Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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Welche Informationen habe ich eigentlich von der erklärenden Antwort der Ärztin einigermaßen schnell parat? Über dem zweiten Gedanken konzentriert er die Frage, was sich vom Inhalt der ärztlichen Sätze tiefer in ihm eingeprägt hat. Und das dritte gedankliche Häuflein umfasst diejenigen ärztlichen Worte, die ihm auch jetzt noch, lange nach der Untersuchung seines Halses, kompatibel mit seiner eigenen Auffassung erscheinen. Wenn Hermann ein Statement hätte abgeben sollen, diese fiktive Gelegenheit gibt er sich öfter vor, auch um seine Konzentration und die Formulierungsfähigkeit zu trainieren, dann würde er folgende Sätze in der Öffentlichkeit vortragen: „Es gibt ein therapeutisches Ziel aber keinen punktgenauen Effekt in der Behandlung durch Tabletten. Es gibt kein: Entweder tritt dies ein oder jenes; kein: Wir werden dies oder jenes erreichen. Das Ergebnis der Therapie wird erst am Ende der zu verabreichenden Tablettenserie feststellbar sein.“ Und damit wäre er zufrieden und mit seinem Statement fertig und ginge seiner Wege. In der Tat gibt es kein konkretes Ziel, an das Hermann sich im Nachhinein erinnert. Im Moment erinnert er sich nicht an Konkretes. Er könnte und würde auch nichts von dem konkret Gesagten zusammenfassen und benennen wollen. Gedächtnisstreik, jedenfalls in solcher Form oder ähnlicher. Nicht einmal grobe Details hat er sich merken wollen. Hermann ist unter Stressbedingungen nicht zu sonderlichem Ehrgeiz auf Details bereit. Feinheiten parat zu halten und abzuwägen unterliegen einer strategischen Orientierung. Die große Lage muss herausgefiltert werden. Hermann muss die weite Aussicht haben. Details bleiben folglich für Hermann in seiner noch nicht wieder normal geordneten Sinnesverfassung hinsichtlich des Knotens am Hals wenig evident. Erst einmal will er sein Inneres psychisch auf die neue Lebenslage einstimmen, wenn nicht sogar sein tiefstes Inneres mit ihr verbünden. Deshalb hat sich Hermann von einigen Sinnen abgekoppelt. Der neue Zustand strengt ihn an. Ihn interessieren nicht die Jodwerte, nicht die Unter- oder Überfunktion, nicht der TSH-Wert. Das Wachstum des heißen oder des kalten Knotens hat er bisher nicht bemerkt. So kann es jetzt auch unbewertet bleiben, bis Hermann sein konfuses Ist beherrscht und nicht umgekehrt. Nichts ist ihm erklärungswürdig, dass er weder für sich, noch für Außenstehende, noch für Lisa Worte bereithält. Hermann hat auch nichts Abrufbares in seinem Kopf, denn er hat die Erläuterung der Ärztin nicht konzentriert entgegen genommen, sondern hat das Weib, und nur das Weib während ihres kurzen Vortrages mit Männeraugen gesehen. Er hat es angelächelt, Augen und Mund einer Frau hatte er noch nie so angesehen. Hermann war wie ein anderer. Wie ein Unbekannter kam er sich vor, unromantisch, fast ein wenig gehemmt und starr von seiner Überzeugung. Er wollte nicht und er traute sich nicht, dieser in seinen Augen jungen Frau jene fachliche Autorität zuzugestehen, wie er sie dem alten Hausarzt zugestanden hatte. Unter dieser mentalen Schicht sucht Hermann nach den Gründen für seine Geringschätzung. Er sucht von Beginn an, seit die junge Ärztin ihre erklärenden Sätze sagte, und seit seine Gedanken auf dem Weg von der in seiner Leistengegend angestifteten erotischen Verwirrung wieder zurück in die rationale Gegenwart seines Kopfes zur Herstellung seines inneren Gleichgewichtes gewesen waren. Die Aufmerksamkeit auf die fachlichen Worte der Ärztin war dadurch zusätzlich eingeschränkt. Hermann ist in gewissem Sinne, und damit ergänzend zu der Aussage über sein strategisches Denken als Kapitän, Steuermann und Maschinist, intellektuell nicht bei der Sache gewesen und bedarf noch des zeitlichen und räumlichen Abstandes zum Geschehen der vergangenen letzen Stunde. Hermann hat Bilder aus einem Artikel des SPIEGEL vor Augen, die zeigen, wie einem Probanden im unbekannten Gehirnlabor eine Kopfmaske übergezogen ist, aus der lange dünne Kabelstränge zum Messen von Hirnreaktionen heraus hängen und irgendwo dorthin verlegt wurden, wohin das Foto nicht mehr zeigt. Aber aus anderen Artikeln und Aufsätzen über Forschungen am menschlichen Gehirn abgeleitet, hat Hermann eine Vorstellung davon, dass hinter dem Foto eine Apparatur aufgebaut sein muss zum Darstellen der Daten aus den Gehirnreaktionen, die auf mehreren Monitoren dann aufgezeigt, entschlüsselt und bewertet würden. Und auf einem assoziierten Foto erkennt sich Hermann selbst und scherzhaft als ein solcher Proband mit Kopfmaske, angeschraubten Elektroden und Kabelsträngen abgebildet bei dem Versuch, der Aufforderung nachzukommen, die Worte der Ärztin über die Therapie zu wiederholen. Durch Hermanns Schädeldecke hindurch werden in den Kabelsträngen pausenlos Daten befördert von seiner Gehirnarbeit, unter