Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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alle Kleidung abwerfen und sich nackt auf dem Grün ausstrecken. Am Fuß der niedrigen und nur provisorisch erhaltenen Einzäunung im hinteren Gartenteil wächst jedes Jahr das gelb blühende Schöllkraut. An den Zaunpfosten, zwischen Büscheln von Gräsern, hält sich der Schwarze Nachtschatten. Eine Kolonie grüner Nesseln mit ihren dicken Stängeln und Blütendolden lockt die Schmetterlinge an. In diesem Garten haben Hermanns Kinder gespielt und unbeschwerte Zeiten erlebt. Davon gibt es Fotos, die Hermann sorgsam aufbewahrt. Durch das satte dichte Grün der Blätter dringen nur wenige neugierige Blicke in Hermanns Garten hinein. Eine Idylle, wären da nicht die Verkehrsgeräusche von der nahen vierspurigen Straße, die zwischen den Fahrbahnen der Autos auch noch zwei Gleise für die Straßenbahn aufnimmt und damit von Nord nach Süd verlaufend durch den östlichen Teil der Hauptstadt Berlin eine breite und schmerzlich trennende Schneise schlägt. Das Laut und Leise, das sich von der Straße her über die Häuser des siedlungsartigen Stadtteils legt, wechselt ununterbrochen, und nur hin und wieder verstummt es für zwei bis drei Sekunden, wenn der zeitliche Zufall in der Ampelschaltung an der weitflächigen Straßenkreuzung jegliche Fahrzeuge zum Stehen zwingt. Die eintretende unfassbare Stille verwirrt dann einen Lidschlag lang die Sinne der Empfindsamen, weckt ihre Wünsche nach völliger Vertreibung aller Fahrzeuge aus dem irdischen Leben, bis der erdrückende Motorenkrach wieder anschwillt und die Menschen schneller laufen, als könnten sie so dem Gebrüll der Straße entfliehen. Von den großzügig bemessenen Grundstücken links und rechts seiner direkten Nachbarschaft sieht Hermann über die Baumkronen hinweg die Ziegeldächer mit den schlanken Schornsteinköpfen auf den zwei- und dreistöckigen, stuckverzierten Häusern aus der Kaiserzeit des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts. Jeden Morgen entschwinden über breite, fachkundig gepflasterte und sorgsam gepflegte Auffahrten dunkle Limousinen aus diesen Grundstücken und folgen der Spur zu einem für Hermann unbekannten Ziel. Schräg gegenüber, auf der anderen Seite der Straße, steht ein Neubau aus den deutschen Wendejahren des vergangenen zweiten Jahrtausends nach Christus. Von diesem deplatzierten Steinprotz wird noch zu reden sein. Hermann schläft morgens ab der fünften Stunde meist nur oberflächlich und etwas unruhig. Es durchfahren ihn Traumbilder, durch die er seine eigenen tiefen Atemzüge vernimmt. Manchmal dringt sogar das Kratzen seiner Bartstoppeln am Bettbezug in den Halbschlaf ein wie ein fremdes sich näherndes und dann wieder sich entfernendes Geräusch, das den Spuk des letzten Schlaftraumes verdreifacht. Hermann empfindet diese schleichende Wach-Traum-Schlaf-Zeit am frühen Morgen nicht als lästig und nimmt sie nicht als entrissene Schlafzeit, nicht als Verlust wichtiger Erholphasen. Sein Aufstehen nach diesen Stunden ist weder gelähmt noch verlangsamt. Er fühlt sich genauso wie nach einer durchgeschlafenen Nacht. Hermann kommt sich mitunter sogar agiler vor, weil alle diese Geräusche, das laute Ticken der Uhr, das Beben der Holzbalkendecke, das Zanken der Elstern, die Schweißarbeiten an der Straßenbahnkreuzung ihm bewusst machen, immer noch im Leben zu sein und alle Gefühle zu haben wie ein Erdenwesen aus Fleisch und Blut. Die banalen Geräusche aus dem Dämmer des anbrechenden Morgens schaffen höchste Momente in ihm. Wie oft muss er sich eingestehen, dass die hellsten Bilder, die pfiffigsten Ideen und die gelungensten Wortgedanken für seine Geschichten gerade in diesen frühen Morgenzeiten geboren werden, ins Greifbare mitunter Erhabene aufsteigen. Hermann möchte alles in sich aufnehmen, was diese frühen Morgenstunden wie von selbst in ihm verschönern. Im Tiefschlaf werden ihm solche hebenden Gefühle nicht geboten. Im Tiefschlaf erfährt er nichts von dem Herzschlag in seiner Brust, als wäre der Tiefschlaf eine Auszeit vom Leben. Der Tiefschlaf kommt ihm wie ein Koma vor. Wenn er das Erleben des frühen Morgens nicht mehr spüren könnte, wäre er abgetrennt vom Leben, dann wäre er mausetot. Sagt Hermann. Später, etwa gegen ein halb sieben Uhr, verflüchtigt sich der seltsame Morgenzauber. Hermanns Gliedmaßen erschlaffen wieder, bleiben unbeweglich und bald erwacht er, wie ein Kind, das nach dem Schlaf die Augen öffnet. Hermann blinzelt dann auf das Weiß der Zimmerdecke, bis sich der Schleier des Halbschlafes über der Raufasertapete auflöst mit einem Geräusch weit hinten in seinem Ohr, als würde Wasser leise knisternd durch ein Leinentuch versickern. Hermann bleibt gewöhnlich noch einige Minuten nach dem Erwachen im Bett liegen, trotz des heftigen Dranges, auf die Toilette zu müssen. Er döst vor sich hin und versucht, diesen