Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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wird. Hermann also will Niemandem eine Erklärung schulden. Sein Bad ist für ihn kein Raum zum Aufhalten. Es ist für ihn ein Raum zum Verschwinden. Es ist ein Raum der übergehenden Verrichtungen vom Schlaf in den Tag und vom Tag in den Schlaf. Der Zweck zählt hier und zu allererst. Wo hat es auf dem Plumpsklo seiner frühen Erziehungsjahre jemals mehr als nur den einen Zweck gegeben, schnell wieder von diesem Ort zu verschwinden? Also sind in Hermanns winzigem Badezimmer die drei abstrakten Bilder an der Wand, das Bidet gleich neben dem Klobecken und die wandhoch geflieste Duschecke vergleichsweise Zeiten überspringende Weiterentwicklungen und erleichternde Vorrichtungen angesichts der damaligen, weißkalkig getünchten Ziegelwände des Donnerbalkens auf dem kalten Hof, an denen die Kinder manchmal ihren Kot abschmierten, wenn entweder die teure Rolle Klopapier geklaut worden war und als Ersatz die regionale Tageszeitung, die den Namen „Freiheit“ trug, nicht seitwärts abgelegt, sondern provokant in Gänze im Loch steckte, unerreichbar für Kinderarme. Nur die zerknüllten Achtelstücken der „Freiheit“ oder die teure papierne Rolle hätten der braunen, fingerspurig grafischen Hinterlassenschaft an der gepinselten Wand einen Ausweg geboten. Nicht zu übergehen ist in Hermanns Bad außerdem das bequem zu bedienende Fenster, neu eingebaut, 16 mm Scheibenabstand, Licht durchscheinend doch blickdicht und schalldämpfend. Das Fenster hat einen handlichen Griff, ist schnell geöffnet und gut geeignet für den morgendlichen entspannenden Blick in den Garten. Das frühere Örtchen, jenes aus der eben angedeuteten vaterstädtischen Rückerinnerung, besaß für die Lüftung und für einen Blick nach draußen in den Garten, so man ihn überhaupt von dieser Stelle aus tun wollte, weil die hölzern harte Kante des rund eingesägten Sitzloches sich schmerzhaft ins Fleisch kerbte und zum schnellen Handeln aufforderte, jenes Örtchen also besaß statt eines Fensters eine rüde Öffnung im Format von zwei kreuzweise im Mauerverband ausgelassenen Ziegelsteinen an der rechten Wandseite. Da strich der Wind das ganze Jahr hindurch. Egal aus welcher Richtung er über das Land kam, mal als heulender Ostwind, mal als lauer Hauch aus der Ebene, immer traf er auf die dünnen Wände des schmalen kalten Abtritts und fand immer seinen zugigen Weg durch das heilige Kreuz hindurch. Bei diesem Gedanken huscht ein seliges Lächeln über Hermanns Gesicht und er gibt einen Eindruck von sich, so wie er da am Fenster steht, mit dem Handtuch lose über der Schulter, ein wenig nach vorn gebeugt schon, ohne Brille, als komme er langsam zurück aus der Erinnerung und prüfe jetzt die Klarsicht seiner Augen, schätze die Regenschwere der Wolken ab und suche am Himmel nach dem Greifvogel, dessen Schrei er soeben aus der Höhe vernommen hat, wie zu den Zeiten des Abtritts, hinten am Ende des Hofes. Noch heute ist es so, und vor Jahrmillionen bereits, seit dem aufrechten Gang des menschlichen Vorfahrens war es so, und zur Zeit des Neandertalers und des Mammuts vor vierzigtausend Jahren wird es mit dem ersten Blick nach dem Aufwachen am frühen Morgen schon so gewesen sein, denkt sich Hermann. Und seit Hermann diesen Blick bei seinem Vater beobachtet und von ihm übernommen hat und bei dessen Vater ihn ebenso bemerkt hatte, sagt er sich: Der erste Blick am frühen Morgen geht nach oben. Der erste Blick ist ein Reflex.

