Lucie Tourmalin

Nur ein Märchen?


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      Sonntag

      Geschafft. Ich sitze im Bus neben George, der mich immer wieder vergnügt ansieht. Er freut sich wirklich wie ein kleines Kind auf diese Exkursion. Ich habe heute Nacht schlecht geschlafen, habe im Halbschlaf wirre Gedanken gehabt und fühle mich ziemlich gerädert.

      Nicht nur Emilys Affäre hielt mich wach, auch das gestrige Telefonat mit meiner Mutter kam mir immer wieder in den Sinn. Wie traurig sie geklungen hat, als sie sagte, Oma Gerda habe keinen guten Tag. In letzter Zeit hat sie fast nur noch schlechte Tage.

      Angefangen hat alles mit Kleinigkeiten, die Oma sich nicht mehr merken konnte. Wir haben uns oft darüber lustig gemacht, ich erinnere mich noch gut, wie Papa mal leicht genervt zu ihr sagte: „Mutter, wenn du deinen Kopf suchst, der sitzt auf deinen Schultern. Genau in der Mitte.“ Sie konnte mal wieder ihre Schlüssel nicht finden.

      Auch Namen verwechselte sie immer öfter. Als sie dann eines Tages mit dem Bus mehrere Stunden lang durch die Stadt fuhr, von einer Endstation zur anderen und wieder zurück, und der Busfahrer die in Tränen aufgelöste, orientierungslose Frau schließlich fragte, ob alles in Ordnung sei und die Polizei benachrichtigte, merkten wir, dass es doch etwas Schlimmeres sein musste als nur Schusseligkeit.

      Die Diagnose: Demenz. Von da an konnte Oma nicht mehr alleine wohnen und sie zog bei meinen Eltern ein, in mein altes Zimmer - wenn ich nun nach Hause fahre, muss ich auf der Couch übernachten. Sie vergisst, ob sie schon gegessen hat. Sie vergisst, was sie einkaufen wollte. Sie vergisst, wer zur Familie gehört, wer ihre Freunde sind. Sie vergisst, nach Opas Grab zu sehen. Sie vergisst, wer sie ist.

      All das beschäftigte mich die halbe Nacht, so dass ich kaum ein Auge zu bekam. Heute Morgen habe ich noch schnell eine Mail an Tina geschickt und mich für die kommende Woche im „Modern Fashion Store“ abgemeldet, nicht ganz die feine Art, ich weiß.

      Auf der Arbeit im Pizzaladen war es ziemlich stressig und ich freue mich auf den Worms-Aufenthalt im Moment ebenso sehr wie auf eine Wurzelbehandlung beim Zahnarzt. Immerhin hat die Brandsalbe wahre Wunder vollbracht und mein verbrühter Fuß tut nicht mehr weh.

      Mein Abschied von Emily war tränenreich. Sie will sich heute mit Walter treffen und ihm sagen, dass ihre Affäre vorbei ist, und sie wird heute Abend mit Nils reden und ihm alles gestehen. Dagegen kommt mir meine Exkursion wie ein Spaziergang vor. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nicht da bin, wenn sie nach Hause kommt und Trost braucht. Aber ich konnte George auch nicht im letzten Augenblick wieder absagen, er freut sich so. Letztendlich wird Emily schon ohne mich klarkommen, sie ist zäh.

      George sieht mich von der Seite an. „Geht’s dir gut, Honey?“, fragt er mich und sieht dabei besorgt aus.

      „Sicher“, antworte ich schnell. Ich will nicht, dass er sich Sorgen macht. Er hat so viel Arbeit in die Planung des Ausflugs gesteckt, da soll er ihn auch genießen. „Ich bin nur müde. Hab‘ nicht gut geschlafen und im Pizzaladen war es stressig.“ Er nimmt meine Hand.

      „Hilda, du musst raus aus diesem Laden. It’s not good for you.“

      „Ja, ja, ich weiß schon“, entgegne ich gereizt. Diese Diskussion haben wir schon oft geführt, zu oft. „Aber irgendwie muss ich ja auch mein Geld verdienen.“

      Ich bin jetzt nicht in der Stimmung, schon wieder eine sinnlose Diskussion zu führen. George sieht mich prüfend an. „Dich bedrückt doch noch was anderes.“ Keine Frage. Eine Feststellung. Ich seufze, er kennt mich zu gut.

      „Ja“, gebe ich zu. „Es geht um meine Oma, um die ich mir Sorgen mache wegen ihrer Krankheit, und um Emily, und was sie für ein Problem hat, kann ich dir jetzt noch nicht erzählen.“ Sobald Nils es weiß, werde ich es auch George sagen, aber vorher käme es mir nicht richtig vor.

      „Okay.“ Er ist so lieb. Und plötzlich fühle ich mich furchtbar, weil ich keine Lust habe, mit ihm nach Worms zu fahren, weil ich seine gut gemeinten Ratschläge nicht annehmen will, weil ich nicht zu schätzen weiß, dass er eben ist, wie er ist.

