Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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„wir“ gebrauchte. Hatte er anderes erwartet, oder das „wir“ nur überhört? Er sann der Bemerkung noch einmal nach. Sie hatte tatsächlich den generösen Plural, die lässige Geringschätzung, die mit der Verbrüderungsrhetorik des „wir“ einhergeht, vermieden. Hermann stoppte sofort die Überlagerung aufgekommener alter Gedanken auf die neuen. Er ist doch Patient in der Gegenwart. Da gibt es das „wir“ nicht, sondern das Abstand haltende „Sie“. In der Gegenwart nimmt der Arzt den Patienten ernst. Aber vom letzten Jahrhundert holte Hermann aus seinem Gedächtnis die Erinnerung herbei, dass sich der Arzt hie und da das Vertrauen beim Patienten durch eine lässige Entpersönlichung und Verniedlichung der Krankheit erschlich, was ihm leicht gemacht wurde, da der Patient zum Arzt hoffnungsvoll aufschaute. Der Arzt machte die Krankheit klein und rückte sehr nahe heran an den Patienten mit näselnder Stimme: „Ja, wo fehlt es uns denn? Was machen wir denn für Sachen?“ Hermann sah den groß gewachsenen dicken Doktor seiner Kinderzeit vor Augen, der ihm gegen die häufig auftretende Mandelentzündung Tabletten verschrieb, das abendliche und morgendliche Gurgeln ans Herz legte und Bettruhe verordnete. Und eines Tages kam dieser dicke Arzt auch an Mutters Bett, wegen ihrer Koliken, die wohl von der Galle herkamen, da Mutter gern fett aß. Der kleine Hermann war deshalb zuvor an eben diesem Tage mit der anderen, der Gott erbarmenden Angst um die kranke Mutter zum dicken Arzt gerannt, natürlich vom Vater auch zusätzlich geschickt, damit der auch Anteil habe am Gesunden seines Weibes und nicht nur unschlüssig herum stehen, und zwischen Bett und Küche irgendwie nur fehl am Platze scheinen sollte. Und das Kind Hermann war mehr als gerannt, bis ihm die Luft weg blieb und die heiße Lunge nichts mehr hergab außer Keuchen und Röcheln an dem einem Nachmittag mitten in der Arbeitswoche. „Du, sage deiner Mutter, ich komme in einer Stunde“, antwortete der dicke Arzt. Und dann kam er in einem sehr alten Auto vorgefahren, ging ins Haus, fand das Schlafzimmer. Er setzte sich an den Bettrand sprach mit Hermanns Mutter, tastete sie ab. Und Hermann hörte ihn zu Beginn seiner Untersuchung eben dieses fragen, woran er sich jetzt erinnerte: „Ja, wo fehlt es uns denn? Was machen wir denn für Sachen?“ Mutter sah ihn in gläubiger Erwartung und tränennassen Augen an. Hermann hatte immer gedacht, der Dicke da an Mutters Bett sei ein Kinderarzt und würde nur die Kinder der Straße gesund machen, und nur die Kinder in der Stadt duzen. Im Krankenbett aber liegt das Du anscheinend immer näher als außerhalb des Bettes. Oder war Mutter in ihrem Bett wieder Kind geworden? Sie heulte ja wie ein Kind und krümmte sich. Mutter hatte Schmerzen in ihrem Leib und die Angst vor den Schmerzen noch obendrein. Die Angst vor dem Schmerz löscht die Persönlichkeit aus. Und eine kranke erwachsene Mutter heißt dann eben wie ein Kind: Du. Die Ärztin, vor der Hermann jetzt zur Untersuchung saß, sprach unbeteiligt, ja, wie es Hermann vorkam, sogar ein wenig gleichgültig im Tonfall und mit einem sachlichen Abstand, der wohl dem Altersunterschied zwischen ihr und dem Patienten Hermann hätte geschuldet sein können. „Ich werde Sie noch einmal untersuchen. Nehmen Sie bitte im Untersuchungszimmer 2 auf dem Stuhl platz. Dort, auf diesem da.“ Und sie zeigte durch eine geöffnete Tür in den anderen Raum auf einen dort mittendrin platzierten drehbaren Stuhl ohne Armlehnen. „Die Jacke können Sie anlassen. Aber den zweiten Hemdknopf bitte öffnen. Ja, noch ein wenig weiter aufmachen. Geht das? Ja, so reicht es schon.“ Hermann vernahm ihre schnellen kurzen Schritte hinter sich, verspürte einen leichten Lufthauch aus ihren Körperbewegungen. Sie nimmt kein Deodorant, dachte er noch, da waren ihre Hände auch schon wieder an seinem Hals, legten sich vom Rücken her um ihn. Leichtes Gleiten, Drücken und Tasten mit den zweiten und dritten Fingern. Es wurde still. Ihr Atem kam sanft aus ihrem Mund strich um Hermann herum. Hermann begann zu pumpen, auf einmal bebte sein Brustkorb. Hermann wurde aufgeregter auf seinem Stuhl. Er sah links von sich eine angejahrte flache Liege stehen auf schlicht gedrechselten Holzfüßen. Die vorderen Füße waren schief, als hätte jemand wütend dagegen getreten. Über der dunklen Bespannung erkannte er eine durchsichtige glänzende Folie. Darauf lag lose und leicht herabhängend eine weißliche Papierbahn, länger als ein menschlicher Körper und wie es aussah, für die weitere Benutzung vorbereitet. Hermann spürte, wie sein Arm sich nach dieser Liege ausstrecken wollte, wie es ihn drängte, sie zu berühren, als sei er erst dann überzeugt von der realen