Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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dem Behandlungsstuhl ein Aufflackern. Eine Verlockung, eine Art dritter Variante erotischen Erlebens. Eigentlich mehr. Eigentlich so etwas wie der Anflug eines Wunsches nach spontaner Verführung. Aber mit dem Wunsch zog auch gleich die Ernüchterung als Widerpart in Hermann ein. Die Ernüchterung, dass sexuelle Verführung nichts weiter sein würde als eine flache, billige und gaukelnde Erwartung eines zweifelhaft bereichernden Erlebnisses. Die kann man aber auch im Internet abrufen, anschauen und sich selbst befriedigen. Hermann hat sich in seinen Gedanken verheddert und schweift ins Weite ab. Ach, wie ist das Leben ungerecht! Aber es ist so eingerichtet worden von den Menschen. Zu dieser Einrichtung gehört auch der drehbare Behandlungsstuhl in der Arztpraxis. Der spielt Hermann übel mit. Hermann schaut durch das Fenster der Praxis. Die langfahnige Gardinenverblendung lässt einen schmalen Spalt frei. Hermanns Blick fällt auf die gegenüber liegende Straßenseite, auf die wuchtigen dunklen Stämme der Bäume. Ein Mann mit gestutztem grauem Vollbart geht dort drüben gemessenen Schrittes den Fußweg entlang, den Staubmantel über der Schulter. Vielleicht geht der dort, sagt sich Hermann und er will sein Selbstvertrauen wieder herrichten, vielleicht geht der dort in diesem Augenblick mit ähnlichen Bildern und Gedanken, wie sie mich eben durchgeisterten, geradewegs zum Psychiater und legt sich dort auf das Sofa und erzählt von dem erotischen Aufleben in seinem Kopf. Vielleicht trägt er die Hoffnung in sich, seine Phantasien vor der Umgebung verbergen zu können, aber auf dem Sofa auf eine Erklärung für das bildhaft Gesehene zu erhalten und eine Antwort darauf zu finden, weshalb ihn in seinem fortgeschrittenen Alter noch sexuelle Erinnerungen unverblasst durchziehen und ob dieser Zustand auf einen psychischen oder pathologischen Schaden deutet oder ob er völlig normal denkt und empfindet und seine Vorstellungswelt durch eine repräsentative Studie eventuell bestätigt wird und unterstützende Belege dafür bereit hat. Das Sofa eines Psychiaters hat Hermann gelegentlich in US-amerikanischen Filmen bemerkt. Er verachtet Filme aus Hollywood wegen ihres Kitsches und ihrer flachen Story. Und eben wegen des häufig strapazierten Sofas. Der Doktor Freud bot den Patienten seinerzeit ein bequemes Sofa an, eine Couch, bedeckt mit einer großgemusterten gewebten Decke und einer Handvoll weicher Kissen. Ein heutiger Psychoanalytiker hat vielleicht statt der Kissen nur eine harte mit Papier überzogene Liege im Behandlungszimmer aus Beachtung der allgemeinen Hygienestandards. Wer will schon den Geruch des schwitzenden Vorgängers wahrnehmen, wenn er sich mental reinigen lassen möchte. Da ist so ein einfacher drehbarer Behandlungsstuhl wie dieser hier bei der jungen Ärztin viel praktischer. Hermanns abweisende Art und mäkelnde Unruhe ist nur Oberfläche. Ginge er klar an die Dinge, müsste er sich selbst der Flachheit bezichtigen. Er weiß nichts Genaues von amerikanischen Filmen, sieht sich keine an, hat lediglich ein paar Erinnerungen daran aus vergangenen Jahrzehnten und er weiß ebenso nicht, welches Interieur die Praxis eines Psychoanalytikers heute ausmacht. Er war noch bei keinem und würde dort freiwillig auch niemals berichten wollen und „freie Einfälle“, wie von Freud erwartet, würde er sowieso nicht auf dem Sofa zustande bringen können. Sicher muss derjenige, der sich getraut, die Psyche analysieren zu lassen, von seinen Einfällen berichten. Solche Einfälle eben, wie sie Hermann als sexuelle Erinnerungen bei der Untersuchung seines Halses bildhaft gesehen hat. Aber vielleicht muss er seine Einfälle, wie sie Hermann erlebte, mangels Couch nur auf einem solchen einfachen Behandlungsstuhl beschreiben und darüber berichten. Das wird dem Berichten und dem Beschreiben aber nicht entgegen kommen, sondern es schwieriger machen, weil der Stuhl sich leicht hin und her dreht, und es dem auf dem Stuhl Sitzenden ja ohnehin schon innerlich dreht, je nach seiner Verfassung. Wie sollen auf einem solchem Stuhl erotische Sehnsüchte und sexuelle Einfälle mit Worten beschrieben werden können, wenn die Unterlage wackelt? Am besten lässt man die Beschreibung bleiben und lässt den Psychiater unbehelligt mit der Frage nach den sexuellen Spiegelbildern. Erotische Vorstellungen in Worte zu fassen ist von vornherein und mit großer Wahrscheinlichkeit ein Unding. Erotik ist eine persönliche Welt, eine Körpererregung, eine ganz private Empfindung und keine Prosa für irgendjemandes Ohren, noch dazu, wenn sich aus der individuellen Erotik sexuelle Vorlieben und Erlebniswünsche frei machen. Was der Analytiker aus der Richtung der Couch oder des unruhigen Drehstuhles zu hören bekäme, müsste er, es ist ja seine Aufgabe, statt zu wiederholen in neue Worte fassen, und