Lucie Tourmalin

Nur ein Märchen?


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Zwei Minuten sind vorbei, das heißt es bleiben noch achtundachtzig Minuten. Der Clown faselt irgendetwas davon, dass man nun Zeuge der herzzerreißenden Liebesgeschichte zwischen Kriemhild und Siegfried werden würde.

      Himmel, das wird ja immer besser hier. Kriemhild und Siegfried, was sind denn das für Namen? Als George uns davon erzählt hat, dachte ich, er veräppelt uns! Shakespeare hat die Helden seiner großen Liebesgeschichte Romeo und Julia genannt, damit kann man was anfangen. Wer seufzt nicht und denkt: „Hach, ich wünsche mir auch einen Romeo.“ Romeo, der Inbegriff des Rosenkavaliers, des tragisch-romantischen Helden. „Hach, ich wünsche mir auch einen Siegfried.“ Brrrrr, wie das schon klingt. Siegfried. Noch fünfundachtzig Minuten.

      Auftritt Kriemhild. Eine energische junge Frau mit dichtem, dunkelblondem Haar, das zu einem langen Zopf geflochten ist. Sie trägt ein schlichtes langes Kleid aus Samt und eine einfache Kette als einziges Schmuckstück. Nicht gerade der Inbegriff eines Burgfräuleins oder dessen, was man sich unter einer Königstochter vorstellt.

      Kriemhild erklärt ihrer Mutter Ute gerade, dass sie auf keinen Fall bereit sei, ihr Leben einem Mann zu schenken. Ihre Mutter versucht, sie von der Ehe mit einem Königssohn aus Xanten zu überzeugen, doch Kriemhild gibt die Feministin und will sich keinem Menschen unterwerfen, will frei sein, will nicht auf eine Rolle als Ehefrau und Mutter reduziert werden.

      In einem doch recht ergreifenden Plädoyer für die Frauenrechte – erstaunlich modern für das 5. Jahrhundert! – erklärt sie, dass sie denselben Herrschaftsanspruch habe wie ihre drei Brüder.

      Auftritt Gunther. Kriemhilds ältester Bruder, ein gutaussehender Mann in etwas albernen Hosen. Er ist seit dem Tod des Vaters Herrscher über das Königreich Burgund und will dessen Stellung weiter festigen. Sein Begleiter ist ein seltsamer Typ mit dem Namen Hagen von Tronje.

      Er umschmeichelt den König und ist dabei trotzdem äußerst charmant zu Kriemhild und Ute. Wäre er nicht wahnsinnig gutaussehend, würde man ihn für einen schmierigen, ekligen Schleimer halten – das scheint zumindest seine Rolle zu sein. Er wirkt zwar aalglatt, aber trotzdem in gewisser Weise anziehend und angenehm. Wieder ein Beweis dafür, dass gutaussehende Menschen viel eher sympathisch wirken als hässliche, selbst wenn sie es darauf anlegen, der gemeine Bösewicht zu sein.

      Gunther überbringt die Nachricht, dass Siegfried, besagter Königssohn aus Xanten, soeben mit seinem Gefolge eingetroffen sei, um bei ihm um Kriemhilds Hand anzuhalten. Kriemhild ist erbost darüber, dass ihr Bruder dieser Heirat ohne zu zögern zustimmen will. Ute sieht vor allem die Vorteile für Kriemhild, da man Siegfried für einen standesgemäßen Bräutigam hält und Kriemhild selbst einmal Königin von Xanten werden kann.

      König Gunther möchte in erster Linie die politischen Vorteile ausnutzen, da Siegfried als hervorragender Kämpfer gilt und über eine große Streitmacht verfügt. Diese – so Gunthers Hoffnung – würde ihm zu Hilfe kommen, wenn sein eigenes Königreich in Konflikte mit einem anderen geraten würde.

      Hagen gibt zu bedenken, dass man Siegfried nachsagt, er verfüge über den enormen Schatz des verstorbenen Königs Nibelung, den er sich durch eine List angeeignet habe. Außerdem soll er gegen Drachen gekämpft und dutzende dieser Kreaturen getötet haben.

      Kriemhild lässt sich von all diesen guten Argumenten nicht beeindrucken, sie bleibt bei ihrer Meinung: keine Hochzeit. Sie will ihn nicht einmal kennen lernen, den berühmten Königssohn aus Xanten. So viel also zu der großen Liebesgeschichte. Eigentlich ist es nicht mehr als eine Reihe strategischer Überlegungen. Keine Spur von Romantik oder echten Gefühlen. Noch einundsiebzig Minuten.

      Szenenwechsel, Auftritt Siegfried. Ein großer, blonder Ritter mit muskulösen Armen und stahlblauen Augen, er muss der Mister Universum des Mittelalters gewesen sein.

      Siegfried und Gunther treffen aufeinander, Gunther erklärt dem Werber, dass seine Schwester ihn nicht sehen wolle, er selbst aber höchst erfreut über eine Verbindung der beiden wäre. Siegfried beteuert, Kriemhild sei für ihn bestimmt und er werde den Wormser Hof nicht verlassen, bis er sie für sich gewonnen habe.

