Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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die weggefallene Frühsportregel machte ihn vielleicht sogar noch gesünder oder noch reicher. Das Wegfallerlebnis führte zu einer unerwarteten Freude, denn alle freuten sich über die durchnässte Frühsportregel. Vom Wegfall hatten alle bisher nur still gehofft. Und die Hoffnungen auf den Wegfall waren jeden Tag zerschlagen worden, bis, ja, bis der Regen kam. Doch Kinderfreuden sind nicht wiederholbar. Sie sind nicht neu zu erleben. Das ist gar nicht schade. Manchmal wünscht sich Hermann, wie ein Kind zu sein. Es ist an diesem Morgen noch einigermaßen still für die immer unruhige Großstadt Berlin. Noch dringt kein lästiger Dieselgeruch von der Straße her durch das geöffnete Badfenster. Hermann spürt leichten Wind von Südwesten her. Er tritt vom Fenster zurück, atmet tief, sein Brustkorb hebt sich, senkt sich wieder. Den zweiten Atemschub nimmt er durch die Nasenflügel. Er wölbt seine Bauchdecke, hält die Luft wenige Sekunden an, presst sie in seinen Körper, bis er einen leichten Druck im Brustbereich verspürt. Laut bläst er dann seinen Atem wieder aus. Noch einmal verfährt er so, spannt die Muskeln, richtet sich gerade und aufrecht. Ein hohes singendes Rauschen durchfährt seinen Kopf, zieht sich in den Nacken. Dann lockert er sich, lässt die Arme fallen und atmet im normalen Rhythmus weiter. Heute kann er sich auch zu Liegestützen durchringen. Hermann gibt sich die Marke fünfzehn vor. Gelegentlich und wenn er auch die Bauchmuskeln anstrengt und seine Halsmuskeln in die Bewegung mit einbezieht, gelingen ihm auch zwanzig Liegestütze. Aber mehr als fünfzehn Liegestütze zu drücken, ist meist nicht sinnvoll. Bei mehr als fünfzehn wird die Übung mehr und mehr zur Anstrengung gegen den Schmerz in seiner rechten Schulter. Heute also nur fünfzehn Liegestütze, sagt sich Hermann und dehnt noch einmal die Arme nach oben, lässt sie einige Male kreisen, zieht sie an den Rumpf zurück und mit durchgedrückten, leicht gegrätschten Beinen senkt er dann seinen Oberkörper, drückt ihn gegen die Oberschenkel, wiederholt die Dehnung solange, bis seine Fingerspitzen den Fußboden erreichen. Dann geht er in die Hocke, streckt die Beine nach hinten aus und beginnt seine Liegestütze, die er zunehmend keuchend bis fünfzehn abzählt. Über seinem Kopf hängt das Waschbecken. Nach der Fünfzehn schiebt er den Oberkörper gegen die Beine, geht wieder in die Hocke und richtet sich langsam mit lautem Atem nach oben auf. Er sieht seine Röte im Spiegel und die pulsierende Ader am Hals. Er ist froh, für den Erhalt seiner Muskeln etwas getan zu haben aber auch darüber, dass ihm beim Frühsport kein Zuschauer stört. Er kommt sich in der sportlichen Rolle etwas lächerlich vor, voller dümmlichem Eifer. Doch er bleibt beim Frühsport, übt mit Vorsicht und mit der restlichen Bettwärme, die von der Nacht her noch seine Muskelfasern warm gehalten hat. Jetzt schließt Hermann das Fenster, zieht sich die neuen blauen Jeans über die Unterhosen, stopft das T-Shirt unter den Gürtel und greift nach seiner leichten Morgenjacke. Er schlüpft erst mit der rechten Hand und dann mit der linken folgend in die Ärmel und geht, während er den Kragen richtet, in die Küche, um sich den Frühstückskaffee zu bereiten. Hermann nimmt aus dem Hängeschrank über dem Tisch den Messbecher, lässt frisches Leitungswasser hinein, etwa einen halben Liter, und schüttet es durch die schmale Einfüllöffnung in die Kaffeemaschine. Die Wassermenge reicht für zwei große Tassen. Dann knickt er am Falz die Filtertüte um, greift viermal in die Kaffeedose und holt viermal einen Löffel voll Kaffeepulver aus der Dose und dann schaltet er das Gerät ein. Die Kaffeemaschine knarzt und krächzt. Dünnes feines Aroma breitet sich im Raum aus. Leicht schwebt noch etwas Wasserdampf aus der Maschine während der Zubereitung des Kaffees. Es dauert etwa vier Minuten, dann kann er die Kanne auf den Tisch stellen. Hermann nimmt derweil von der Hakenleiste einen kleinen Schlüssel, öffnet die Haustür und geht zum Briefkasten an der Pforte, vorn, wo der Fußweg am Grundstück entlang führt. Von hier aus hat er freien Blick nach beiden Seiten der Straße. Nur wenige Menschen sind um diese Zeit zu sehen. Einige Jugendliche fahren stumm auf dem Fahrrad zu Schule, ihren Blick nach vorn auf den Gehweg gerichtet. In einiger Entfernung kommen zwei Männer hintereinander und mit schräg über die Schulter gehängten breiten, im Rhythmus ihrer Hüften wippenden Taschen den Gehweg entlang. Die modischen Taschen, in die bequem ein mittelgroßes Notebook hineinpassen könnte, verhindern ein lockeres Schwenken der Männerarme, erzwingen eine fortdauernde abstehende Haltung der Arme. Die ausschreitende Gangart der beiden erinnert Hermann an soldatisches Marschieren, auch an die Westernhelden aus dem Kino, die