      „Ich hab‘ dich lieb, George“, sage ich leise und schmiege mich an ihn.

      „Love you“, sagt er und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. „Und jetzt versuch mal, ein bisschen zu schlafen.“ Ich nicke und mache es mir bequem.

      „Hey, Schlafmütze, wir sind da.“ George stupst mich sanft an und ich blinzle verschlafen.

      „Ach, schon? Das ging aber schnell!“ Ich gähne. Das Nickerchen hat mir gut getan, ich fühle mich schon viel besser. Ich sehe interessiert aus dem Fenster und stelle fest, dass Worms eigentlich ein ganz nettes Städtchen ist. Ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. Wir überqueren den Rhein und ich verspüre ein seltsames Kribbeln im Bauch. Das Wasser hat eine hypnotisierende Wirkung auf mich, ich kann kaum meinen Blick abwenden. Als der Bus vor dem Hotel hält, sehe ich George fragend an. „Das hier ist das tolle Hotel, von dem du mir vorgeschwärmt hast?“

      Ich hatte jetzt nicht gerade das Hilton erwartet, aber auch nicht das, was ich hier sehe. Das Haus ist ein Fachwerkhaus, sieht zwar sehr schön und malerisch aus, aber eben nicht wie ein Fünf-Sterne-Hotel. George klatscht in die Hände und freut sich, wir scheinen also doch richtig zu sein.

      „So, boys and girls, Endstation. Da wir uns diese Woche auf den Spuren der Nibelungen bewegen werden, habe ich uns die urigste Unterkunft gebucht, die die Stadt zu bieten hat.“

      Mir stockt der Atem. Hat er gerade ‚urig‘ gesagt? Er hat doch nicht wirklich ‚urig‘ gesagt! Habe ich mich verhört? George, der weltmännische, elegante, sensible, in London aufgewachsene George! Sohn einer deutschen Mutter und eines englischen Vaters, der in einem exquisit eingerichteten Apartment lebt. Der einzige Mann, den ich kenne, der Wellness-Tage einlegt. Der zur Maniküre geht. Der sich unerwünschte Körperbehaarung mit Wachs entfernen lässt.

      Gut, keine Panik, wahrscheinlich bezieht sich das ‚urig‘ nur auf das Äußere des Hotels. Innen wartet es dann auf mit luxuriösen Zimmern, einem Gourmet-Restaurant und einem traumhaften Spa.

      Ich entspanne mich, raffe meine Sachen zusammen und steige aus dem Bus. George und ein paar besonders eifrige Studenten sind schon ins Hotel gegangen. Ein Student mit wuscheligen blonden Locken, die ihm tief ins Gesicht hängen, spricht mich an.

      „Hey, du bist Hilda, nicht?“ Ich kenne ihn vom Sehen, habe aber keine Ahnung, wie er heißt.

      „Ja“, antworte ich, während er mir die Hand hinstreckt.

      „Ich bin Florian. Ich wusste ja gar nicht, dass du auch im Nibelungen-Seminar bist!“ Ich schüttele seine Hand.

      „Ähm, nett dich kennenzulernen. Äh, ich bin nicht im Seminar. Also nicht so direkt.“

      Warum stelle ich mich denn so an? Habe ich etwa was zu verbergen? Es ist doch nicht schlimm, dass ich mit und wegen George hier bin! Aber irgendwie komme ich mir komisch vor. Immerhin ist George Dozent in dem Fachbereich, in dem ich meine Abschlussarbeit schreibe.

      Ich verbiete ihm stets, mir zu helfen, obwohl es ihm ein Vergnügen wäre, meine Magisterarbeit etwas aufzupeppen. Aber ich habe in der ganzen Zeit, die wir nun schon befreundet sind, niemals versucht, einen Vorteil daraus zu ziehen, dass George Dozent an meiner Uni ist. Es ist nur die Frage, ob die Studenten aus diesem Seminar das auch so sehen…

      Florian sieht mich immer noch an und scheint auf eine Erklärung zu warten.

      „Ich, äh, ich bin mit George, also mit Mister Darnett hier“, erkläre ich. Florian zuckt die Schultern.

      „Ach so.“ Ihn scheint es nicht weiter zu kümmern und ich atme erleichtert auf.

      Wir sind mittlerweile die letzten, die noch vor der Tür stehen. „Die anderen warten sicher schon“, sage ich entschuldigend und gehe auf das Hotel zu. Florian folgt mir schweigend und wir betreten das Haus. Mir verschlägt es die Sprache.

      „Ist das krass“, höre ich ihn hinter mir sagen. ‚Krass‘ ist noch ganz schön untertrieben. Wir stehen direkt in einem langen Flur, der irgendwo in gefühlten hundert