Nina Heick

ZWEI HERZEN


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seine Berührungen oder wenigstens einen Kuss auf die Wange wartete, wenn er von der Arbeit heimkam und seine Aufmerksamkeit stattdessen leidenschaftlich unseren Hunden widmete, Mama und mich ignorierte und sich bereit zum Angriff machte. Er gab uns nie das Gefühl, uns freudvoll zu empfangen, denn wir sollten auf ihn losgerannt kommen. Wir schienen ihm lästig zu sein und stellten die ideale Zielscheibe für seine Unzufriedenheit, seine Wut dar. Es fanden sich immer Gründe, belanglose Kleinigkeiten, die ihn zur Weißglut brachten. Unter anderem das Fahrenlernen auf dem Dreirad, womit ich mich ultraschwertat. Er schüttelte den Kopf – eine seiner häufigsten Gesten, wenn er zum Ausdruck bringen wollte, wie begriffsstutzig wir jeweils waren. Seine Wut galt auch der ihm nicht nachvollziehbaren Fürsorge und intensiven Zuwendung einer Mutter für ihr Kind, dem sie jeden Wunsch von den Lippen ablas. Verwöhnung und Großzügigkeit provozierten seine Kriegsverkündung. Einmal schenkte Mama mir eine goldene Sternschachtel aus Pappe. In ihr war diverser Naschkram enthalten. Als ich klein war, glaubte ich fest an ihre Worte, dass sie mir einen Stern vom Himmel geholt hätte – ohne jeden Zweifel. Ein Stern, der mir gehörte. Zuneigung, die Mutti und ich meinem Vater anboten, lehnte er grundsätzlich ab. Versuchte Umarmungen meinerseits wurden verlegen lächelnd fortgedrückt. Er schloss sich selbst aus und vermied es, uns zu beachten. Am Frühstückstisch teilnahmslos hinter der Zeitung verbarrikadiert – einer Mauer zur Abgrenzung ähnlich –, wagte Susi, ihn zur Rede zu stellen. „Klaas, warum bloß streiten wir uns immer?“ Ohne aufzublicken erwiderte er: „Ich streite mich nicht mit dir, du streitest dich mit mir. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich bin tadellos, ich bin tadelfrei.“ Punkt. Bei Spaziergängen lief mein Vater in drei Metern Abstand voraus, als würden wir nicht zusammengehören, als wären wir ihm peinlich. „Klaas, kannst du nicht mal warten?“, rief Mama ihm hinterher. Sein Beitrag: „Dann müsst ihr eben aufschließen.“ Manchmal machten wir uns einen Spaß daraus und blieben einfach stehen, um zu testen, ob er unsere Abwesenheit bemerken würde. Er drehte sich nicht um. Wir hätten verloren gehen können und es wäre ihm nicht aufgefallen. Susi hisste stets die weiße Flagge und bemühte sich, ein Friedensgespräch einzuleiten. „Kannst du nicht ein Mal sagen: Ich bin auch nur der einfache kleine Klaas, ein ganz normaler Mensch?“ Daraufhin sprang er auf und krakeelte rasend vor Zorn: „Ich bin doch kein einfacher kleiner Idiot! Du bist ja vollkommen bescheuert!“ Mein Vater entschuldigte sich never ever. Er war immer im Recht. Er machte keine Fehler. Noch so viele Freunde konnten sein Verhalten für falsch erklären, er trug keine Verantwortung. Er wusste alles. Vor allem besser. Von Mama weiß ich, dass sie eines Nachts, erfroren wie ein Eisklotz, neben meinem Vater gelegen hatte und seine Distanz nicht mehr auszuhalten schaffte. Ihre Kräfte versagten und in ihrer Verzweiflung wand sie sich an den großen Herrn und bat ihn um Hilfe. „Mir ist so kalt. Bitte schicke mir Wärme und Mut, um durchzuhalten. Ich kann nicht mehr.