       Für die Geschichte von und über den Hermann

      muss nun ein Umweg gegangen werden. Der Umweg ist in Kauf zu nehmen, damit das Geschehen im Bad verständlich bleibt und der Grund sichtbar wird, warum Hermann sich morgens etwas länger als es die hygienische Sorgfalt erfordert, im Bad aufhält, und sich seine Finger auch noch mit einer angerissenen Packung Tabletten abmühen. Derweil, also während des zu erzählenden Umweges, soll Hermann am Fenster stehen bleiben, und sich nicht davon weg bewegen. Er soll in seinen Garten schauen und vielleicht die Reihenfolge der an diesem Tag von ihm zu erledigenden Arbeiten gedanklich noch einmal durchgehen. Vom Stehen am Fenster werden Teile der einen halben Stunde Wartezeit bis zur einsetzenden Wirkung der Tablette gegen das Wachstum des Knotens in der Schilddrüse verstreichen. Hermann soll ja die eine halbe Stunde Zeit vollständig einhalten, um die Tablette nicht umsonst eingenommen zu haben. Den Auftakt für seinen Gang zu den Tabletten gab Hermann selber, als vor etwa einem halben Dutzend Jahren seine Schilddrüse bei einer Routinekontrolle ins ärztliche Visier geriet. Bis dahin schien Hermann dieses winzige Organ in seinem Körper unbekannt gewesen zu sein, und wenn unbekannt nicht ganz zutrifft, so verhielt er sich diesen Drüsen gegenüber zumindest aber völlig gleichgültig. Jedoch bei dem erwähnten Gesundheitscheck mit einbezogener Blutanalyse zeigte sich eine Auffälligkeit. Der Hausarzt vermutete eine Fehlfunktion der Schilddrüse und in der Sonografie wurde ein unerwarteter Knoten in der rechten Seite des Halses sichtbar. In den darauf folgenden Tagen bis zur vereinbarten Biopsie verbrachte Hermann die Stunden des Tageslichts nervös und gereizt. Äußerlich jedoch, er wäre sonst nicht Hermann, blieb er gelassen. Im Inneren aber konnte er die immer wieder aufkeimende Unruhe nur wenig vertreiben. Er geriet in noch größere Verdrießlichkeit, je mehr er sich einredete, er habe nun eine ernsthafte Erkrankung. Er rang sich zeitweilig aber eine spöttische Seite seines Zustandes ab, in dem er sich die Frage stellte, ob mit der Diagnose, der Knoten befände sich in der rechten Schilddrüse, die rechte Körperhälfte aus seiner Augensicht gemeint sei oder vielleicht die rechte Seite seines Körpers aus der Blickrichtung des Arztes. Die Biopsie brachte kein Ergebnis, sie misslang. Hermann nahm es hin. Er wollte sich die offensichtlich handwerkliche Unfähigkeit des Arztes nicht bewusst machen. Er verlangte keine nähere Erklärung für den Fehlschlag. Er begnügte sich mit der Auskunft, man habe in dem entnommenen Gewebe nichts finden können und ließ seinen Zweifel am Wahrheitsgehalt der ärztlichen Aussage nur eine Weile noch in sich. Sicherlich ist die Biopsie einfach falsch gemacht, vielleicht an falscher Stelle, oder am gesunden Gewebe vorgenommen worden, sagte er sich und ging fortan mit der Existenz seines Knotens um, als wäre es sein unabwendbares Schicksal. Hermann wollte nichts wissen über Gut oder Böse seines Knotens. Es war ihm sogar recht, nichts Weiteres von ärztlicher Seite her in dieser Angelegenheit zu vernehmen. Und auf seine schüchtern und verwundernd fragende innere Stimme, warum er den Gleichgültigen abgebe und sich abspeisen lasse, gab er nicht Acht. Da Hermann an seinem Körper und an seinem täglichen Dasein auch nichts anderes feststellen mochte, als dass alles an und in ihm einen vorzüglichen, tauglichen und sportlichen Zustand habe, ja es ihm alles genauso vorkommen wolle, als wäre der Knoten nie festgestellt worden, vergaß er allmählich und ohne Anstrengung die gedankliche Beschäftigung mit diesem Teil an seinem schon faltig gewordenen Hals und die Angelegenheit geriet über den Notwendigkeiten der immer ausgefüllten, nie langweilig dahingehenden Tage, Wochen und Monate wieder zurück in die verdunkelten Abstellwinkel seines Gleichmutes. Aber irgendein verschlungenes und unbenennbares Areal in seinem Gehirn, aus dem wohl auch die Verwunderung hinsichtlich seiner Gleichgültigkeit hergekommen war, musste die einmal entstandenen Fakten doch verknüpft und Hermann eines frühen Morgens im Bett zu einigen geistigen Aufhellungen geführt haben. Hermann bemerkte an diesem besagten einen Morgen in sich nicht nur ein plötzliches Misstrauen gegen den diagnostizierenden Arzt, sondern in ihm kam auch die Absicht auf, einen neuen Radiologen und einen anderen Hausarzt zu bemühen, sobald er eine ungewöhnliche Reaktion an seinem Hals spüren werde. Hermann wartete deshalb darauf, dass sein Hals nun immer mehr anschwellen würde. Er schaute von Zeit zu Zeit genauer in den Spiegel, tastete und fühlte die linke und die rechte Seite der Halspartie nach Veränderungen ab, stellte sich vor, dass er bald einen Kropf am Hals haben werde, so einen, wie ihn die alte Tante Profalla aus seiner Kindheit besaß, die pustend die Treppe heraufstieg, wenn sie zum Sonntagskaffee an den Familientisch eingeladen worden war. In Gedanken zählte er schon die Hemden in seinem Schrank ab und rechnete sich aus, wie viele Drückknöpfe er ungefähr noch annähen könne, um dem bald mehr und mehr anschwellenden Ungetüm an seinem Hals ausreichend Platz zu schaffen und trotzdem der Hemdkragen noch zuzuknöpfen möglich bleiben sollte. Sein empfindsamer Hals sollte solange gewärmt bleiben, bis durch den angeschwollenen Umfang der Kauf neuer Oberhemden unausweichlich würde und die neue Halsweite den Kropf dann auch ohne Druckknöpfe wieder verbergen könnte. Die neuen Hemden hätten dann allerdings einen immensen Halsumfang. Sie entsprächen dann bestimmt nicht mehr seiner normalen Körpergröße, wären viel zu weit und besäßen Ärmel so lang wie für einen Schimpansen. Hermann verpönt den Kauf neuer Dinge, wenn die alten noch nicht verschlissen oder aufgebraucht sind. Aber bei einem Kropf wollte er eigentlich nicht kleinlich sein. Jedoch an seinem Hals zeigte sich weder ein Verschleiß noch eine körperliche Schwellung, noch irgendeine andere Auffälligkeit. Die Missbildung blieb aus. Der Kropf an seinem Hals kam nicht. Und so behielt Hermann seine Hemden mit der Kragengröße vierzig im Schrank. Alle zwei Tage zog er ein frisches hervor und knöpfte