Nina Heick

ZWEI HERZEN


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über die Köpfe rattern, verkleidete Weihnachtsmänner, Jingle Bells in den Ohren, Kerzen, Räucherwerk, Sterne, Mützen, Trank und Fraß, wo man hinsieht. Der unstillbar knurrende Magen beim Anblick von saftigen Fleischspießen und triefenden Bratwürsten, die Nase, die dem süßen Geruch nach Crêpes und Schmalzgebäck folgt. Und vor allem: Quetschen, Schubsen, Schneckentempo, Blindheit, auf Füße treten. Es scheint, als sei der Krieg ausgebrochen. Von Harmonie keine Spur. Erleichterung, wenn die Geschenktüten voll sind und das Portemonnaie enttäuschenderweise leer. Danke, dass wir dieses Jahr nicht bei meiner Tante feiern. Heuchelei und Familienzusammenhaltgetue werden mir erspart bleiben. Für mich gibt es in dem Sinne keine Familie. Meine Mama ist meine Familie. Und mit ihr werde ich Heiligabend verbringen – wie immer. Im Anschluss wird Sven dazustoßen, am ersten Weihnachtstag Ente, Kartoffeln und Rotkohl mit uns teilen und am zweiten wird gemeinsam mit seinen Eltern und Felix afrikanisch gegessen. Ich trainiere schon im Voraus gegen die Fresserei an und bin spürbar angespannt. Nicht zuletzt der Erinnerungen an den Verlust meines Papas wegen. Ich bin weinerlich, launisch und empfindlich. Unerwartete Aggressionsschübe, maßlose Ungeduld und Streitlust, sobald ein falsches Wort geäußert wird.In den letzten drei Wochen schaffte es insbesondere meine Tante, den Bogen zu überspannen. Ich habe viel gearbeitet, was mir finanziell gut gelegen kam, wobei ich mir eine spannendere Tätigkeit vorstellen könnte, als mich während des Shootings ausfragen zu lassen. Böser Beigeschmack, wenn der Chef Privates mit in den Workflow einfließen lässt. Zumal meine Tante eine unerträgliche Art an sich hat, die mich meine Höflichkeit gerne mal vergessen lässt. Nicht nur, dass Claudia sich nicht ausdrücken kann und ich demnach selten auf Anhieb verstehe, was sie mir sagen will, wenn sie wortwörtlich verlangt, „Dings“ zu machen, und unklar beschreibt, dass sich „Dings“ da oder dort befinde, wodurch ich noch immer nicht schlauer bin, aber ich wisse ja, glaubt sie. Da ich es nicht weiß, gibt’s einen fassungslosen, vorwurfsvollen Blick, der so viel wie Du bist einfach zu blöd! signalisiert. Außerdem gehört Einmischung zu ihren liebsten Hobbys. Red Bull zu trinken sei ungesund. Das wäre doch eine künstliche Energiezufuhr. Ob ich etwa müde sei? Die Schuhe, die ich tragen würde, seien für schädlich befunden – so die Medien. Warum ich mit diesen und nicht jenen Werkzeugen die Bilder in Photoshop bearbeite, wie es ihre andere Assistenz tue. (Na und? Hauptsache das Ergebnis ist das gleiche!). Was ich mit meiner freien Zeit anstelle, wo ich doch nicht regelmäßig arbeite, und dass ich mir endlich einen Job suchen solle. Sie traue mir nicht zu, dass ich den Führerschein schaffe, weil sie mich für nicht tough genug und für viel zu ängstlich halte. Das erkenne sie schon an meiner Vorsicht in der Technikhandhabe, woraufhin ich erklärte, dass ich selbstverständlich behutsam mit ihrem Fotoequipment umgehe, weil ich die Verantwortung dafür trage. Sie sehe mich nicht im Fotobereich, da ich total angeödet wirke. Was übrigens keine Lüge ist, da Claudia weder Motive noch Studioaufbau variiert und die einzige Herausforderung im Auf- und Abbau besteht, neben dem Däumchendrehen und Fusselzählen. Mehr als die Tatsache, dass sie in fremden Angelegenheiten nach Schwächen schnüffelt, reizt mich ihr Beweggrund, andere zu kritisieren, während es in ihrer Familie alles andere als glatt läuft. Das wiederum wird natürlich gekonnt weggelächelt. Sie täuscht Interesse und Fürsorge vor, die keine ehrliche Absicht sind, sondern Missgunst, Neid und Unzufriedenheit in ihrem Leben auf andere übertragen, um sich selbst zu erleichtern. Obwohl sie angewidert den Kopp schüttelt und über den Gestank plärrt, sobald ich mir ’ne Fluppe anzünde, erträgt sie das Kettenrauchen ihres Mannes und ihrer Kinder. Ihr Sohn Joe wurde, seit ich denken kann, hochgestapelt. Wohingegen Tochter Judy (meine ehemals beste Freundin) niedergemacht wurde. Warum, frage ich mich bis heute. Joe hat sich geprügelt, die Realschule vergeigt, lange Zeit keinen Job gefunden, durchs Kiffen den Führerschein verloren, keinen Alktropfen ausgelassen und rumgehurt bis zum Umfallen. Er ist ein Angeber, ein Macho und sein Benehmen stets unter der Gürtellinie. Judy ist zwar nicht weniger verdorben, hat aber immerhin ihr Abitur abgeschlossen und arbeitet als Physiotherapeutin. Das ist doch auch Grund zur Anerkennung. Ganz gleich, ob es ihr an Offenheit und Herzlichkeit fehlt, was ihr von Claudia vorgeworfen und Joe zugute geschrieben wird. Allerdings verkennt Claudia, dass sie selbst Schuld daran zu tragen hat, weil sie ihren Joe mit Zuneigung überschüttete, sodass für Judy nichts übrig blieb. Ich weiß mehr über Judy als Claudia jemals aufgrund ihrer Gleichgültigkeit erfahren wird. Ich vermisse die Verbundenheit, die Judy und mich einst unzertrennlich machte.

