von Gunther, er solle seine Schwester und ihren Mann an ihren rechten Platz verweisen; Kriemhild dagegen fordert einen Teil des Burgunderreiches für sich und Siegfried von ihrem Bruder, da er genau wisse, was er ihnen zu verdanken habe.

      Das volle Ausmaß der Anspielung versteht Brunhild nicht, erkennt aber sehr wohl, dass sie Opfer eines Betruges geworden ist, von dem jeder zu wissen und dessen maßgeblicher Urheber Siegfried zu sein scheint.

      Brunhild – erbost über die öffentliche Demütigung – und Hagen von Tronje – noch immer versessen auf den Schatz der Nibelungen – überzeugen Gunther davon, dass Siegfried eine Gefahr darstellt und getötet werden muss.

      Sie schmieden einen teuflischen Plan. Gunther erbittet Siegfrieds Unterstützung in einem angeblich anstehenden Kampf, Siegfried stimmt selbstverständlich zu. Hagen beruhigt Kriemhild, die untröstlich darüber ist, sich von ihrem Mann für die Dauer des Kampfzuges trennen zu müssen.

      Er gibt vor, besonders auf Siegfrieds Wohlergehen achten zu wollen, damit er auch ganz sicher unbeschadet zurückkehren könne. Kriemhild verrät ihm daher Siegfrieds Geheimnis: Er hat, nachdem er einen Drachen getötet hatte, in dessen Blut gebadet. Daher ist er unverwundbar geworden, seine Haut ist undurchdringlich. Während des Badens hat sich aber ein Lindenblatt auf seine Schulter gelegt, daher ist dieser eine Fleck ungeschützt und somit die einzige Stelle am ganzen Körper, an der Siegfried verwundet werden kann.

      Kriemhild sagt, sie werde die Stelle heimlich auf Siegfrieds Kleidung markieren und bittet Hagen, besonders auf dieses Kreuzchen zu achten. Hagen versichert, das werde er ganz bestimmt tun.

      Kurz bevor die Männer aufbrechen wollen, verkündet Gunther, die Herausforderer hätten den Krieg angesichts Siegfrieds Teilnahme und ihrer drohenden Unterwerfung abgesagt und man könne nun – um dies zu feiern – einen Jagdausflug unternehmen.

      Siegfried willigt ein und bricht allein mit Hagen und Gunther zur Jagd auf. Hagen hat absichtlich kein Wasser mitgenommen und als Siegfried durstig wird, führt er ihn zu einer Quelle, damit er daraus trinken kann.

      Als Siegfried sich über das Wasser beugt und trinkt, sticht Hagen mit seinem Schwert zu – genau dort, wo Kriemhild das kleine Kreuzchen aufgestickt hat.

      Hagen hält triumphierend sein blutiges Schwert in die Höhe und verkündet stolz, er habe das Reich der Burgunder gerettet und ihm zusätzlich den Schatz der Nibelungen gesichert. Gunther blickt auf seinen sterbenden Schwager und verbirgt vor Scham das Gesicht. Siegfried stirbt.

      Tosender Applaus schwillt an, überschlägt sich, bäumt sich auf, spült über mich hinweg, verebbt, schwillt wieder an. Jemand legt seinen Arm um meine Schultern, ich zucke zusammen. Oh, es ist nur George.

      „Hilda, was ist denn mit dir? Geht es dir nicht gut? Was hast du denn nur, sag doch was!“ Was? Was ist los? Was will er denn von mir? Ich schüttele leicht den Kopf und versuche, etwas zu sagen, aber ich kann nicht. Es kommt nichts. George wird jetzt richtig blass.

      „Wir brauchen hier einen Arzt“, ruft er. Aber es hört ihn niemand, weil der Applaus immer noch so laut ist.

      „Ich brauche keinen Arzt“, sage ich. Eigentlich krächze ich eher.

      „Honey, wie siehst du denn aus? Was ist passiert?“ Wovon redet George bloß? Wie sehe ich aus? Was soll schon passiert sein?

      Ich bin ein bisschen verwirrt. Das Stück hat mich – entgegen aller Erwartungen – fasziniert. Benommen blicke ich mich um und versuche, ein bisschen zu mir zu kommen. Ich fühle mich, als hätte ich zu lange geschlafen. Irgendwie matschig und umnebelt und am ganzen Körper ganz steif, ich kann mich kaum bewegen.

      Vorsichtig strecke ich meine Beine aus und winkle sie wieder an. Als ich versuchen will, meine Arme zu bewegen, merke ich, dass meine Hände ganz verkrampft und ineinander verkrallt in meinem Schoß liegen. Meine Finger sind klamm und ich habe Schwierigkeiten, meine Hände voneinander zu lösen. Als es mir gelingt, bleiben schmerzende Halbmonde, wo sich meine Fingernägel in die Haut gegraben hatten. Komisch.

      George hat es mittlerweile aufgegeben, mir Fragen zu stellen, die ich ihm nicht beantworte, und wühlt hektisch in meiner Handtasche. Schließlich zieht er ein Päckchen Taschentücher und meinen kleinen Kosmetikspiegel hervor.

      Er hält mir den Spiegel vor die Nase und jetzt verstehe ich sein Entsetzen. Mein Gesicht ist blass und tränenüberströmt – ich habe gar nicht gemerkt, dass ich geweint habe – und meine Lippen sind blutig. Anscheinend habe ich wie eine Besessene darauf herumgekaut.

      Ich nehme vorsichtig ein Taschentuch aus der Packung und beginne, mein Gesicht abzutupfen. George hält mir den Spiegel und sieht mich dabei besorgt an.

      „Hm, anscheinend kann mich ein Theaterstück doch umhauen, das wolltest du doch immer“, versuche ich schwach zu witzeln. Er sieht mich prüfend an.

      „Und sonst fehlt dir nichts? Alles in Ordnung? Es war nur das Stück, das dich überwältigt hat?“, hakt er nach. Ich nicke heftig.

      Langsam kehren die Lebensgeister wieder zurück. „Ja, mir geht es gut. Es war nur so - - spannend und - - fesselnd und - - packend und - - dabei gar nicht albern, sondern - - richtig gut, irgendwie“, bringe ich stockend hervor.

      Ich atme tief durch und kann selbst noch gar nicht fassen, was mir gerade passiert ist. Ich war total weggetreten, habe einfach nichts mehr von meiner Umwelt wahrgenommen und bin komplett in die Geschichte der Nibelungen eingetaucht.

      George scheint noch nicht vollständig davon überzeugt zu sein, dass es mir gut geht.

      „Hilda, my dear, ich liebe das Theater, seit ich denken kann, und habe unzählige Aufführungen besucht. Aber ich habe noch nie, und ich meine wirklich never ever, gesehen, dass jemand danach so – derangiert war wie du.“

      Ich grinse. „Ach, wenn ich schon was mache, dann aber auch richtig“, entgegne ich und fühle mich schon fast wieder richtig gut.

      „Mister Darnett“, ruft eine von Georges Studentinnen, „können wir jetzt hinter die Bühne gehen, um die Schauspieler zu treffen?“ Um uns herum haben sich die Zuschauerränge geleert, wovon ich bisher gar nichts mitbekommen habe. Nur die Studenten stehen