Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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Wirklichkeit Gutsherr über Wälder, Wiesen und Äcker zu sein. Aber mehr als eine kurze heimliche Gedankenschwärmerei von einem anderen Dasein lässt sein nüchterner Verstand nicht zu. Und aus dem Widerstreit zwischen dem die Seele bewegenden Wunschbild und dem sachlich ausbremsenden Verstand huscht über Hermanns Gesicht ein Lächeln und hinterlässt ein kleines Amüsieren in ihm zurück über sich und seine seltsam einfältige Träumerei. Da drängt sich plötzlich ein anderer Gedanke über die Äcker, Wiesen und Wälder der Gutsherrenphantasie und schiebt Hermanns sehnsüchtige Träume von der bäuerlichen Gegend wie einen breit hängenden Vorhang zur Seite. Denn aus diesem zweiten Arztbesuch ist noch etwas mit Temperament nachzuarbeiten, nicht ganz ohne Ironie und voller Vermischung von hohlem Unfug, schaumigen Gedankenblasen, gefühlter Täuschung und johanniszeitlicher Aufwallung. Hermann gleitet gedanklich wieder auf den Behandlungsstuhl in der Arztpraxis. Im Verlauf dieser zweiten ärztlichen Sprechstunde ist Hermann zunächst noch etwas unruhig geblieben, und er kann seine erneut aufgetretene Verlegenheit über die Jugend der Ärztin und über die Umstände, wie er mit ihr zusammen gekommen ist, noch immer nicht ganz beherrschen. Es entstehen ein paar unverdächtige Bemerkungen zwischen beiden und als Hermann die ruhigen Bewegungen und die routiniert geführten Handgriffe der Ärztin bemerkt, wird er schnell wieder der Alte und öffnet erneut den Mund zum Sprechen und ordnet seine Worte zu der provokanten wie dämlichen Frage, die er im Sitzen stellt, mit einer leicht und flüchtig nach rechts angedeuteten Bewegung über seine Schultern hinweg: „Wofür, Frau Doktor, sollen die Tabletten gut sein, helfen die denn überhaupt?“ Als wenn sich Hermann den erwünschten Nutzen der verschriebenen Tablettenpackung nicht mit seinem gesunden Menschenverstand oder auf eine, dem Allgemeinwissen entnommenen Art und Weise einigermaßen selber erklären könnte. Hermann ist doch nicht auf den Kopf gefallen. Der Hermann fragt scheinheilig und wie ein vorwitziger zehnjähriger Knabe über das Abtasten hinweg. Er fragt allerdings nicht grundlos und nicht einfach so aus Laune in die Situation hinein, weil er sich eventuell nicht im Griff hat. Hermann möchte auch nicht ein vorgespieltes, ein scheinbares Unwissen damit beseitigen. Er will sich zu allererst von dem peinlichen Vorwurf der Sorglosigkeit befreien, will die eingangs erlittene Schlappe, warum er den Knoten nicht behandeln ließe, nicht auf sich sitzen lassen. Zumindest will er die ihm von der Ärztin unterstellte Vernachlässigung der bereits seit längerem bekannten Diagnose mit seiner maliziös geblödelten Frage nach der Wirkung der Tabletten abschwächen und klein reden. Hermann will ablenken, er will die Zweifel an der Wahrheit seiner eigenen Ignoranz gegenüber der medizinischen Behandlung des Knotens beseitigen, gänzlich ausrotten. Ohne den Knoten im Hals wäre seine Stirn glatter geblieben. „Haben Sie Misstrauen gegen die Schulmedizin?“, fragt die Ärztin zurück. Ein Lachen entspannt den Raum zwischen beiden. Woher weiß sie von seiner Abneigung gegen Tabletten? Oder ahnt sie seine Abneigung? „Na, nee, nee nee. Ich meine, es gibt keine vernünftige andere Chance, gesund zu werden, als die Schulmedizin an sich heran zu lassen, sonst bleibt man krank, wird nicht mehr gesund.“ Da setzt Hermann eine billige Bemerkung hintendran: „Entweder zum Facharzt oder man ist dem Fatum ergeben.“ Noch blöder kann er ihr nicht kommen können. Eine kleine Pause entsteht. Er stutzt. Sie schweigt. Hermann beginnt sich zu ärgern über seinen Schwachsinn und denkt, sie wird jetzt die Banalität des kurzen Austausches erst aus dem Fenster entweichen lassen. Sie wird solche Bemerkung von ihm nicht erwartet haben. Warum hat er nicht die Homöopathie erwähnt? Stattdessen spricht er vom Fatum und von Selbstheilung. Wichtigtuerei! Wo doch die andere Chance, einer Krankheit Herr zu werden, bei der Homöopathie liegt, weniger bei der Selbstheilung. „Worauf legen Sie Wert?“ fragt sie wie nebenbei und kommt auf ihn zu. Und dann fragt sie noch: „Ja, worauf verlassen Sie sich eigentlich. Auf den Arzt? Oder sagen sie sich, es wird schon alles gut gehen.“ Hermann: „Ich habe die Gene meiner Vorfahren, hoffentlich, bei denen niemals… Schilddrüse? Nein. Ist mir als Krankheit nicht bekannt. Nein, nein. Mein Vater wurde über neunzig Jahre alt und hatte keine Beschwerden. Da möchte ich auch hin.“ Hermann will aufatmen nach seiner Antwort. Die weichen Hände der jungen Ärztin bereiten ihm Unbehagen. Sie gleiten ihm zu warm über die seitlichen Hautpartien, sie tasten geübt und mit leichtem Druck vorn oberhalb der Schlüsselbeine jene Stellen am Hals ab, die ihn in die jetzige Situation gebracht haben. „Sie müssen locker bleiben, ich tue ihnen doch nichts Schlimmes an.