Lucie Tourmalin

Nur ein Märchen?


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kannst du ins Hotel fahren und dich ausruhen?“

      Ich überlege kurz. „Nein“, antworte ich dann entschieden, „ich komme mit. Aber nur kurz. Ich habe einen Bärenhunger und muss unbedingt etwas essen.“

      George trommelt seine Gruppe zusammen und führt uns zum Eingang des Backstage-Bereichs. Er wedelt ganz wichtig mit irgendwelchen Papieren herum und verschafft uns Einlass. Seine Studenten sehen ihm bewundernd zu und treten ehrfürchtig durch die schmale Tür hinter der Bühne.

      Dort tummeln sich die Schauspieler, Helfer, Visagisten, Bühnentechniker und Gäste, die sich wie George vorher angemeldet haben. Am anderen Ende des Raumes erkenne ich Kriemhilds Mutter Ute, die schon in Jeans und Turnschuhen ist, aber immer noch ihre mittelalterliche Kopfbedeckung trägt. Auch König Gunther kann ich zwischen den vielen Menschen sehen. Er wird gerade von einem Reporter interviewt und scheint wenig Gefallen daran zu finden, denn er zieht ein ziemlich mürrisches Gesicht.

      Georges Studenten fühlen sich hier pudelwohl und sind schon in alle Richtungen verstreut. Florian steht gerade bei einem Bühnenhelfer und lässt sich von ihm die verschiedenen Schwerter zeigen, die während der Vorstellung zum Einsatz gekommen sind. Er strahlt über das ganze Gesicht, als der Mann ihm ein Schwert überreicht und er damit wild in der Luft herumfuchteln darf.

      Unwillkürlich muss ich lachen. So ein Kindskopf. Auch George hat jemanden gefunden, mit dem er sich unterhalten kann, es ist ein eleganter Mann mit grauen Haaren, der einen schicken Anzug trägt und wichtig aussieht. Die beiden unterhalten sich angeregt und George gestikuliert wild, was er meistens tut, wenn er aufgeregt ist.

      „Hey, du scheinst mir ja ein echter Fan zu sein“, sagt jemand neben mir. Aus Reflex drehe ich mich zur Seite und da steht Kriemhild, noch komplett in ihrem Bühnenoutfit. Ich bin ganz perplex und drehe mich zur anderen Seite, sie hat sicher nicht mit mir gesprochen. Doch da steht niemand.

      Ich sehe sie wieder an, sie lächelt mir freundlich zu. Sie scheint wirklich mich zu meinen.

      „Ich, ääähhh, was meinst du?“ Ok, ich muss unbedingt daran arbeiten, mich auch dann, wenn ich unerwartet angesprochen werde, souverän zu verhalten und in ganzen Sätzen ausdrücken zu können.

      Kriemhild lächelt noch immer. Sie deutet auf meinen Armreif. „Na, der Armreif. Gibt es den mittlerweile im Souvenirladen?“ Ich verstehe die Worte, aber ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht.

      „Hä? Was denn für ein Souvenirladen? Und welcher Armreif?“, frage ich leicht verdattert.

      „Deiner. Und meiner“, sie hebt ihren Arm und ich sehe einen Armreif, der meinem tatsächlich sehr ähnlich sieht. Mehr als das. Er sieht auf den ersten Blick genau gleich aus. Jetzt bin ich ganz verwirrt.

      „Äh, Kriemhild, ich verstehe nicht, ähm, also, was ist das mit dem Armreif?“

      Sie lacht laut auf, es ist ein helles, unbeschwertes Lachen. „Also eigentlich heiße ich Lisa.“ Sie streckt mir die Hand hin, ich schüttele sie, immer noch ganz neben der Spur.

      „Äh, ja, und ich bin Hilda.“

      „Okay Hilda, ich glaube, ich habe dich hier gerade ziemlich überfallen. Ich muss mich schnell umziehen gehen, was hältst du davon, wenn du mich begleitest und ich dir erkläre, was ich gemeint habe?“ Lisa ist mir auf Anhieb sympathisch und ich möchte unbedingt diesen leicht zurückgebliebenen Eindruck wettmachen, daher willige ich spontan ein.

      Wir bahnen uns einen Weg zum anderen Ende des Raumes, wo sich hinter einer unscheinbaren Tür der Flur mit den Garderoben der Darsteller befindet.

      In der Umkleidekabine angekommen, verschwindet Lisa hinter einem Paravent und ich setze mich auf einen Stuhl neben einem Frisiertisch.

      „Also“, beginnt sie, während sie sich umzieht, „ich sah dich vorhin dort stehen und da ist mir sofort dein Armreif aufgefallen. Ich habe mich darüber gewundert, weil es vor ein paar Monaten – wir waren noch mitten in den Proben – eine große Diskussion darum gab, ob dieser Armreif für den Verkauf im Souvenirladen angefertigt werden soll.“

      „Welcher Souvenirladen?“, frage ich interessiert nach.