“ Ihr Ruf wurde erhört und sie wurde von einem hellen Licht, in Form weißer Feuerflammen, durchflutet, das ihr Energie und Traute lieferte, Klaas kundzutun, dass es nicht weitergehe wie bisher und entweder sie oder er ausziehen müsse. Er nahm sich ihrer Entscheidung an und zog ins Gästezimmer im Erdgeschoss. Ich fürchtete mich allein im Dachgeschoss, wo ich zwei Kinderzimmer bewohnte und Geister sah, die es vermutlich nicht gegeben hat. In meinem Kopf erschienen Bilder von einem Mann, der schaurig lachend durchs Fenster spähte oder in der Küche an der Türklinke rüttelte. Visionen solcher Art hatte ich nur im Bauernhaus oder in unserem hundert Jahre alten Haus in Spanien. Das Gefühl, so verrückt es auch klingen mag, verfolgt zu werden. Zweimal wurden die Vorstellungen bittere Realität. Eine davon ganz gewiss, da meine Mutter es bezeugte. Vor dem Dachboden über meinem eigentlichen Kinderzimmer gruselte ich mich abscheulich. Nachts kletterte ich die schmale Holztreppe hinauf, weil ich in meiner Einsamkeit ein Kuscheltier suchte. Dunkelheit machte mich beklommen, ihr musste ich zügig entkommen. Ich suchte blind nach einem Lichtschalter und wurde panisch, als ich weder diesen noch mein Plüschviech fand. Abrupt brach ich das Nachforschen ab, um schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen. Erfolglos. Etwas packte mich an der Schulter und drückte mich zurück. Ich erschrak so heftig, dass ich schrie, sich der Griff löste und ich die Treppe runter fiel. Von dem Zeitpunkt an wollte ich nicht mehr allein schlafen und kroch regelmäßig in das Bett meiner Mutter. Die Schlafzimmertür, vor der unser Rottweilerweibchen Maja stets wachte, wurde grundsätzlich nach meinem Eintreffen abgeschlossen. Die Alarmanlagenbedienung lag immer griffbereit auf dem Nachttisch neben uns. Mamas Vorsicht war nicht unbegründet, da mein Vater es nicht für notwendig erachtete, die Haustür zu verriegeln, wenn er die Hunde ausführte. Eines Morgens hörten wir ihn wie gewöhnlich das Grundstück durch das quietschende Gartentor verlassen und unsere Köter bellen. Kurz darauf wurde mein Albtraum wahr – die Türklinke unseres Schlafzimmers wurde heftig gerüttelt. „Klaas?“, rief meine Mutter ängstlich in die Stille – ohne Antwort. Ich versteckte mich unter der Decke. Nach einer gefühlten Ewigkeit hörten wir ihn und die Tiere zurückkehren. Susi fragte ihn, ob er es gewesen sei, der die Türklinke so heftig gerüttelt hätte, ohne reagiert zu haben, als sie nach ihm gerufen hatte. Sein Kommentar dazu: „Du bist doch vollkommen durchgeknallt!“ Beschränkt, untauglich, für nichts zu gebrauchen. Dieses Gefühl wurde uns übermittelt. Wir sollten funktionieren und dabei auch noch gut aussehen. Vorzeigefrau und Vorzeigetochter. Was wir von uns gaben, war „gequirlte Scheiße“. Ich, die eigentlich aus ungebildeten und armen Verhältnissen kam, brauchte lange, um Neues zu kapieren. In der Schulzeit hinkte ich immer als Letzte hinterher und stellte ein paar Fragen mehr als die anderen. Klaas impfte mir mit Gewalt den Lernstoff ein, den ich verpasste. Handgreiflich wurde er nie, aber er schlug mit Worten um sich, die tiefere Wunden verursachten, als Fäuste es jemals geschafft hätten. Worte, die sich nicht vergessen lassen. Ich besitze die Stärke zu vergeben, wohingegen Mama ihm nicht verzeihen kann. Unmöglich bei seinen zahlreichen Ablehnungen, sobald sie seine Nähe suchte und darauf verwiesen wurde: „Wenn ich nach dem zehnten Mal keine Lust habe, hast du Pech gehabt und musst es eben ein elftes Mal versuchen.