Körperlichkeit der Liege und von seiner eigenen Anwesenheit hier in der Praxis. Wenn er doch die Liege jetzt benutzen könnte, die harte Unterlage unter sich fühlen könnte, anstatt auf dem Drehstuhl sitzen zu müssen so aufrecht, dass es ihm Mühe machte. Erst auf der Liege würde er das Gefühl haben, wirklich in ärztlichen Händen zu sein. Der Kittel der jungen Ärztin berührte Hermanns Rücken. Zu beiden Seiten schoben sich ihre schlanken Beine um den Drehstuhl. Er sah ihre hellen Socken, schaute auf die Riemen ihrer Sandalen, auf das grüne Linoleum des Fußbodens. Ihr Atem strömte wieder geruchlos, umfächerte seinen Hals, durchfuhr seine Haare. Hermann versuchte zu entspannen, irgendwie aus der Beklemmung zu kommen und aufzuweichen, um seinen Groll endlich zu überwinden. Da hieß sie ihn: „Machen Sie sich bitte mal frei. Nur oben ´rum.“ Hermann stand auf. Er bekam erneut Gänsehaut. Er zog die Jacke aus, raffte kurzerhand mit überkreuzten Armen sein T-Shirt samt Unterhemd, zog beides über den Kopf und legte die baumwollenen Sachen lose über den Rand der Liege mit den schiefen Beinen. Die Ärztin prüfte seine Haltung und die Waagerechte seiner Schultern. Dann fuhr sie mit einem Gegenstand, den Hermann nicht erkennen konnte und der in ihm ein elektrisierendes Gefühl verursachte, an der Wirbelsäule entlang. Sie fragte ihn nach dem Wachstum der braunen Flecken auf seiner Haut, ließ ihn ein paar Mal kräftig durch den Mund ein- und ausatmen, das Stethoskop dabei auf verschiedene Stellen von Hermanns Rücken und auch noch auf Brust und Bauch haltend. Die Arzthelfrein kam und fragte nach den Werten der Blutdruckmessung. 135 zu 81 hörte er die Ärztin sagen, dann ging die andere wieder aus dem Raum. Hermann und die junge Ärztin standen sich allein gegenüber. Ihre Haare..., dachte Hermann auf einmal. Hermann sollte sich erneut umdrehen. Sie pochte ihm auf den Rücken, hämmerte mit ihren Händen in seine Nierengegend und fragte, ob ihm das Schmerzen bereiten würde. Wenn ja, wo am heftigsten. Hermanns Gesicht begann sich zu röten. Er empfand keine Schmerzen. Und als wäre es nicht genug, forderte die Ärztin während des Drückens und Klopfens Hermann auf, für das nächste Mal einer Blutprobe zuzustimmen, die er zu dem neuen Termin auf nüchternen Magen, natürlich frühmorgens vor halb acht Uhr, im winzigen Laborraum nebenan, von der ebenfalls neuen Krankenschwester vornehmen lassen sollte. „Sie sind doch damit einverstanden.“ Halb verdutzt, halb sich schnell befragend antwortete er: „Ja.“ So kam er zum zweiten Mal vor die junge Ärztin, schneller als ihm lieb war. Mit einer fixen Körperdrehung, die Hermanns Eintreten galt, warf ihm die Ärztin hinter ihrem Schreibtisch, noch bevor Hermann auf dem Behandlungsstuhl wieder Platz nehmen konnte, mit freundlichem Gesicht die Frage an den Kopf, warum er, der mündige Patient Hermann, den Knoten an seinem Hals nicht habe bereits behandeln lassen. Der Knoten sei inzwischen, äußerlich zwar nicht erkennbar, innerlich aber unzulässig gewachsen. Das ergebe sich mit hoher Wahrscheinlichkeit aus einem Vergleich mit den Daten der ersten Untersuchung, die vor einigen Jahren erfolgt war und die aus Hermanns alten, aber noch nicht im Archiv abgelegten Patientenunterlagen herangezogen wurden. Und sogleich begann sie mit ihren jungen weichen Händen genau wie zum ersten Termin an Hermanns Hals zu tasten und zu fühlen. „Haben Sie Beschwerden beim Schlucken oder beim Sprechen? Wenn sie sich sputen, ist die Untersuchung im laufenden Quartal noch zu erledigen, und es würde keine neue Praxisgebühr anfallen. Die Überweisung für den Radiologen mache ich gleich fertig. Die Assistentin an der Aufnahme wird sie Ihnen aushändigen.“ Dem Wachstum entgegen zu treten heißt für Hermann jeden Morgen auf nüchternen Magen eine Tablette einzunehmen und geduldig, der heilenden Wirkung wegen, bis zum Frühstück dreißig Minuten zu warten und die Wartezeit mit dem auszufüllen, wofür sich tagsüber nie die richtige Gelegenheit bietet, das Ölen der Scharniere an der Haustür zum Beispiel, oder das Küchenfenster putzen, oder den Blick auf die Leute aus dem Haus gegenüber etwas länger ausdehnen. Aber davon später.

       An dieser Stelle ist der gedankliche Umweg

      erst einmal zu Ende, der verständlich machen sollte, warum Hermann morgens an der Tablettenpackung hantiert und danach, so wie jetzt, für einige Momente und wenn das Wetter nicht zu kalt ist, am geöffneten Fenster steht und wartet, bevor er anderes tut. Mit diesem Blick aus dem Fenster vergeht ein Teil von der geforderten Wartezeit und Hermann hebt am Fenster den Kopf, schaut, wie wir wissen, nach oben zum Firmament und danach schaut er ins Freie und in den Garten mit seinem Grün. Und manchmal durchströmt ihn eben jenes behagliche Gefühl von