Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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Dosis verwechseln... einen harten Brocken in dem offenen Mund einführen... Wer kann etwas dafür, dass die Peristaltik nicht mehr funktioniert? Hat doch keiner gewusst. Und Atemnot war schon häufiger... ist in der Klarsichtmappe notiert... Ging aber wieder weg. Der Dicken fällt der Pflegedienst zwischen den Wohngeschossen nicht leicht. Sie wird auf der Treppe zwischen den Geschossen keine Freude empfinden, es sei denn, sie hat gleich nach dem Termin Feierabend und kann nach Hause, in ihre Wohnung, in der alles eben ist und sie dort über keine breite Treppe braucht, um in ihr Schlafzimmer zu gelangen. Nur, dass sie sich in es reinquetschen muss jeden Abend. Aber es ist ihr Lebensraum, den mag sie, wie sie sich ihn leisten kann, wie auch ihren Vierbeiner und die Kinder, ihre und seine. Über all dem Unmut, den Hermann ablässt, fragt sich Hermann auf einmal, ob ihm die Dicke nicht leid tun sollte. Er ist doch ziemlich weit gegangen mit seinem Zynismus. Aber er will nichts dafür können an diesem Morgen. Es floss aus ihm heraus, ganz leicht. Die Gehässigkeiten machten sich selbständig, und Hermann hat sie nicht zurückgehalten. Er spürte ein Gefühl in sich, dass sein Lästern ihm gut tut. Lästern hielt er immer für eine Schwäche und für eine Waffe dummer Menschen. Aber jetzt empfindet er das Lästern als Erleichterung, und er muss sich gar nicht anstrengen dabei. Es erhebt ihn, macht ihn gelöst und befreit. Aber wie ein dummer Mensch will er auch nicht sein und nicht so wie diese sprechen. Und sogleich schämt er sich seiner Entgleisungen gegenüber der Dicken. Hermann wird ernst und versucht, von seinen Gehässigkeiten abzukommen, einen anderen Gedanken zu finden. Er will nicht mehr verbal über die Dicke herfallen. Es gelingt ihm nicht. Er ist auf der Lästerschiene, bleibt auf ihr, kann ihr nicht entrinnen. An der Dicken kommt er einfach nicht vorbei. Er bleibt gepolt auf die Dicke vom Pflegedienst, fühlt sich leichter und beschwingter und klimmt sich an ihr empor. Überhaupt kommt dem Hermann dickleibiges Personal einer Täuschung der Pflegebedürftigen gleich. Die Pflegestufe 1 wird die Täuschung vielleicht noch erahnen und mit leisem Zweifel über die Vereinbarkeit von Dicksein und Pflegedienst versehen, in den Tag hutschen. Die Pflegestufe 2 erlebt diese Zweifel schon weniger bis gar nicht, und die Pflegstufe 3 ist nicht in einem Haus mit zwanzig hölzernen Treppenstufen zwischen zwei Wohngeschossen untergebracht. Die Pflegestufe 3 verfügt über Zwei-Bett-Zimmer mit Linoleum, Gitter und Notruftaste und gegebenenfalls mit Fixierungsgurten. Da pflegt es sich weder gemütlich noch unterversorgt. Hermann grinst in sich hinein. Wie zur Bestärkung sie durchschaut zu haben, und das auch nur, weil er sie sie zufällig so eingezwängt im Auto rauchen sah, erkennt er in ihr eine Betrügerin, die den Pflegedienst nur solange macht, bis sie einen vernünftigen BMI bekommen hat und dann kündigt. Also nach ein paar Monaten bereits. Oder sie wird gesundheitlich am Boden sein, was eine andere Form der Kündigung nach sich ziehen könnte. Unter Umständen aber hat sich die Dicke lange bewerben müssen für diesen Pflegejob und ist froh darüber, endlich wieder in Lohn und Brot zu sein und auf ihrem Girokonto monatlich einen Fixbetrag mit einem Pluszeichen dahinter zu erkennen. Noch dazu, weil sie das Pflegen ja gelernt hat. Wird sie in diesem Fall länger aushalten, vielleicht sogar durchhalten, auch wenn sie in ihrem Selbstbild bereits schlank genug geworden ist? Oder wird sie vom häufigen Treppensteigen zwischen Erd- und Obergeschoss von einem anderen Job träumen, von einem weniger anstrengenden? Der erträumte und wenig anstrengende Job ist heutzutage eine Illusion, völlig wertlos. Der erträumte Job ist wie das Versprechen in einer Zeitungsanzeige, gutes Geld zu verdienen, wenn man an der Haustür Lebensversicherungen verkauft. An der ersten Klingel schon zerplatzt der Traum. Das wird der Dicken auch durch den Kopf gehen, wenn sie die Treppen steigt. Ihr ausgeübter Job ist ihr mehr wert als der gewünschte und noch mehr Wert als der Gang zum Sozialamt. Dafür nimmt es die Dicke in Kauf, täglich aus der Puste zu kommen und nicht richtig Zeit zum Essen zu finden. Ihr Gehalt am Monatsende wird für die Ansparung einer soliden Rente nicht ausreichen. Dann wird ihr Gang zum Sozialamt vielleicht doch fällig, irgendwann, vielleicht kurz bevor sie selber zum Pflegefall wird. Aber ihre Zigarette muss sie rauchen. Ihr Atem beschwert sich nicht, wenn sie die Treppe heraufkommt. Der wirklich richtige Fall liegt noch vor ihr im Bett. Die Angelegenheit mit der Dicken kann aber auch eine ganz andere sein, vermutet Hermann. Vielleicht nämlich vermittelte die Arbeitsagentur der Dicken einen Ein-Euro-Job, und deshalb ist sie heute nur vertretungsweise in Hermanns Wohnstraße zu Gange und gibt, wenn ihre Aushilfe beendet sein wird, wieder in der Tafel die übrig gebliebenen Schrippen und die gefleckten Bananen aus dem Discounters an sozial Bedürftige ab. Oder sie macht im Küchenbereich eines Pflegeheimes ihren Job und streitet dort mit der Pflegestufe eins, die das vergorene Dessert verweigert und brüllt die Pflegestufe zwei an, dass beim Essen nicht gekleckert werden darf, und keift mit einem Lappen in der Hand, weil manche der Stufe drei ihren Nachbarn bespucken und dessen Kompott mir nichts dir nichts wegfuttern und dem auch noch die Tablettenschälchen auf dem Nachtisch leeren. Der merkt es gar nicht. Ob sie sich selber aus der Küche des Pflegeheimes versorgt, fragt Hermann. Vielleicht nimmt sie heimlich eine Portion Essen mit nach Hause für ihren Lebenspartner, der seit einiger Zeit auffallend lethargisch in der Wohnung herum hängt und gerade noch den Hund zweimal ausführt, ansonsten am Tage zu nichts mehr richtig Lust hat außer Fernsehen im RTL-Kanal... Hermann schließt den Briefkasten. Er hat genug gesehen und sich genug echauffiert. Er zieht den Schlüssel vom Briefkasten ab und geht zurück ins Haus, in seine Küche, Hochparterre, fünf Stufen, Podest, Windfang. Sanft drückt er das breite Türblatt ins Schloss. Hinter der Tür herrscht die Stille.