      Hagen und Gunther beraten sich kurz und schlagen schließlich vor, man könne ein Turnier veranstalten. So werde die Wartezeit überbrückt und man würde sich durch die Wettkämpfe sowohl besser kennen lernen als auch im Kampfgeschick verbessern.

      Während die Männer spielerisch gegeneinander kämpfen, beobachtet Kriemhild das Geschehen vom Fenster ihres Zimmers. Sie weigert sich nach wie vor, die Besucher persönlich zu empfangen, aber sie kann auch nicht – wie sie es ursprünglich geplant hatte – dem Geschehen komplett fernbleiben.

      Siegfried kämpft auf eine Art und Weise, die sie fasziniert. Er ist der mit Abstand stärkste Kämpfer und er scheint keine Schmerzen zu empfinden. Darüber hinaus ist er sehr geschickt und überaus flink, er scheint nie zu ermüden. Was ihn aber am meisten auszeichnet, ist die absolute Fairness im Kampf. Kriemhild beobachtet Siegfried mehrere Wochen lang. Schließlich kann sie ihm nicht mehr widerstehen und verliebt sich unsterblich in ihn.

      Als sie ihren Bruder Gunther davon in Kenntnis setzt, dass sie nun bereit sei, den Werber zu empfangen, ist dieser zunächst schockiert. Auch Hagen von Tronje ist plötzlich nicht mehr von der Verbindung überzeugt. Unter vier Augen besprechen die beiden, dass man angesichts Siegfrieds Stärke und seines Kampfgeschicks befürchten müsse, er werde – sobald er Kriemhild geehelicht habe – durch Mord und Verrat versuchen, das Königreich Burgund an sich zu reißen.

      Zum Feind haben wollen sie ihn allerdings auch nicht, daher beschließen sie, Siegfrieds Loyalität auf die Probe zu stellen.

      Gunther berichtet Siegfried von anstehenden Kriegen gegen zwei der angrenzenden Königreiche und bittet ihn um seine Hilfe. Ohne zu zögern willigt Siegfried ein und seine Armee unterstützt die Burgunder im Kampf. Siegfried selbst reitet mit und besiegt die beiden feindlichen Könige.

      Während der anschließenden Siegesfeier am Königshof in Worms gestehen Siegfried und Kriemhild sich ihre unendliche Liebe. Siegfried schenkt seiner Angebeteten einen Armreif, der Teil des Schatzes der Nibelungen ist.

      Kriemhild nimmt den Reif als Zeichen seiner Zuneigung entgegen und verspricht, ihn niemals wieder abzulegen. Doch Gunther will – auf Hagens Anraten – der Hochzeit immer noch nicht zustimmen. Er beschließt – wiederum auf Hagens Rat hin – seine Zustimmung an eine Bedingung zu knüpfen, die Siegfried unmöglich erfüllen kann.

      Gunther ruft Siegfried zu sich und erklärt ihm, er werde einwilligen, wenn Siegfried ihm helfen würde, die isländische Prinzessin Brunhild für sich zu gewinnen. Siegfried sichert erneut seine Unterstützung zu und sie vereinbaren, am nächsten Tag aufzubrechen.

      Kriemhild ist am Boden zerstört, als Siegfried ihr diese Neuigkeiten erzählt, denn sie durchschaut den Plan ihres Bruders und seines Handlangers.

      Sie erklärt ihrem Geliebten, dass Brunhild, so lange sie Jungfrau sei, über unmenschliche Kräfte verfüge und niemand es bisher geschafft habe, sie zu besiegen. Sie würde aber nur einen Mann heiraten, der dies schaffe. Da Gunther von eher schmächtiger Statur und kein besonders guter Kämpfer ist, ist es unmöglich, dass gerade er die Kriegerprinzessin besiegen kann. Siegfried gibt sich zuversichtlich und gelassen und verspricht Kriemhild, bald mit ihrem Bruder und dessen Braut zurückzukehren.

      In Island angekommen, gibt Siegfried sich als Diener des Burgunderkönigs aus, um seine eigene königliche Herkunft zu verschleiern und Gunthers Vormachtstellung zu bekräftigen.

      Siegfried verfügt über eine Tarnkappe, die ihn unsichtbar macht, was bisher noch keiner wusste und nun auch nur Hagen und Gunther erfahren. Diese Tarnkappe hat Siegfried schon dabei geholfen, sich den Schatz der Nibelungen anzueignen; nun hilft sie ihm dabei, Brunhild zu besiegen, so dass es so aussieht, als hätte Gunther allein den Sieg errungen. Brunhild willigt ein, Gunther zu heiraten und mit ihm nach Worms zu kommen, und Gunther muss sein Versprechen halten: Er gibt die Zustimmung zur Hochzeit von Siegfried und Kriemhild.

      Als alle wieder am Wormser Hof versammelt sind, ist Brunhild verwirrt, da Siegfried plötzlich mit Gunther gleichrangig behandelt wird; sie war aber in den Glauben versetzt worden, er sei ein Untergebener. Ihr erscheint es deshalb