      Vorbei, aber nicht vergessen

      Als Susi und Klaas mich, Victoria Meyer, am 10.2.1993 zu sich nahmen, war ich fünf. Seit dem 6.12.1991 verbrachte ich meine Zeit im Kinderheim „Nordland“.

      Susi hatte den Entschluss gefasst, ein Kind zu adoptieren, da sie einer Abtreibung mit neunzehn Jahren wegen oder aus schlechtem Gewissen aufgrund dieser keine Kinder mehr bekommen konnte. Frau Schlüter, die Heimleiterin, blickte ihr in die Augen und sagte: „Frau Rickert, ich habe ein Mädchen für Sie. Es ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.“

      „Ich möchte es sehen!“, antwortete meine zukünftige Mutter und folgte der älteren Dame. Schüchtern saß ich auf meinem Bett – mit einer rothaarigen Puppe im Arm, die nichts anzuziehen hatte. Ich sah auf und begutachtete die fremde Frau in dem langen, dunkelroten Wildledermantel mit Plüschkragen. Ihr kantiges Gesicht, ihr kinnlanges, dunkles Haar und unter dem Pony die braungrünen Augen, die mich freundlich ansahen. „Hallo Victoria, ich bin Susi“, stellte sie sich vor. Ihr puderiger, süßer Duft erfüllte den Raum. „Soll ich deiner Puppe ein Kleid stricken?“

      Sie schien aufgeregter zu sein als ich und lächelte breit. Ich nickte. In diesen wenigen Sekunden entstand die Gewissheit, dass sich zwei Menschen fanden, die füreinander bestimmt waren.

      Eine Frau, die ich schon bald Mama nannte, und der dazugehörige Mann, den ich wegen seines cholerischen Wesens und weil ich bereits einen Papa hatte, den ich und der mich liebte, nie akzeptierte.

      Wenn ich von meinem Vater spreche, handelt es sich nicht um meinen Erzeuger.

      Ich unterscheide zwischen „Vater“ und „Papa“. Distanz und Nähe. Mein Vater ist demzufolge Klaas, mein Papa ist Lenn.

      Ein neues Leben sollte beginnen – zwischen Himmel und Hölle. Einer Mutter, die alles gab, was ihr nur möglich war, und einem Vater, der mir einen Teil meiner Kindheit stahl, weil er mir Angst machte, wenn er brüllte, wenn der Schädel rot anlief vor Zorn, die Adern in den Schläfen pulsierten und blau heraustraten. Kälte, Herzlosigkeit und Schärfe. Ich war ein kleines Geschöpf ohne Ahnung vom Leben, von Pflichten und Regeln. Freunde, Möglichkeiten, Bildung und Wohlstand waren mir fremd, ebenso wie Strenge. Allein erzogen vom sanften, labilen Alkoholiker – einem Papa, dem es an Kraft, aber nicht an Zärtlichkeit fehlte – geriet ich an das absolute Gegenteil. Ich stand unter Klaas’ ständiger Beobachtung – getadelt, ermahnt und beschimpft. Wie soll ein Kind Regeln beherrschen, mit denen es zuvor nicht konfrontiert wurde? Gute Manieren zu Tisch – gerade sitzen, mit Messer und Gabel essen, den Mund beim Kauen schließen. Klaas gaffte ununterbrochen auf meinen Teller. Seine Stimme begann beim Unterlaufen von Fehlern lauter zu werden, bis ihn die Geduld verließ (was generell zügig passierte) und sein Geschrei durchs ganze Haus donnerte.

      Ich brach in Tränen aus und bekam schreckliche Magenschmerzen, sodass ich nicht weiteressen mochte und hoch in mein Zimmer rannte. Mama versuchte verzweifelt, meinen Vater zu beruhigen, woraufhin er gänzlich explodierte und nicht mehr zu halten war. Wenn Mama nach dem verlorenen Kampf weinte, meistens zurückgezogen im Schlafzimmer oder auf der Wohnzimmertreppe im zweiten Stock, kuschelte ich mich in ihre Arme und hoffte, sie mit bunten Schokolinsen trösten zu können. Trost, den Klaas ihr niemals entgegenbrachte. Er bevorzugte es, sich stumm umzudrehen oder den Raum zu verlassen, als habe er mit der ganzen Sache nichts zu tun.

      Die Streitereien und das geteilte Leid schweißten Mama und mich zusammen. Oft fragte ich sie, wen sie mehr liebe – Klaas oder mich. Sie versuchte, mir zu erklären, dass sich diese Lieben in ihrer Unterschiedlichkeit nicht miteinander vergleichen ließen, wir ihr aber beide gleich viel bedeuteten. Später gab sie zu, dass sie sich schon immer sicher gewesen war, mich mehr zu lieben als alles andere.

      Mein Vater fühlte sich ausgegrenzt, wodurch sich seine Feindseligkeit verstärkte. Warmherzigkeit und Emotionalität galten in seinen Augen als Schwäche, der man nicht nachgeben durfte. Er war nicht in der Lage, Rührung