oder jenen Traumfetzen nun mit klarem Bewusstsein aus dem Dämmer des Morgens fest zu halten und nach einem Zusammenhang mit seinem täglichen Tun und Lassen abzutasten. Er streckt und dehnt noch seine Beine und knetet mit den Fingern vorsichtig, den Schmerz vermeidend, einen kleinen Gummiball, der immer griffbereit neben dem Bett auf den Nachttischchen liegt, bevor er dann die Bettdecke zurückschlägt, sich aufrichtet und noch einige Augenblicke auf dem Bettrand verharrt. Danach geht er im weit geschnittenen Schlafanzug über den Flur in sein Bad. Ja, eigentlich hat er da noch keinen festen Tritt. Die Badtür bleibt angelehnt. Dahinter hantiert Hermann mit Restschlaf in den Gliedern an einem deckellosen Kästchen aus verleimtem und braun gebeiztem Sperrholz, das auf dem breiten Fensterbrett seinen Platz hat. In dem Kästchen verstaut Hermann Krimskrams. Er sagt Krimskrams zu den Teilen, die sonst, wie er vor sich selber den Kauf des unscheinbaren Kästchens rechtfertigte, ungeordnet herum liegen würden: Pinzette, Sonnenschutzcreme, zwei Nagelfeilen, ein Ehering, eine winzige Tube Öl für den Rasierapparat, eine rote Massagekugel mit Noppen für die Füße, eine Cremedose, ein Minischraubenzieher für die Brille, ein Probierfläschchen mit Parfüm, eine angerissene Packung Tabletten. Das fremde Auge sucht im Bad vergeblich nach einem Schrank, nach einem Regal, nach einer Schublade. Es findet weder einen Haken für die Kleider noch eine Ablage für Wäsche. Es entdeckt statt der vermissten Möbelstücke drei verschieden große Bilder an der Wand und einen breiten Spiegel über dem Waschbecken, wie auch nur wenig Platz für eine Anzahl gewöhnlicher, für die Körperhygiene ausreichender Utensilien, sowie eine runde Uhr mit großen Ziffern. Das Bad ist hell, wirkt nüchtern, fast karg. Die Erwartung, in einem Bad zu sein, fordert noch etwas Verschönerndes. Sie möchte, wohl auch wegen des haftlosen Widerscheins von den Wänden, geradezu unhöflich tadeln, verkneift sich aber den Hinweis auf die Ähnlichkeit von Hermanns Badeinrichtung mit einer Kaue der Bergarbeiter im Schacht. Hermann nähme diesen Vergleich, würde er tatsächlich damit konfrontiert werden, mit einem freudigen Lächeln entgegen, weil ihm einst, als er noch Schüler in der Unterstufe war, während eines ganztägigen Klassenausfluges mit eingestreuter Besichtigung eines Bergwerkes, weil ihm nicht die Maschinenpistole der uniformierten Wachposten am Werktor, sondern das Schlichte und Zweckmäßige der Kaue der Schachtkumpel imponierte und derart als nachahmenswert in der Erinnerung geblieben ist, dass Hermann Jahrzehnte später die Nachahmung ausführte. Hermann würde, falls er sich zu seinem Bad äußern sollte, deshalb für Fremde etwas umständlich erklären und vielleicht auch nur zögernd hinzufügen: Diese Einrichtung habe ich gewollt. Alles im Bad soll ein wenig wie Kaue sein. Aber Hermann wird sich keinem fremden Auge gegenüber erklären müssen. Er wird nicht ohne einen zwingenden äußeren Grund sein kleines Badezimmer Dritten öffnen und sich dadurch eventuell dem Vorwurf aussetzen, es sei eigenwillig eingerichtet. Allein schon in den beiden und nur bei Bedarf zu äußernden knappen Worten ‚gewollt’ und ‚Kaue’ ist das eindeutig Unerschütterliche von Hermanns gestalterischer Badidee auszumachen. Die Sicherheit seiner eigenen Überzeugung, es richtig gemacht zu haben, hält jeden ablehnenden Widerspruch aus. Somit ist Hermann immun gegen jedes weitere nervende Argument zum Warum und Weshalb. Und auch für eine mögliche Bemerkung gelegentlicher fremder Benutzer seines Bades, denen er übrigens nur äußerst ungern ihre Verrichtung gestatten würde, die Bemerkung, die etwa so klingen könnte: „…wäre Dir nicht auch eine andere Raumlösung eingefallen auf den wenigen Quadratmetern…“, gibt es keine Gelegenheit geäußert zu werden, da kein Fremder Hermanns Bad bisher betreten hat und fernerhin auch nicht betreten soll, vor allem, weil Hermann sich nicht verkneifen würde, jeden Nutzer barsch anzuweisen, auf seinem Klo sauberer zu sein als bei sich zu Hause, auf deren Standort, von dem es Hermann übrigens völlig egal ist, ob man dort aufgefordert wird, im Sitzen zu pinkeln und die Bürste zu bedienen, solange Hermann nicht durch Umstände gezwungen wäre, mit seinen empfindlichen Sinnen durch die fremde Klotür zu treten und den fremden Ort widerwillig zu füllen. Überdies würde das fremde Auge in seinem Bad sowieso nicht auf die innewohnende Endgültigkeit der zwei gewichtigen Worte achten, sondern skeptisch auf die helle Eierschalenfarbe der Fliesen schauen und die Raum vergrößernde Wirkung des Spiegels vielleicht gerade noch akzeptieren, aus dem das Licht von der gläsernen Lampe in den Raum zurückfällt. Wahrscheinlich würde der fremde Blick die Beleuchtung lieber von einer Handvoll in die Decke eingelassener Strahler gespeist sehen wollen, als von der ein wenig ältlich