“ Die Ärztin fühlt weiter an seinem Hals. Hermanns Hemd wird nass. Schweiß rinnt unter den Achseln, nichts als Schweiß. Was soll er jetzt bloß machen? Er kann nicht einfach sagen, halt, warten Sie einen Augenblick, und dann vom Stuhl aufstehen, zum Becken gehen, den Wasserhahn aufdrehen und sich waschen. Hermanns Augen huschen hin und her, durchsuchen den Raum nervös und aufgeschreckt und wollen etwas erspähen. Aber es ist nichts weiter geschehen, als dass die warmen Fingerspitzen der jungen Ärztin unerwartet sanft seinen nackten Hals berühren. Die Hände einer Fee müssen so sein, denkt er. In Kindergeschichten, da kommt immer mal eine Fee vor. Welche von den Geschichten war denn das nur? Aber angefasst hat die Fee nichts und niemanden. Die Fee hat in den Geschichten geschwebt. Leichtes Antippen und wieder entfernen und erneutes Antippen. Ja, die Fee ist die Ärztin. Wirklich, der Zauber kann beginnen. Die Finger der Ärztin schneiden ihm den Atem ab. Und seine lächerliche Frage, ob die Tabletten helfen würden, gerade noch wie in einem Zweierspiel mit der Ärztin in den Raum geworfen, wird mit einem Schleier zugedeckt und weg gewischt. Sein Körper zuckt zusammen, es überzieht ihn ein Schaudern und ihm ist, als würde er immer steifer werden. Jetzt sitzt er regungslos auf dem Stuhl. Das knisternde Geräusch ihrer weißen Ärmel an seinem Ohr verwandelt sich in ein hallendes Rauschen, das von den Wänden zurück geworfen wird und sich über ihn legt. Von ihren Fingerspitzen spürt er einen leichten Druck. Hermann muss hastig schlucken. Ihre warmen Hände legen sich mit der ganzen Fläche auf seinen Hals. Vor Hermanns Augen flimmert es und weiße Pünktchen tanzen, entschwinden, kommen wieder, tanzen. Seine Schultern fallen nach vorn. Hermann fühlt so, als… ja, es ist gewiss so,… er weiß es einfach nicht mehr, ob er überhaupt jemals mit solcher Macht, die Hände, diese warmen Frauenhände an sich gespürt hat, ob er jemals zu solch einer Empfindung fähig gewesen war, wie sie ihn jetzt auf diesem ungeschickten Behandlungsstuhl so benommen macht. Hermann hat Frauenhände schon lange nicht mehr gebraucht. Sie sind für nichts mehr an ihm gut gewesen. Ihr Fehlen hat er nicht beklagt. Mit dem Abtasten an seinem Hals aber scheint aus seiner Vergangenheit her wieder etwas in ihm sich los zu machen und sogleich eine Unruhe in ihm sich auszubreiten, über deren Wühlen in seinem Körper das Blut mehr und mehr und ziemlich stark in Wallung gerät und sein Brustkorb sich nun übertrieben hebt und senkt. Und je länger er sich wie verirrt im gedanklichen Erinnerungsnebel verfängt und sich fragt, was ihn in Gottes Namen so in Erregung bringt, und wo das enden soll, desto deutlicher wird ihm, dass Jahre vergangen sind, seit Frauenhände seinen Körper so sanft berührten. Wie viele Jahre? Wie lange sind die Frauenhände schon weg? Hermanns Puls pocht in den Adern. Es hämmert in seinem Körper, als würde urplötzlich nach einem langen versteckten Dasein etwas voreilig und nachlässig Abgelegtes aus ihm hastig wieder herausbrechen. Wärme treibt den Schweiß weiter seinen Rücken entlang. Bis in die Fingerspitzen wird ihm heiß. Und aus einer tiefen Schicht seines Bewusstseins werden auf einmal wie von selbst deutlich klare, erotische Bilder frei gegeben. Über alle seine Sinne, die er zu beherrschen glaubt, wiederholt sich in ihm ein Drang, der ihn als Teenager am Körper eines Mädchens in schwindelnd ausladendes Verlangen trieb. Längst hat Hermann an Frauenkörpern kein Vergnügen mehr und fühlt auch keine Schwierigkeit, erotischen Phantasien locker eine Absage zu erteilen, sie als lästig und hinderlich zu empfinden. Und nun aber, plötzlich, dieses unerwartete Aufwallen. Er tastet, riecht, schmeckt die Begierde und eine Stimme fragt ihn: „Woran denkst du, Hermann? Was geht in dir vor? Dein Mund ist so wässrig geworden.“ Hastig und voller innerer Unruhe rückt sich Hermann auf dem Stuhl zurecht, nimmt wieder eine gerade Haltung ein. „Möchten Sie sich etwas ausruhen?“, fragt die Ärztin, als würde sie in Hermanns unruhigen Körper hineinschauen können und seine Gedanken erraten. Er antwortet mit einem Räuspern: „Nein, danke. Mir fehlt nichts. Vielleicht muss ich nur tiefer atmen, Bauchatmung, ich muss durch das Zwerchfell atmen. Dann wird mir besser. Es ist etwas unbequem auf diesem Stuhl hier.“ Wer ahnt nicht angesichts einer solchen Antwort, dass Hermann dort in dem Arztzimmer sich lieber an einen anderen Ort wünscht, als auf dem Behandlungsstuhl solange sitzen zu müssen, bis die Untersuchung abgeschlossen ist. Die Züge seines Gesichtes haben sich verfinstert. Unsicherheit durchfährt ihn. Er flucht innerlich: Dieser verdammte Stuhl! Diese weichen Hände! Die sollen ablassen von meinem Hals.