Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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schließen sollen, irgendwann einmal am Ende seines eigenen Lebens werde auch er in einem Pflegeheim oder in der Geriatrie eines Krankenhauses mit zerbrochenen Knochen, nach Luft ringend und mit süßer Spucke im Mund auf den Tod harren müssen. In Hermann hatte sich lange Jahre an dieser Vorstellung vom Altwerden und vom Altsein nichts geändert. Er hat ein paar Jahre später erst und dann aber häufig überlegen müssen, an welcher Stelle seines eigenen Hauses eigentlich ein Sturzrisiko liegen könne, das er in jungen Jahren übersah oder geringschätzig übersprang, aber in zukünftigen Jahren, er sich doch dort den Oberschenkelhals brechen werde. Die Dicke vom Pflegedienst. Weiß sie beim Treppensteigen eigentlich auch von ihrem Sturzrisiko? Es könnte sein. Gewiss, es wird so sein. Sicher sogar. Aber wenn sie an ihr Sturzrisiko zu denken kommt, erinnert vielleicht durch die körperliche Anstrengung des Treppensteigens ist schon fast der Nachmittag ran. Bis dahin muss sie jedenfalls die vier Kriterien für das Risiko ihrer Patienten in der Checkliste ausgewählt, beurteilt und angekreuzt haben. Hermann räsoniert wie ein Kannegießer am Biertisch und freut sich sogar an seinem Gebelfer. Er bläst sich innerlich auf wie ein Luftballon. Nur, wem will er sich denn mitteilen? Er geht doch in keine Kneipe. Er geht nur in Ausnahmefällen in die Kneipe und dann ist es keine richtige Kneipe, sondern immer das gleiche Restaurant, das er aufsucht und einlädt, wenn er oder Lisa Geburtstag haben und alle zusammenkommen können zu einem Abendessen. Schmähreden über einen Pflegedienst gehören dann auch nicht an die Tafelrunde. Es würde sich auch niemand für den Pflegedienst interessieren, zumal die Reden am Tisch an solchen Abenden sowieso nicht Hermann, sondern andere führen, die sich gerne den allgemeinen Themen des Wohlstandes und der Ahnenforschung hingeben. In diese Kerbe haut der Hermann nicht. Deshalb bringen wir seine Tiraden hier zu Papier, wenden uns von den Abendgästen ab und der Dicken vom Pflegedienst wieder zu. Die Dicke soll in der Parklücke ihre Zigarette ausdrücken, ohne zu stürzen über die Schwelle des Hauses treten und ihre Garderobe in der breiten Diele ablegen. Sodann wird sie die Küche erreichen und sich eventuell die Hände waschen oder Gummihandschuhe überziehen. Der rauchende und der nicht gestürzte dicke Pflegedienst soll einer pflegebedürftigen Person im Haushalt zur Hand gehen, das Essen bereiten, das Bett aufschütteln, auf der Toilette und beim Ankleiden helfen, in der Küche den Morgenkaffee mit Kondensmilch versehen und an den Ohrensessel bringen. Wenn sie, die bedürftige Person, bzw. ihr Magen, keinen Kaffee verträgt, wird es ein Glas stilles Wasser sein, oder einfaches Leitungswasser, das wird sie doch wohl vertragen, Himmel-Herr-Gott-Noch-Mal! Danach wird die ganze Pflegebedürftigkeit zum Ausfahren präpariert und in den Rollstuhl gewuchtet. Oder sie wird an den Rollator gebracht, zur Fortbewegung innerhalb der Wohnung, wenigstens bis in die etwas für neuzeitliche Gehhilfen nicht ausreichend bemessene Küche. Meistens liegen in den Häusern hier in den Straßen dieser bevorzugten Wohngegend die Küchen im