zudem in eine Fachsprache kleiden, diese brieflich zurück oder weiter an den überweisenden Hausarzt richten, und dieser würde dann dem Probanden-Patienten auf dem angenommenen drehbaren Behandlungsstuhl wiederum die Diagnose rückvermitteln. Er würde versuchen, ihm begreiflich zu machen, warum ihn solche Bilder narren. Ob dem erotisch Verwirrten oder Verirrten, dem angefochtenen Patienten hilft, helfen kann, überhaupt helfen soll, was zuvor mehrmals übersetzt und in andere Worte transponiert werden musste? Übersetzungen sind Fehlerquellen und der Anfang von falschen Interpretationen. Und kann der Psychiater überhaupt alles verstehen, was der Patient empfunden hat? Beide, Patient wie auch der Arzt, haben eine Vorstellung geäußert. Sie ordnen jeweils ihren Worten einen Sinn zu. Ist es der gleiche Sinn? Haben sie das gleiche Empfindungsvermögen, die gleiche sprachliche Gewandtheit? Was passiert, wenn der auf der Couch Liegende oder auf dem Stuhl Sitzende nicht die zutreffenden Worte findet für die Schilderung seiner sexuellen Vorstellungen oder für den Spaß oder für die unerfüllte Suche nach Befriedigung? Liefert er dem Psychiater nicht dadurch ungewollt den Stoff für eine halbwahre Diagnose? Und demzufolge für eine fragwürdige Therapie? Wir sind alle viel zu gebildet, um diese Frage beantworten zu wollen. Hermann richtet sich auf seinem Stuhl in der Arztpraxis wieder empor und strafft sich soweit es geht. Er erinnert sich wieder seiner Frage, wofür die empfohlenen und auf Rezept verordneten Tabletten gut sein mögen. Die Ärztin hat ihm noch nicht geantwortet. Die Millisekunden Reaktionszeit im Kopf der jungen Ärztin sind längst vorüber. Und Hermann ist jetzt auch wieder in der Lage, auf seine Art über diesen misslungenen Untersuchungstermin nachzudenken, während er sich das Hemd überstreift. Die Antwort der jungen Ärztin gerät ausführlicher, als es Hermann recht ist. Die Antwort erscheint ihm aber zu lang und zu ernst auf seine doch deutlich und mit gespielt lockender Naivität gestellte Frage. Als er zurückgekehrt ist und vor seiner Haustür steht, bemerkt er das leichte Zittern in seinen Händen. Er fingert am Schloss herum. Das Schlüsselbund rasselt. Im Haus hängt er seine leichte Sommerjacke lose an den Haken. Wo er doch sonst den Bügel benutzt. Hermann wäscht sich die Hände und beginnt im Bad zu hantieren. Er stellt sich vor den Spiegel. Er hinterfragt sich, was er da in der Arztpraxis eigentlich für einen Typen abgegeben hat, warum er sich so sperrig verhielt. Er hat sich unvernünftig und gestelzt aufgeführt. Er hat sich daneben benommen, glaubt er. Er wird den Vormittag brauchen, um sich wieder aufzubauen und wieder der alte zu werden. Und an die erklärenden Worte der jungen Ärztin kann er sich im Moment auch nicht mehr genau und nicht mehr eindeutig erinnern. Er fühlt sich zu abgespannt, zu müde. Die Erinnerung an die Worte der Ärztin würde jetzt nur oberflächlich gelingen. Er versucht es trotzdem. Er stellt sich vor, Lisa würde ihn danach fragen. Also strengt er sich an. Die Antwort gelingt ihm nur bruchstückhaft. Seine Erinnerung gebiert Worte, die nur indirekt den Zweck der verordneten Tabletten beschreiben. Lisa müsste sich damit zufrieden geben. Aber so richtig will sich Hermann jetzt überhaupt nicht im Kopf mühen und will nicht wortgetreu und auch nicht ausführlich die Empfehlung der jungen Ärztin rekapitulieren. Zwar hatte er sie vernommen, hatte genickt, als würde er ihr zustimmen und mit dem Nicken signalisieren, er habe nicht nur die Worte verstanden, sondern auch die darin enthaltenen Informationen über den Zweck der Therapie abgespeichert. Während die Ärztin zu ihm sprach, saß er ja vor ihr auf dem Behandlungsstuhl, aufrecht und endlich, endlich dann angelehnt, noch etwas beeindruckt von dem erlebten unverhofften erotischen Gefühlskino, so dass sich über die Erläuterungen der Ärztin zu den Tabletten und ihrem Zweck auch immer wieder die anderen Sinne drängten. Er bemerkte dabei auch, dass sein eigenes äußeres Gebaren vor der Ärztin noch keine feste Kopplung zu seinem Inneren fand, nach innen, zu seinem Reaktionskern. Hermann ereichte sich selbst nicht. Er reagierte zwar äußerlich, in seiner Haltung, normal, aber ohne die erforderliche Korrelation nach Innen. Die ärztlichen Informationen legte er grob sortiert irgendwo im Gedächtnis ab, nicht benutzbar für das sofortige Abrufen, für die verständliche Wiedergabe. Stattdessen durchforschte er sich. Er machte eine Gemütsstimmung in sich aus, die er als „mit mir zufrieden“ umschrieb. Er glaubte die Zufriedenheit zu haben bereits von dem Moment an, als er die ärztliche Praxis verließ. Und eine solche Stimmung ist für Hermann etwas Grundlegendes und Vorteilhaftes. Nach und nach würde er dann schon aus der Antwort der Ärztin mehr als nur Allgemeines und Emotionales herausfiltern können wollen, bagatellisierte er seinen Zustand. Jetzt puzzelt er