den mit psychischen Befindlichkeiten zugeschütteten Arealen im Kopf die notwendigen Informationen freizuschaufeln, mit denen er den Zweck der Tabletteneinnahme in verständlichen logischen Sätzen artikulieren soll. Auf dem gedachten Monitor entsteht aber nicht mehr als das gewöhnliche Abbild eines Ratespiels. Hermanns Nachsinnen erinnert an eine Quizshow, in der bei szenisch dunkel unterlegten, dämonisch an- und abschwellenden Geräuschkulissen ihm, dem nervösen Kandidaten, die zutreffende Antwort über das Ziel des Tablettenkonsums durch das kinderleichte Ankreuzen von einer der genannten Möglichkeiten entlockt werden soll. A: Wachstum verhindern, B: Überfunktion regulieren, C: Operation ausschließen, D: Ich weiß nicht. Hermann lächelt über seine eigene Unbeholfenheit bei diesem Laborversuch. Er weiß aber aus der Erfahrung, wie nahe diese Unbeholfenheit an der Realität ist, weil die Aufmerksamkeit gebremst wird durch Unwilligkeit genau in dem Körperzustand, in dem er nicht locker sein kann. Und es sind immer Augenblicke von Wichtigkeit, in denen er zuhören sollte, aber nicht zuhören kann. Stattdessen entfernt sich seine Aufmerksamkeit scheinbar vom eigentlichen Gegenstand und Nebensächlichkeiten drängen wie Fremdkörper in sein Wachbewusstsein, assimilieren sich mit seiner Erinnerung, werden für sein Gehirn mehr interessant als die ursprüngliche Sache. So bleiben in Hermann zum Beispiel die Stellung der Füße des Sprechenden, die Farbe seiner Augen oder dessen Mund oder das zuckende Augenlid seines Gegenüber deutlicher in Erinnerung als dessen Worte. Und diese Nebensächlichkeiten spalten ohne Gegenwehr zu erfahren Hermanns Erinnerungen in ein Wichtig und ein Unwichtig auf, was jedem Bewerter die Haare sträuben ließe, würde er davon erfahren. Warum Hermann so asynchron die Situation bei der Ärztin abspeichert, warum er die flüchtigen winzigen Nebensächlichkeiten als primär in sich aufnimmt, und sein lenkendes Bewusstsein in solchen Lebenssekunden damit umorientiert, hat er sich noch niemals erklären können. Etwas steht dem eben gesagten aber doch entgegen, denn Hermann hat von der Information der Ärztin doch nicht ausschließlich geringe Nebensächlichkeiten als wichtig aufgenommen. Er hat etwas Übergeordnetes erfahren. Es ist die versöhnlich wirkende und Aussicht gebende Einschätzung über die Art und Weise des therapeutischen Vorgehens, in der auch Tröstendes liegt. Das Tröstende fließt zu Hermann herüber aus den Adverbien ‚versuchsweise’ und ‚vorübergehend’. Zwei fast flüchtige Zwischenworte der Ärztin heben Hermann in gute Stimmung. Er übersetzt sich den Wortsinn als den Beginn einer mit dem Kauf und der Einnahme der Tabletten beginnenden neuen Lebenszeit, in der er auf seine Gesundheit ab sofort und fortdauernd achten sollte, sogar unbedingt achten muss. Die Anwendung der Tabletten aber wird dabei nur von vorübergehender Dauer sein. Die Tabletten sind nur versuchsweise einzunehmen. Es ist ihm jederzeit möglich, die Einnahme vor der Zeit abzubrechen. Diese Aussicht legt sich Hermann wohltuend über alle anderen erinnerbaren Sätze der Ärztin aus dem Behandlungszimmer. Das Wort ‚versuchsweise’ kann sich Hermann durch den einschränkenden Sinn, der dem Adverbum innewohnt, recht gut und sicher einprägen. Das Wort ‚versuchsweise’ macht eine Sache oder einen Vorgang überschaubar, deutet allerdings auf kein sicheres und noch weniger auf ein garantiert erfolgreiches Ende hin. Wie eben niemand vorher weiß, ob die Tabletteneinnahme sowohl sicher als auch garantiert erfolgreich wird. Das Wort hat aber für Hermann einen Platz in der zuoberst liegenden, griffbereiten Palette seines täglich verwendeten Gedankenvokabulars. Es ist eines von jenen schnell und ohne langes Nachdenken abrufbaren Worten. Hermann benutzt sie wie die häufig aufgerufenen Dateien aus dem Arbeitsspeicher seines Rechners, in denen er sich sofort zurecht findet und ohne Eselsbrücken seine Texte fortschreiben kann, allerdings nicht vorübergehend, sondern dauerhaft. Vorübergehend sollen die Tabletten eingenommen werden. Vorübergehend verweist auf eine Begrenzung hin, aber nicht im Sinne der Therapie, sondern allenfalls bezogen auf die Zeitdauer der Tabletteneinnahme. In der Begrenzung also liegt das Gemeinsame mit dem Wort ‚versuchsweise’. Das Wort ‚vorübergehend’ ist schwierig zu bestimmen wie auch die Zeitdauer schwierig festzulegen ist. ‚Vorübergehend’ ist attributiv gemeint, es ist eine Art Befristung bis zu einem Tag x. Dann ist Schluss, wie bei einem befristeten Arbeitsvertrag. Das Gehalt ist nach der abgelaufenen Frist dann nicht mehr auf dem Konto. Der Kredit muss aber bedient werden. Die Rate wird gestundet. Was danach kommt, weiß keiner. Auch Hermann weiß nicht, ob seine Krankheit befristet ist. Er ist zurzeit nur vorübergehend in Behandlung mit Hilfe von Tabletten. Er ist zurzeit nur vorübergehend krank, so etwa wie vorübergehend