Hochparterre und die Schlafgemächer im Obergeschoss. Und zwischen den beiden mindestens Dreimeterzwanzig hohen Räumen und ihren schönen stuckveredelten Decken verbindet eine prächtige Vollholztreppe das Erdgeschoss mit dem ersten Stockwerk, zweiarmig natürlich, eventuell mit Podest, mindestens aber Einmeterzwanzig breit zwischen den Wangen, weil das Faible des Bauherrn seinerzeit gebot, auf die im Land Preußen gebräuchliche vierziger bis sechziger Zollbreite zurück zu greifen. Auch im 19. Jahrhundert gab es nostalgisches Denken, sagt Hermann. Für das Thema ist er ja zu haben. Er kennt sich da aus. Weniger die Dicke. Die braucht das auch nicht. Sie fragt nicht nach dem gewendelten An- und Austritt, nach siebzehn Zentimeter hohen Setzstufen und nach dem geschnitzten Löwenkopf auf dem unteren Treppenpfosten. Sie ächzt lieber auf der Treppe. Eine Dicke ab neunzig Kilogramm Eigengewicht wird wenig lustvoll die vielleicht zwanzig Treppenstufen hinauf steigen. Sie wird zwar die angeformte Kopfleiste annehmen müssen aber die gedrechselten Traljen aus der Gründerzeit ignorieren. Die profilierten Zierleistchen, hölzernen Noppen, Pfropfen und Messingknöpfe am Holzwerk werden ihr überhaupt nicht auffallen. Stattdessen wird es ihr schwer fallen, die Treppe leichtfüßig zu nehmen. Na, vielleicht geht es, wenn sie alle drei bis vier Stufen einmal kurz stehen bleibt und ihren 90 Kilogramm eine Atempause gönnt. Für eine Geschosstreppe wie in der Villa nebenan braucht die Dicke dann beim zweiten Mal Herauf und Herunter ungefähr fünf Minuten und muss danach ihre versorgenden Handgriffe schneller erledigen. Wie will sie dann, fragen wir, nach dem dritten täglichen Pflegefall, ihre Pflegezeiten überhaupt einhalten? Wenn die Dicke in der Küche das Wasserglas hat stehen lassen, stampft sie wieder herab und dann den Rückweg vom Erdgeschoss wieder herauf. Dieser Gang erzeugt im Gebälk Erschütterungen der Stufe Fünf auf der Richterskala. Die Dicke ist weiter gefahren in ihrem engen kleinen Auto zum nächsten Pflegefalltermin. An der Haustür angekommen, hat sie ihre Zigarette bestimmt noch nicht aufgeraucht. Das wird ihr nicht egal sein. Sie wird die Zigarette deshalb vorsichtig ausdrücken und nach dem erledigten Termin den Stummel wieder anzünden. Sie raucht ein paar Züge weiter, wenn sie im Auto sitzt, und eine Minute später vor der nächsten Haustür beim nächsten Termin wird sie die Zigarette wieder ausdrücken und vor der dritten Haustür ist die mehrmals angezündete und wieder ausgedrückte Zigarette dann endlich aufgeraucht. Zigarettensport. Die Dicke steckt sich die drohende Warnung jeden Tag zwanzig Mal in die Fresse. Der Tod küsst sie auf ihre Lippen in kleinen Dosen zwanzig Mal am Tag. Die Augen der Dicken registrieren nur noch oberflächlich, ihr Wille schaut zwanzig Mal weg. Was täglich zwanzig Mal in sie eindringt ohne fühlbare Veränderungen an ihr vorzunehmen, verliert an Wirkung. Die Dicke ist ein beleibter rauchender Pflegedienst. Der rauchende Pflegedienst ist ein Diensttuender des Todes, er arbeitet dem Tod in die Hände. Er hantiert an todgeweihten Menschen. Alle Pflegedienstler, die Hermann in seiner Straße sieht, rauchen. Die Dicken ebenso wie die Schlanken und vor allem die Jungen. Und sie werfen ihre Kippen auf den Fußweg. Hermann