“ Überdies nahm er für sein Verhalten gern zum Vorwand, lieben nicht gelernt zu haben. Er sei von seinen Eltern vernachlässigt worden, hätte weder Wärme noch Verbundenheit erfahren, trug kurze Hosen im Winter bei Eis und Schnee, ein eigenes Kinderzimmer besaß er nicht, sein Raum bestand aus einem Bett, das hinter dem Kleiderschrank stand. Tragisches Schicksal, zugegeben. Seinen respektlosen Umgang allerdings kann er damit nicht entschuldigen. Wie viele Beleidigungen musste Mama einstecken. Wie vielen Aufgaben sollte sie nachkommen und wie oft wurde sie kleingehalten, in Stücke zerrissen und verurteilt. Sie war das Aschenputtel, das sich die Finger wund schrubbte, sich beim Kochen verbrannte, sich die Haut an den Einkaufstüten einschnitt, Klaas die Sachen hinterherräumte und an seiner Seite verhungerte, verzichtete und ihre beste Zeit an einen Mann verschenkte, der sie nicht verdiente. Wie ertrug sie diesen Käfig? Sie ertrug ihn für mich. Um mich behalten zu können. Solange ich Pflegekind war, wurden wir regelmäßig von einer Sozialarbeiterin heimgesucht, die den Stand der Ehe und die Familienatmosphäre prüfte. Meine Mutter kämpfte wie eine Löwin und gaukelte frohe Miene zum bösen Spiel vor, weil sie mich um keinen Preis der Welt wieder hergeben wollte. Erst in meinem Alter von fast zehn Jahren, es war Mamas fünfzigster Geburtstag, erhielt sie die Adoptionsurkunde. Eine der seltenen guten Taten, in denen sich mein Vater für mich und uns eingesetzt hatte und Susi das größte Glück auf Erden, wie sie immer so schön sagt, bescherte. Die einzige Freiheit, die sie sich gewährte, bestand aus den Treffen mit der ehemaligen Agenturrunde aus ihrer Zeit als Werbekauffrau. Für mich bedeutete das, den Abend allein mit Klaas zu verbringen. Es verging kein Mal, bei dem ich nicht mit aller Kraft strampelnd plärrte und Mama anflehte, bei uns zu bleiben. Für mich gab’s nichts wie Verlässlichkeit, keine Sicherheit auf ihre Rückkehr. Meine leibliche Mutter Christina ging fort, als ich eineinhalb war. Woher sollte ich dieses Vertrauen nehmen? Mein kreischendes Verhalten verärgerte Klaas bis aufs Maximum und vertiefte mein Entsetzen. Ein Funken Mitleid muss ihn ergriffen haben, wenn er es auf seine Art wiedergutmachen wollte, indem er sagte: „Komm Victoria, setz dich auf meinen Schoß.“ Ekel und Abneigung im Wissen seines nackten, alten Männerkörpers, der sich unter dem Bademantel verbarg. Er gab mir keinen Grund zu der Annahme, mich unsittlich anzufassen. Ich weiß nicht, warum ich daran dachte und seine Bitte verweigerte. Vielleicht weil das der einzige Versuch war, mir zu zeigen, dass auch er eine zärtliche Seite in sich trug, den er wagte. Der Wunsch, dass ich mich auf seinen Schoß setzte. Ich kann mich nur an drei Freuden erinnern, die er mir bereitet hatte. Die Gabe aus freien Stücken, zu der er sonst nicht fähig war. Eine davon war das Mitbringen einer kleinen Naschtüte, wobei