Lucie Tourmalin

Nur ein Märchen?


Скачать книгу

      Alle Wände sind mit grau-braunem Lehmputz versehen, der immer wieder kunstvolle Aussparungen hat, in denen man das altertümliche Mauerwerk bewundern kann. Der Fußboden ist mit dicken Holzdielen ausgelegt, die knarren, wenn man darüber geht.

      Ich kann es nicht fassen. Keine Lounge, keine Wohlfühl-Sesselchen, keine Bar, an der man mit einem Cocktail begrüßt wird – nur ein kleiner Empfangstresen steht verloren in einer Ecke. Schockiert stelle ich fest, dass noch etwas Wesentliches fehlt: Elektrizität.

      An den Wänden hängen Fackeln, die den endlos langen, fensterlosen Flur in ein unheimliches, flackerndes Licht tauchen. Ich bin in der Hölle.

      George beginnt mit der Hilfe einer Dame in mittelalterlichem Outfit, die Zimmerschlüssel zu verteilen. Ich nehme an, sie ist dann wohl die Chefin dieses Etablissements.

      Mein bester Freund strahlt, als er die fassungslosen Gesichter seiner Reisegruppe sieht. Gut, die anderen sind genauso entsetzt wie ich. Wenn wir gemeinsam meutern, können wir George vielleicht dazu überreden, kurzfristig in ein richtiges Hotel umzuziehen. Oder eine kleine Pension. Hauptsache raus hier. Er wird dann zwar sicher beleidigt sein und schmollen, aber das werde ich schon in den Griff bekommen. Jetzt heißt es nur, schnell handeln. So lange die Zimmerschlüssel noch nicht komplett verteilt und die Zimmer bezogen sind, habe ich eine realistische Chance.

      „Äh, George!“, rufe ich aufgeregt.

      „Ja, Darling“, antwortet er geschäftig, „hier ist unser Zimmerschlüssel, ich dachte, wir teilen uns ein Zimmer. Geh doch schon mal vor, während ich den Rest hier erledige.“

      George drückt mir einen riesigen Schlüssel in die Hand. Was soll ich denn damit aufschließen? Den Wormser Dom vielleicht? Der ist ja schwerer als mein Koffer!

      „Hm, nein, ich denke, es gibt hier ein Problem“, beginne ich vorsichtig. George sieht mich aufmerksam an, es tut mir schon fast leid, dass ich ihm gleich das Herz brechen werde. Ich sehe mich ein letztes Mal um, um mich der Zustimmung der anderen zu meiner Meuterei zu versichern.

      Zu meinem Entsetzen bemerke ich, dass sich die anfängliche Überraschung der anderen in restlose Begeisterung verwandelt hat!

      „Ist ja cool hier“, „Total abgefahren“, „Ich fühl’ mich schon wie ein richtiger Ritter!“, „Jippie, ich bin ein Burgfräulein!“, „Hahaha, Burgfräulein, du bist eher eine Küchenmagd!“ – bitte was? Ich sehe in dreißig Gesichter, die genauso strahlen wie das von George. Glänzende Augen, bewundernde Blicke, ein dämliches Grinsen. Die finden es echt super hier!

      Na toll, so im Stich gelassen kann ich den Hotelwechsel vergessen. George sieht mich immer noch erwartungsvoll an.

      „Honey, wo ist das Problem?“, fragt er, ein wenig ungeduldig.

      „Hat sich erledigt“, murmle ich schnell und ziehe mit dem riesigen Schlüssel los, um unser Zimmer zu suchen. Nummer sieben. Gefunden.

      Die mächtige Tür lässt sich dann doch erstaunlich leicht öffnen. Ich stoße sie auf und betrete – auf das Schlimmste, aber auch wirklich das Allerschlimmste gefasst – das Zimmer.

      Okay, Wände und Fußboden sind wie im Flur, aber es gibt ein Fenster, damit hätte ich schon fast nicht mehr gerechnet. Neben der Tür ist ein Lichtschalter – eine Attrappe? Nein! Ich betätige ihn und das Licht geht an, also gibt es doch Elektrizität! Ich seufze erleichtert.

      Die Einrichtung ist spärlich, zwei einfache Einzelbetten aus Holz, eine große Kommode und ein Schreibtisch mit zwei Stühlen, sonst nichts.

      Hinter der kleinen Tür zwischen den beiden Betten befindet sich das Badezimmer. Eine Dusche, ein Waschbecken, eine Toilette, ein kleines Fensterchen.

      Es gibt also Strom, fließendes Wasser und Tageslicht. Beide Räume sind sauber, mit schneeweißen Handtüchern und flauschiger Bettwäsche ausgestattet. Ich lasse mich auf eines der Betten fallen. So schlimm ist es gar nicht – wenn man mal von dem etwas gruseligen Flur absieht. Ich denke, sechs Nächte kann ich es hier schon aushalten.

