über die Köpfe rattern, verkleidete Weihnachtsmänner, Jingle Bells in den Ohren, Kerzen, Räucherwerk, Sterne, Mützen, Trank und Fraß, wo man hinsieht. Der unstillbar knurrende Magen beim Anblick von saftigen Fleischspießen und triefenden Bratwürsten, die Nase, die dem süßen Geruch nach Crêpes und Schmalzgebäck folgt. Und vor allem: Quetschen, Schubsen, Schneckentempo, Blindheit, auf Füße treten. Es scheint, als sei der Krieg ausgebrochen. Von Harmonie keine Spur. Erleichterung, wenn die Geschenktüten voll sind und das Portemonnaie enttäuschenderweise leer. Danke, dass wir dieses Jahr nicht bei meiner Tante feiern. Heuchelei und Familienzusammenhaltgetue werden mir erspart bleiben. Für mich gibt es in dem Sinne keine Familie. Meine Mama ist meine Familie. Und mit ihr werde ich Heiligabend verbringen – wie immer. Im Anschluss wird Sven dazustoßen, am ersten Weihnachtstag Ente, Kartoffeln und Rotkohl mit uns teilen und am zweiten wird gemeinsam mit seinen Eltern und Felix afrikanisch gegessen. Ich trainiere schon im Voraus gegen die Fresserei an und bin spürbar angespannt. Nicht zuletzt der Erinnerungen an den Verlust meines Papas wegen. Ich bin weinerlich, launisch und empfindlich. Unerwartete Aggressionsschübe, maßlose Ungeduld und Streitlust, sobald ein falsches Wort geäußert wird.
Vorbei, aber nicht vergessen
Als Susi und Klaas mich, Victoria Meyer, am 10.2.1993 zu sich nahmen, war ich fünf. Seit dem 6.12.1991 verbrachte ich meine Zeit im Kinderheim „Nordland“.
Susi hatte den Entschluss gefasst, ein Kind zu adoptieren, da sie einer Abtreibung mit neunzehn Jahren wegen oder aus schlechtem Gewissen aufgrund dieser keine Kinder mehr bekommen konnte. Frau Schlüter, die Heimleiterin, blickte ihr in die Augen und sagte: „Frau Rickert, ich habe ein Mädchen für Sie. Es ist Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten.“
„Ich möchte es sehen!“, antwortete meine zukünftige Mutter und folgte der älteren Dame. Schüchtern saß ich auf meinem Bett – mit einer rothaarigen Puppe im Arm, die nichts anzuziehen hatte. Ich sah auf und begutachtete die fremde Frau in dem langen, dunkelroten Wildledermantel mit Plüschkragen. Ihr kantiges Gesicht, ihr kinnlanges, dunkles Haar und unter dem Pony die braungrünen Augen, die mich freundlich ansahen. „Hallo Victoria, ich bin Susi“, stellte sie sich vor. Ihr puderiger, süßer Duft erfüllte den Raum. „Soll ich deiner Puppe ein Kleid stricken?“
Sie schien aufgeregter zu sein als ich und lächelte breit. Ich nickte. In diesen wenigen Sekunden entstand die Gewissheit, dass sich zwei Menschen fanden, die füreinander bestimmt waren.
Eine Frau, die ich schon bald Mama nannte, und der dazugehörige Mann, den ich wegen seines cholerischen Wesens und weil ich bereits einen Papa hatte, den ich und der mich liebte, nie akzeptierte.
Wenn ich von meinem Vater spreche, handelt es sich nicht um meinen Erzeuger.
Ich unterscheide zwischen „Vater“ und „Papa“. Distanz und Nähe. Mein Vater ist demzufolge Klaas, mein Papa ist Lenn.
Ein neues Leben sollte beginnen – zwischen Himmel und Hölle. Einer Mutter, die alles gab, was ihr nur möglich war, und einem Vater, der mir einen Teil meiner Kindheit stahl, weil er mir Angst machte, wenn er brüllte, wenn der Schädel rot anlief vor Zorn, die Adern in den Schläfen pulsierten und blau heraustraten. Kälte, Herzlosigkeit und Schärfe. Ich war ein kleines Geschöpf ohne Ahnung vom Leben, von Pflichten und Regeln. Freunde, Möglichkeiten, Bildung und Wohlstand waren mir fremd, ebenso wie Strenge. Allein erzogen vom sanften, labilen Alkoholiker – einem Papa, dem es an Kraft, aber nicht an Zärtlichkeit fehlte – geriet ich an das absolute Gegenteil. Ich stand unter Klaas’ ständiger Beobachtung – getadelt, ermahnt und beschimpft. Wie soll ein Kind Regeln beherrschen, mit denen es zuvor nicht konfrontiert wurde? Gute Manieren zu Tisch – gerade sitzen, mit Messer und Gabel essen, den Mund beim Kauen schließen. Klaas gaffte ununterbrochen auf meinen Teller. Seine Stimme begann beim Unterlaufen von Fehlern lauter zu werden, bis ihn die Geduld verließ (was generell zügig passierte) und sein Geschrei durchs ganze Haus donnerte.
Ich brach in Tränen aus und bekam schreckliche Magenschmerzen, sodass ich nicht weiteressen mochte und hoch in mein Zimmer rannte. Mama versuchte verzweifelt, meinen Vater zu beruhigen, woraufhin er gänzlich explodierte und nicht mehr zu halten war. Wenn Mama nach dem verlorenen Kampf weinte, meistens zurückgezogen im Schlafzimmer oder auf der Wohnzimmertreppe im zweiten Stock, kuschelte ich mich in ihre Arme und hoffte, sie mit bunten Schokolinsen trösten zu können. Trost, den Klaas ihr niemals entgegenbrachte. Er bevorzugte es, sich stumm umzudrehen oder den Raum zu verlassen, als habe er mit der ganzen Sache nichts zu tun.
Die Streitereien und das geteilte Leid schweißten Mama und mich zusammen. Oft fragte ich sie, wen sie mehr liebe – Klaas oder mich. Sie versuchte, mir zu erklären, dass sich diese Lieben in ihrer Unterschiedlichkeit nicht miteinander vergleichen ließen, wir ihr aber beide gleich viel bedeuteten. Später gab sie zu, dass sie sich schon immer sicher gewesen war, mich mehr zu lieben als alles andere.
Mein Vater fühlte sich ausgegrenzt, wodurch sich seine Feindseligkeit verstärkte. Warmherzigkeit und Emotionalität galten in seinen Augen als Schwäche, der man nicht nachgeben durfte. Er war nicht in der Lage, Rührung