fühlt sich davon provoziert und beleidigt, obwohl ihm rauchende Menschen auf der Straße doch meistens gleichgültig sind. Aber wenn Hermann eine Kippe vor seinem Haus erblickt oder in seinem Vorgarten Kippen auflesen muss, würde er am liebsten laut und apodiktisch in die Welt hinaus schreien: Raucher sind süchtig und eklig. Weil er sich aber vor dem Schreien scheut, es wäre zu albern, im Vorgarten vor sich hin zu schreien wie ein Geisteskranker, wohin soll er dann seinen Ärger über die Zigarettenkippen transportieren? Einfach zurück auf die Straße ist ihm zu billig. Dann wäre er nicht besser als die Kippen wegschnipsenden Raucher. Also nimmt er die Kippen hin. Er übergeht sie und kippt sie in die Mülltonne. Er schont seine Nerven und stellt sich über die Raucher. Er tröstet sich mit seinem aufgeklärten Umweltbewusstsein, das jene nicht haben können. Raucher können keine sauberen Menschen sein. Ihre Sucht nach Nikotin unterdrückt ihr Bedürfnis nach Sauberkeit, sagt Hermann und geht noch weiter. Er postuliert Grundsätze und einen davon hat er immer parat und der lautet: Rauchen und Pflegen sind nicht vereinbar. Und spielend ergänzt er: Dicksein und Pflegen geht auch nicht. Ein dickleibiger Pflegedienst kann nichts. Er ist unsauber und unlogisch und ein Widerspruch in sich, contradictio in adjecto, sagt Hermann. Es sind Hermanns oberflächliche, wenn nicht gemeine Worte. Weil die Gegenwart gemein ist, bin ich es auch, rechtfertigt er sich. Ich bin so gemein wie der Anblick der Zigarettenkippen in meinem Vorgarten. Hermann spinnt sich im Thema ein. Davon weiß die Dicke vom Pflegedienst nichts. Die Dicke kann die Anforderungen an ihren häuslichen Pflegedienst in Häusern mit Vorgärten ja auch erst einschätzen, wenn sie überhaupt einmal in so ein Haus in einer bevorzugten grünen Wohngegend kommt, wie Hermanns Wohnstraße eine ist, und wenn sie erst einmal richtig die Wohnungen mit ihren Flurtreppen und den etwa zwanzig Stufen zwischen der Dreimeter und zwanzig hohen Küche und dem drei Meter hohen Schlafraum im Obergeschoss wahrgenommen hat. Da wird die Dicke vielleicht zunächst etwas resignierend ins Grübeln kommen und den Standort wechseln wollen und ihren Pflegedienst doch lieber in vielgeschossigen Wohnbauten der Plattenbausiedlungen mit Fahrstuhl tun. Dort ist jede Wohnung mit dem Pflegefall auf einer Ebene. Aber für so eine Entscheidung ist es dann zu spät. Die Dicke kann sich dann nicht mehr umentscheiden. Sie muss sich zwischen Küche und Schlafgemach bewegen und die breitstufigen Treppen rauf und runter, ob sie will oder nicht. Und sie wird ja auch nichts wollen. Schon gar nicht sich entscheiden wollen. Nichts will sie. Sie will rauchen wollen. Was, sie will wollen? Quatsch, das versteht die doch sowieso nicht. Hermann fragt sich, ob die Dicke vielleicht Gelüste verspürt. Ob sie in so einer fremden Wohnung, so mitten drin zwischen den Wohngeschossen mit eingeschränkt handlungsfähigen Personen verführbar ist. Mal heimlich eine Schublade in der Diele öffnen, so nebenbei, unauffällig, es bemerkt niemand. Im Winter wird es wieder kalt. Sie könnte gefütterte Handschuhe brauchen. Und in der Schublade darunter? Schals, Regenschirm, Tücher. Lieber nicht. Die gefallen ihr nicht. Sie hat einen anderen Geschmack. Eher