Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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fürchtet, eventuell Unfertiges und insbesondere Unkontrolliertes im Inneren zu erzeugen und hastig hervorzubringen. Das könnte ihn erschrecken und blass werden lassen. Wieder ein Gesichtsausdruck. Das Radio noch einmal einschalten? Nein, es bleibt aus und nach dem Frühstück so stumm, wie in der Zeit des Lesens in der Zeitung und wie während der Schulaufgaben. Das Radio ist kontrollierbar. Hermann wird es vor dem Abend nicht wieder einschalten. Er wird bald an seine Schreibarbeit denken und ins Arbeitszimmer gehen wollen. Zuvor gilt seine Aufmerksamkeit noch dem Hausgarten, den er hinter dem Küchenfenster stehend mit schnellem Blick nach Veränderungen abtastet. Für einen aufmerksam studierenden Beobachter ergeben Hermanns Aufenthalte in der Küche statt erfreulicher Ergebnisse nur langweilige Aufnahmen von einem langweiligen und belanglosen Verrinnen einer Morgenstunde. Die Zeit um das Frühstück verläuft jeden Tag in ähnlicher Weise, als wolle Hermann sich selbst etwas Konstantes und Schlichtes zelebrieren. Alles was er tut, geschieht ohne erkennbare Besonderheiten, ohne weihevolle Höhepunkte und ohne Gebete, Bekreuzigungen und ohne Opfergaben. Hermanns jahrelangen morgendlichen Gewohnheiten bleiben stets die gleichen. Der geschilderte morgendliche Ablauf ist einer ohne abweichende Handlungen, in einem Sommer, in einem Wohngebiet von Berlin und die Hauptperson ist Hermann. Die gesichtete dicke Frau in dem kleinen Auto des Pflegedienstes ist die einzige Auffälligkeit gewesen, die Hermann allerdings, sich selber ermunternd, mit ironischem Pfeffer und Salz bestreute. Aber diese Minutenstunde ist austauschbar in der Person, in der Jahreszeit und in jeder Küche einer anderen mitteleuropäischen Stadt denkbar. Hermann ist der Herr seiner Zeit. So ein Leben, wie das seine, vermag erfrischende und befreiende Gefühle befördern, kann aber auch lähmende Kräfte erzeugen, je nach Wesensart des Innehabenden. In Hermanns Fall ist es so, dass er im Allgemeinen selbst bestimmend in seinen Sinnen und Absichten lebt, wenn Lisa nicht ab und zu eingriffe und sich mit einer für Hermann unerklärlichen Empörung über seinen Tagesablauf aufregte, als müsste sie Hermann vor irgendwelchen Torheiten behüten und seine Tageszeit mit vernünftigen Auftragstaten anfüllen helfen. Lisa bezichtigt Hermann, eben ab und zu bei ihren Eingriffen, der Ignoranz und des egozentrischen Vertrödelns seiner Zeit. „Deine Zeit ist schließlich auch meine Zeit“, sagt sie. Für Lisa ist Hermann ein Heimarbeiter und damit auch ein verfügbarer Hausmeister. Lisas Anwürfe sind für Hermann die blassesten und grundlosesten, die er sich ausdenken kann, so dass er sich ein wenig geniert, nicht der haltlosen Anwürfe wegen, sondern seine eigene Frau auf solchen argumentatorischen Abwegen überhaupt erleben zu müssen. Fremdschämen würden die Schnellpostulierer dazu sagen, aber für Hermann ist diese flink herbeigeholte Wortneuschöpfung angesichts der Menge seines Unmutes semantisch zu informationsschwächelnd. Und mäßigend wirkt das Wort auf seine Scham auch nicht. Hermanns Tageszeiten geraten durch Lisas Wirbeln durcheinander und sein individuelles Tun wird für eine unbestimmbare Zeit gestoppt. Lisas nicht ganz einflusslos verpuffender Redeschwall bringt Hermann an den Tagen ihrer Empörung aus der Fassung, mindestens wird er umgestimmt. Auf alles Vorgenommene muss er flugs verzichten, muss es tunlichst sein lassen und eben anderes tun, als er sich noch früh morgens, im Bett liegend und den aufgehenden Tag bedenkend, ausgedacht und auferlegt hatte. Wenn Hermann in den Stand geriete, Lisa und ihre Ansichten sehr ernst zu nehmen, würde er lange Zeit hintereinander das tun, was Lisa ihm in ihrer Rage als wichtig anempfohlen hat. Aber „... um Haus und Hof in Schuss zu halten, muss ich nicht gleich all mein Schreiben unterlassen... “, sagt er leise. „Hausmeisterdasein erledigt sich doch auch in Abständen, von Mal zu Mal.“ Den Satz sagt er lauter. So gerät Hermann an manchen Tagen in Widerstreit mit Lisa. Und auch mit seinen eigenen Gegenkräften hadert er, die ihm jede auf ihre Weise, angemahnte wie verlockende Spiele aufrufen. Hermann könnte der verführerischen Faulheit frönen, könnte die stets lauernden körperlichen Trägheiten in sich gewähren lassen und seinen inneren aufmuckenden Neigungen nachgehen. Die rauen wie auch die säuselnden Stimmen, die ihm etwas anderes als die selbst auferlegten Pflichten zu tun nahe legen, die das Andere in Hermann auch als kleine Sehnsüchte und Verführungen markieren, forderten jedoch letztlich nicht viel Energie für die Abwehr von ihm ab. Es ist ihnen bislang noch nicht gelungen, Hermann anhaltend und grundsätzlich umzustimmen. Er hat sogar den bourgeoisen