      „Es gibt in der Fußgängerzone einen kleinen Laden, die verkaufen allen möglichen Nibelungen-Kram“, erklärt Lisa, noch immer hinter dem Paravent.

      „Die haben Tassen, T-Shirts, Poster, Kalender, Kugelschreiber, Schlüsselanhänger und was weiß ich noch alles. So typischen Touristenkram halt. Und alles mit Motiven der Stadt Worms, dem Dom und eben mit Nibelungenmotiven. Und der Inhaber des Ladens kam auf die Idee, sein Sortiment zu erweitern und in dieser Saison erstmals auch Schmuck anzubieten. Aber Wolfram Wiesenthal, der Chef der Festspiele, war dagegen. Es gab ein ewiges Hin und Her. Und ich dachte eigentlich, Wiesenthal hätte sich durchgesetzt und den Verkauf des Schmucks verboten. Wiesenthal setzt sich immer durch, so kam immerhin auch sein Sohn Markus, dieser Nichtsnutz, an die Rolle des Hagen von Tronje.“ Sie lacht und kommt hinter dem Paravent hervor. Jetzt trägt Lisa eine Jeans, ein gelbes T-Shirt und Ballerinas im gleichen Farbton. Den Armreif hält sie in der Hand.

      „Schön und gut, aber ich verstehe immer noch nicht, was das mit meinem Armreif zu tun hat“, versuche ich erneut, ihr meine Verwirrung zu erklären.

      „Na, das ist der Armreif, von dem ich dachte, dass er überhaupt nicht erst produziert werden durfte. Und jetzt hast du ihn, also wurde er doch hergestellt, obwohl der Chef es nicht wollte.“

      „Warum wollte er das denn nicht?“ hake ich nach, die ganze Sache ist mir noch immer ein Rätsel.

      „Keine Ahnung“, antwortet Lisa schulterzuckend, „das hab‘ ich nie richtig verstanden. Es hat mich auch ehrlich gesagt nicht so brennend interessiert. Ich habe ja den hier“, sie hält ihren Armreif hoch, „und wenn ich den mal verlieren sollte, dann habe ich noch zwei auf Reserve in der Schublade.“ Sie öffnet ein Fach an ihrem Frisiertisch und darin liegen verschiedene Schmuckstücke, die alle sehr alt und sehr wertvoll aussehen.

      „Wahnsinn“, rufe ich erstaunt, „und solche teuren Sachen liegen hier einfach so rum?“

      „Ach was“, meint Lisa gelassen und schüttelt den Kopf, „das ist doch nur wertloser Modeschmuck.“ Modeschmuck? Mir fällt meine Chefin Agnes von „Pizza-Pasta-Pronto“ ein, die meinen Armreif auch immer als Modeschmuck bezeichnet.

      „Du meinst, das hier ist alles nicht echt?“, will ich wissen.

      „Ganz sicher nicht. Hier, nimm!“ Lisa hält mir ihren Armreif und eine weitere Kette hin. Beides fühlt sich nach Plastik und ganz leicht an. Erstaunt wiege ich den Schmuck in der Hand.

      „Tatsächlich, das ist ja wirklich nur Spielzeug!“

      „Ja, deiner denn etwa nicht?“ Sie sieht meinen Armreif neugierig an. Ich nehme ihn ab und reiche ihn ihr, er ist sehr viel schwerer als ihrer.

      „Das ist ja der Hammer! Haben die für den Souvenirladen tatsächlich richtigen Schmuck hergestellt!“ Sie hält die beiden Armreifen in ihren Händen und wägt sie prüfend ab.

      „Äh, nein, der ist nicht aus dem…“ …Souvenirladen, wollte ich gerade sagen, aber die Tür fliegt auf und Hagen von Tronje stürmt herein.

      Aus der Nähe betrachtet, sieht er sogar noch viel besser aus als vorhin auf der Bühne – was bei Männern nicht immer der Fall ist. Manchmal sieht man jemanden von weitem und denkt sich, er wäre total super, und von nahem verliert er deutlich an Attraktivität.

      Nicht so dieser Hagen-Typ. Wuschelige braune Haare, sehr dicht und mit sehr viel Mühe so gestylt, dass es ungestylt aussieht, markante Gesichtszüge, tiefbraune Augen, ein sehr männlicher Typ, Marke Hugh Jackman, nur zehn bis fünfzehn Jahre jünger.

      „Lisa, draußen ist die Presse und will Fotos und Interviews, aber die Hauptdarstellerin sitzt in ihrer Umkleide und hält Kaffeeklatsch!“, fährt er sie an. Lisa gibt mir meinen Armreif zurück und lächelt Hagen giftig an.

      „Ach, hat der Papa wieder seinen Wachhund losgeschickt. Oder eher einen Hütehund, der die Schäfchen herbeitreiben