auf einen unsichtbaren Gegner zugehen und blitzschnell den Colt ziehen müssen. Die Männer hier müssen keinen Colt ziehen, aber das Western-Bild gefällt Hermann. In seinem Kopf glimmt es. High noon. Auf den Ahornbäumen entlang der Straße krächzen und lärmen mehrere Elstern und flattern mit lautem Flügelschlag durch das Geäst. Eine nach der anderen fällt im Gleitflug auf die Erde. Vor den Grundstücken parken die ersten anwohnerfremden Autos im frühen Schatten auf beiden Seiten. Nach neun Uhr wird nichts mehr frei sein, geht es Hermann missmutig durch den Kopf. Den ganzen Tag über wird die Straße zugeparkt bleiben, sehr oft bis in die Nachtstunden hinein. Hermann vermeidet es, am Briefkasten länger als erforderlich zu stehen, oder gar die Briefabsender noch an der Tür vorab zu lesen, um nicht die ständig neu hinzu kommenden Autos zu bemerken und die seine Laune nur verderben. Ein Kleinwagen mit der Werbung eines mobilen Pflegedienstes wendet eilig und mitten auf der engen Straße. Der Motor heult auf, stört den morgendlichen Frieden, und entfernt sich über das holprige Straßenpflaster mit klappernden Geräuschen, die aus dem Achsbereich des Autos zu kommen scheinen. Hinter dem Lenkrad sitzt eine korpulente Frau. Sie zündet sich gerade in dem Moment des Vorbeifahrens eine Zigarette an. Sie sitzt steif, scheint wie eingequetscht zwischen Lenkrad und der Lehne ihres Sitzes. Ein Dummi sitzt so, denkt Hermann und dreht den Schlüssel im winzigen Schloss an der Leerungsklappe des Briefkastens herum, nimmt die Tageszeitung und die erste Briefpost heraus, sieht erneut, aber nun schon von hinten auf das sich entfernende kleine Auto mit der adipösen Frau und fragt sich halblaut die Lippen bewegend, wie eine Person mit derartiger Leibesfülle überhaupt einen Pflegedienst erledigen kann. Hermann wettert sofort innerlich los und brubbelt seine Gedanken vor sich hin. Es hört ihm niemand zu. Wenn Lisa jetzt an seiner statt die Zeitung aus dem Briefkasten nähme, was hätte sie bemerkt? Aber nein, Lisa würde die Fettleibige in dem kleinen Auto gar nicht sehen. Lisa interessiert sich nicht für den Pflegedienst. Nicht einmal am Kaffeetisch kann Hermann das Thema Altenpflege ansprechen. Lisa schiebt das Altwerden von sich weg. Sie hat Angst vor dem Altwerden. Sie ekelt sich davor. Der Pflegedienst existiert nicht für Lisa. Doch! Lisa hätte vielleicht doch etwas gesehen. Dass der Zaun zur Straße hin allmählich rostet. Aber dass sie den Rost sehen würde, statt der Dicken im Auto, ist nur eine Vermutung, die Hermann hat. Er weiß nicht wie seine Lisa am frühen Morgen denkt. Und Hermanns Stimmung bessert sich überhaupt nicht, wenn er den Gartenzaun vor Augen hat. Es schaudert ihn, wenn er an die Menge kleinteiliger Arbeit denkt, die er sich mit dem Zaun wieder aufbürden würde, wollte er den Zaun in die Liste der Erhaltungsleistungen für das Haus aufnehmen. Er sieht heute Morgen lieber das Fahrzeug mit der dicken Frau, wie es in die Richtung der nächsten Querstraße abbiegt. Was will sie dort, diese Dicke? Hermann spinnt sich ein schnelles Bild von ihr zurecht, wie sie vor seinem Haus umständlich in die kleine Parklücke einparkt, die Wagentür öffnet und sich aus dem Fahrzeug heraus zwängt, ihre Tasche greift und ihr T-Shirt, auf dem sich bereits dunkle Schweißflecken zwischen den Schulterblättern zeigen, mit schüttelnder Armbewegung lüftet und versucht, von ihrer klebenden Haut abzuziehen. Hermann stellt sich vor, er wäre selbst ein Pflegefall und diese Dicke vom Pflegedienst würde zu ihm kommen. Sie würde mit seinem, ihr überlassenen Schlüssel in der Hand, die Gartenpforte öffnen, ihre Massen fünf Stufen bis zur Haustür hoch stemmen und sich dabei mit einem Arm, die Beine unterstützend, am Geländer emporziehen, den Schlüssel heftig im Haustürschloss herumdrehen und dann breit in seinen Flur treten. Hermann würde alles mit wachen Sinnen wahrnehmen müssen, die Tür zu seinem Zimmer steht offen. Es würde ihn ärgern, dass er nicht mehr selbst auf die Beine kommt, die Insuffizienz ihn ans Bett kettet, wer weiß, wie lange noch, und er sich wünscht, endlich davon befreit zu sein, befreit von der Altersschwäche, und von der Dicken. Diese Wünsche würden seine Gedanken bestimmen, sobald er morgens die Augen aufgemacht und dem Dämmerzustand entkommen wäre. Und dann würde er in diesem Zustand an nichts anderes denken wollen als daran, wieder gesund zu sein, die Dicke nicht mehr zu benötigen, beweglich auf eigenen Beinen zu stehen und sich fortbewegen zu können… Da tritt die Dicke aber schon an sein Bett heran. Ihren schweren Schritt hat er gespürt an dem Vibrieren der Dielung. Er wird sich nicht wehren können. Wie oft schon hat er den Zigarettengeruch ihres schweren Atems verflucht, den er nicht ertragen kann, der sich aber auf sein Gesicht legt, wenn sie auf ihn herunter schaut und sagt: „Guten Morgen, Hermann, da wollen