       Die Nacht, die auf den Arzttermin folgte,

      legte sich klebrig über Hermann. Sie geriet ihm zur Qual. Hermann verstand nicht, warum er sich herumwarf im Bett, und warum der ihn sonst immer schnell ereichende Schlaf diesmal ausblieb. Nicht das winzigste Moment einer Ermüdung wollte sich einstellen. Im Kopf tobten die Gedanken. Hermann knipste die Nachttischlampe an und machte sie gleich wieder aus. Er schob seinen Körper in die Seitenlage. Nach einer Weile schmerzte ihm die Schulter. Wieder machte er Licht. Er wollte im Buch lesen, aber die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. Draußen vor dem Fenster herrschte die Nacht mit ihrem unruhig dumpfen Grollen und presste ihn zurück ins Untätige. Aber als würde der Teufel sein böses Spiel mit ihm treiben, sollte Hermann bald aus dem Bett fahren. Er sah gegen zwei Uhr morgens auf die Uhr. Er vernahm das nervende jaulende Motorgeräusch eines ungeschickt einparkenden Autos vor seinem Haus. Türen wurden auf und zu geschlagen, der Motor brummte lange im Stand und aus dem Autoradio quäkte eine hohe Stimme in die Dunkelheit hinein. Eigentlich bringt Weniges nur den Hermann aus der Ruhe. Aber der nächtliche Lärm nahm ihm doch die Besonnenheit. Er geriet in Taumel. Wie immer, wenn er sich in bestimmten Situationen, die ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen drohten, ohnmächtig fühlte, begann sein Puls heftig zu klopfen. Wie immer, wenn er sich gegen eine Peinigung auflehnen wollte, aber zugleich das Vergebliche seines Kampfes voraus ahnte, wurde sein Kopf blutleer. Hermann spähte durch das Fenster in die Dunkelheit. Er ahnte, dort unten würde wieder dieser Typ lauern, dieser Zusteller. Der wartet wieder genau in meiner Einfahrt auf die Übergabe neuer, verschnürter Zeitungspakete. Ein widerlicher Kerl. Benehmen ungemütlich und seine Äußerungen zeugten von geringer Bildung. Wie der aus dem Mund roch. Hermann schob sich noch einmal zum Fenster und fand seine Ahnung bestätigt. Der Kerl war wieder da. Diesen Kerl kannte er. In Hermann kochte die Wut. Folgendes Geschehen war dem jetzigen vorausgegangen und hatte sich in Hermanns Gedächtnis eingefressen: Vor einiger Zeit, etliche Male und in unregelmäßiger Folge über Wochen verteilt, war Hermann nachts aus dem Schlaf geholt worden von lauten Geräuschen auf der Straße. Den Lärm nahm Hermann zunächst hin, tat ihn unbeeindruckt, beinahe gleichgültig ab als zufällig hier in der Straße ablaufendes unbändiges Benehmen irgendwelcher jungen Leute. Er drehte sich auf die andere Seite und schlief bald darauf wieder ein. Dann aber kam die Störung zu immer gleichen Zeiten, immer gegen zwei Uhr früh, immer gleiche Geräusche und von dem gleichen Typ mit dem gleichen Auto, wenn Hermann aus dem Fenster in die Nacht hinaus guckte. Hermann geriet allmählich außer sich, trampelte eine Weile im Zimmer hin und her und schürte seinen Hass mit Verwünschungen gegen den Kerl dort am Auto. Der Kerl da draußen machte mit Hermann was er wollte. Hermann schwitzte vor Zorn. Der Kerl aber lärmte. Hermanns Adern schwollen an. Doch kam er sich hilflos und lächerlich vor in Schlafanzug und Hauspantoffeln und noch dazu hinter der Gardine. Nach einer halben Stunde konnte Hermann wieder ins Bett aber an Schlaf war nicht mehr zu denken. Einer jedoch hatte vorausgedacht. Der Teufel war es, weitsichtig und genüsslich in seinem fragwürdigen Dienst. Der versteckte alle Waffen vor Hermann. Er hatte ihm auch sonst keine auch noch so zufällige Gelegenheit gegeben und