      Kaum sind wir angekommen, müssen wir auch wieder los. George hat für den heutigen Abend den Besuch einer Aufführung im Rahmen der Nibelungen-Festspiele gebucht. Eigentlich habe ich keine große Lust darauf. Ich finde Theater immer so – theatralisch. Schrecklich übertrieben und gestelzt, dem kann ich nichts abgewinnen. Das war schon immer so.

      Selbst im Kindergarten fand ich das Kasperle-Theater reichlich blöd. Während alle anderen Kinder kreischten und „Pass auf, Kasper“ riefen, wenn der böse Zauberer sich von hinten anschlich, saß ich teilnahmslos da.

      Bücher und Filme können mich mitreißen, mich zum Lachen oder Weinen bringen, aber Theater berührt mich nicht. Ich finde es nur langweilig und übertrieben.

      Trotzdem gehe ich mit, denn ich kenne mich in Worms noch nicht aus und möchte nicht den ganzen Abend lang allein durch die Stadt laufen. Und in dem äußerst spartanisch eingerichteten Hotel will ich auch nicht den Abend verbringen.

      Ich schließe mich also der aufgeregt schnatternden Studententruppe und ihrem extrem gut aufgelegten Dozenten an, tappe ihnen aber eher missmutig hinterher, als dass ich mich tatsächlich an irgendwelchen Gesprächen beteilige.

      Florian läuft fast den ganzen Weg neben mir her und erzählt mit flammender Begeisterung, warum er sich so auf den Ausflug freut. Hauptsächlich geht es dabei wohl um sein Faible für alles Mittelalterliche, besonders Waffen haben es ihm angetan.

      Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu, nicke hin und wieder, mache mal „ah“ und „hm, hm“ oder „ach so“, und bin letztendlich heilfroh, als wir das Freilufttheater erreichen und ich meine unsagbar schlechte Heuchelei einstellen kann.

      Sobald wir unsere Plätze eingenommen haben, ist George in sein Programmheft vertieft. Ich lasse den Blick über die Freiluft-Bühne schweifen. Gut, dass wir draußen sitzen. Das Wetter ist schön und vielleicht passiert ja etwas Spannendes.

      Nicht auf der Bühne, meine ich. Die Hoffnung habe ich gar nicht. Aber vielleicht landet ein UFO vor dem Dom? Oder ein Flugzeug stürzt ab? Oder vielleicht wenigstens ein kleiner Wetterballon?

      „George“, frage ich, „wie lange dauert denn dieses Spektakel hier?“

      Erfreut über mein vermeintlich doch noch entfachtes Interesse antwortet er, in seiner Broschüre blätternd – obwohl ich mir sicher bin, dass er sowieso schon alles weiß, was darin abgedruckt ist.

      „Also, die Festspiele finden einmal im Jahr statt, immer für drei Wochen. Es gibt Vorstellungen an…“

      „Nein“, unterbreche ich ihn, „ich meine heute. Wie lange dauert diese Vorstellung heute?“ George seufzt, als er den wahren Beweggrund für meine Frage erkennt.

      „Ach ja, so großes Interesse hast du daran? Ich werde dich wohl nie für die deutschen Sagen oder das Theater begeistern können“, grinst er.

      „Wohl eher nicht“, gebe ich zu, froh, dass er es nun hoffentlich ein für alle Mal einsieht. „Aber wie lange geht das denn jetzt hier?“

      Er schaut ins Programmheft – mit Sicherheit nur, um mich zappeln zu lassen. „Also die Vorstellung dauert neunzig Minuten. Zufrieden? Danach gibt es noch ein Meet-and-Greet mit den Schauspielern.“

      „Aber George“, quengele ich, „ich will nicht danach noch hier bleiben, um irgendwelchen Leuten die Hand zu schütteln. Lass uns doch nach der Vorstellung was essen gehen.“ Ein Gong ertönt, die Stimmen im Publikum werden leiser.

      „Wir werden sehen“, flüstert George mir noch schnell zu, bevor er seine geballte Aufmerksamkeit auf die Bühne richtet.

      Ein Clown mit einer Laute kommt hinter dem Vorhang heraus. Ich nehme an, es soll nicht wirklich ein Clown sein, eher ein Herold oder Minnesänger oder so, aber für mich sieht er einfach nur aus wie ein mittelalterlicher Clown. Er drückt sich sehr gewählt aus und erklärt dem „hochverehrten Publikum“, dass man sich am „königlichen Hofe zu Worms“ befinde, wo die „holde Maid Kriemhild und ihre edlen Brüder“