Verführungen wenig Hoffnung auf Befriedigung gegeben, die ihn manchmal anfechten und sinnliches versprechen. Er glaubt nicht an ihre Wahrhaftigkeit, ihre Echtheit: Klavierstunden nehmen, Ölbilder malen, im Garten einen Brunnen zu graben oder zur Abwechselung Bewerbungen für eine seinem Alter noch zumutbare ehrenamtliche Tätigkeit absenden zum Beispiel. Würde er dem allen nachgeben, führte er ein nicht mehr selbst bestimmtes Leben. So jedenfalls lautet seine innere Erkenntnis, und die belässt ihn in wirklich innen ruhender Überzeugung. Hermann will nicht, dass seine Tage verplempernd verrinnen, dass er sich ausschließlich mit Handwerkszeug bewaffnet, die Fenster vier Mal im Jahr putzt und die Tankstellen nach preisgünstigem Superbenzin abgrast. Das Schreiben seiner Geschichten steht ihm zu hoch, als dass Hermann von piefigem Streben getrieben, es verhindern lässt. Nicht einmal verzögert darf es werden. Keine Idee für den Erzählstrang seiner Geschichten darf ins Vergessen geraten. So bleibt es beim Spiel zwischen Hermanns inneren Konstanten gegen die Stimmen der Abweichler. Es bleibt bei dem, worin Hermann einen Sinn sieht, es bleibt beim Schreiben seiner Geschichten und dann und wann beim Entrosten des Gartenzauns. Meisten bleibt es so. Aber auch im Radio bleibt der gleiche Sender eingestellt, Kulturradio vom RBB. Kein Suchlauf nach irgendeinem anderen Sender ist nötig, als gäbe es nur die eine einzige Sendefrequenz auf der gesamten Skala des Universums seines winzigen Küchenradios. Und so würde auch der nächste Morgen in Hermanns Küche zu beschreiben sein, und vom übernächsten Morgen würde kaum anderes gesagt werden können und dann der überübernächste Morgen wäre auch ungefähr so, wie der erste, und der überüberübernächste... Kinder können so trefflich und ungeniert die Zeiten zusammen ziehen. Addieren sagen die Erwachsenen dazu, aber für überüberübernächste haben sie noch kein gemeinsames, alles aufnehmendes Wort entdeckt. Warum und für wen und wozu auch? Den Kinderseelen ist das sicher egal. Sie spielen ihr Spiel mit Überüberübernächste. Es ist eine beruhigende Vereinfachung, ein unschuldig formuliertes Codewort für eine Unzahl, für ein Etwas von großer Menge oder von langer Reihung. Das genügt für die schnelle Verständigung untereinander. Kinder sind arglose, zweckmäßige Denker. Für sie schlägt in Hermann ein Herz. Seine eigenen Kinder sind nicht mehr im Haus. Seither fehlt dem Hermann etwas.

       Aber wir wollen nicht abschweifen.

      Wir bleiben in der Küche und beim ausgeschalteten Radio neben dem Tisch. Nach dem Morgenkaffee beginnt in dem Haus mit der verlockenden Rasenfläche im Garten und dem rosa Phlox an der Seite mit der grellen Nachmittagssonne neben dem unvollendeten Weg ein ganz normaler Tag. Es wird kein besonderer, auch kein bemerkenswerter Tag für Hermann werden. Auch die folgenden Tage in der bevorzugten Wohngegend außerhalb des S-Bahnringes von Berlin werden dem heutigen in nichts nachstehen. Wenn wir Hermann eine Weile in die Winkel und Ecken seines Tun und Denkens gefolgt sind, ihn erlebt und ihm zugesehen haben, wird manch einer unter uns glauben, den Blick des Hermann auf sich und auf seine Umwelt verstehen zu können. Mitunter wird sich unsere Beobachtermentalität so ausrichten, als gäbe es in Hermann die Facetten eines ausgefüllten, äußerlich freundlich bis missmutig gleichgültigen, aber irgendwie anmaßend erscheinenden Bürgers zu erkennen, der aus Angst um nicht erfüllte eigene Ansprüche sich lästernd bis hysterisch über andere aufregen kann, sich selbst aber über andere erhebt und in letzter Minute durchaus zutraut, bisher nie wesentlich Erprobtes, nur Erahntes, seinem Wesen und seiner Seele nach aber Eigentliches, sittsam Unterdrücktes, Ungefordertes endlich einmal zu wagen. Hermann will die aus dem Inneren anklopfenden Impulse nicht mehr glätten. Er attestiert seinem Ego, die über den Alltag hinaus gehenden Energien bislang unzureichend, nicht erschöpfend, wenig konsequent und am wenigsten ichbezogen genutzt zu haben. Das gegenwärtige Sein, die Handlungen, Abläufe und Denkvorgänge gestatten ihm deshalb gerade jetzt ein Ausbruchsverlangen. Er will eine Erklärung für sich und für sein Dasein finden. Er will irgendwann verpatzte Chancen wettmachen und etwas Neues, wenn nicht sogar Höheres als alles Bisherige versuchen. Noch versuchen und nicht verzagen. Hermann will sich nichts Illusorisches, nichts Fernliegendes abringen. Soweit ist er sich im Klaren. Wenn Hermann aber tatenlos zusehen müsste, wie er ohne Bodensatz, sozusagen rückstandsfrei ins Alter gleite und sich bar verabschiede, würde es ihm große seelische Qualen bereiten. Und als er alles Aufgebauschte seiner Gedanken abstreifen konnte, fand er den wahren Grund seines Wollens: Er will nicht ins Leere laufen und er will kein