Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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Zeug auf die Straße spuckte. In seiner Mutter Zeit gab es keine Kaffeemaschinen. Hermann sieht die Mutter in der Küche hantieren, sieht, wie sie in ein kleines dunkelblaues bauchiges Kännchen aus gewöhnlicher Keramik und mit innen wie außen rissiger Oberfläche ein Häuflein der von eigener Hand in der Kaffeemühle zu Pulver gemahlenen Kaffeebohnen schüttet und mit kurzem Aufstucken auf dem Boden glatt verteilt. Sie gießt danach siedend heißes Wasser darüber und lässt die dunkle Flüssigkeit ziehen. Der Kaffeeduft breitet sich überall aus, haucht sogar durch den Flur. Nach etwa fünf Minuten portioniert sie ihr kostbares Braun um, lässt es durch ein metallenes Sieb in eine hohe, schön geformte und dünn gewandete Porzellantasse ein. Die glasierte Tasse ist hell, sparsam im Dekor und mit aufgesetzten Verzierungen am eckigen Griff geschmückt. Die Tasse sei von V&B, aus der Zeit des Fin de siècle, sagt die Mutter voller Stolz zu ihrem kleinen Kind. Sie meint Jugendstil und die Schornsteine von der Steingutfabrik in Wallerfangen. So ein kleines Nest in fremder Gegend, sagt jetzt das große Kind. Steingut ist nichts für feines Geschirr. Steingutkruken kann man auf die Ofenplatte stellen und die Milch drin warm halten. Doch eine Weile nur, sonst wird die Milch zu schnell sauer. War da nicht noch ein großes S unter dem Tassenboden neben einer Nummer eingraviert? Also Jugendstil nicht aus Wallerfangen, sondern aus dem Werk in Septfontaines, Luxembourg? Das kann sich Hermann gut vorstellen. Aus keiner anderen Tasse mochte die Mutter ihren Kaffee trinken. Es stehen zwar noch andere Tassen im Büfett bereit für ihre Bestimmung, abgewaschen und mit Unterteller ohne V&B-Markanzeichen. Jede andere Tasse aus dem Büfett würde Mutters Kaffeegenuss wohl entweihen. Am Abend dann, als wäre der Wert ein anderer geworden, kippt sie den Kaffeesatz, der ihr zu einem guten Nachmittag verholfen hat, irgendwo zwischen die Mohrrüben oder manchmal auch über das Erdbeerbeet. Gleitender Sachwandel. Ein Weiterverbrauch mit praktischem Nutzen. So sieht es der große Hermann. Und erst Jahre später, als der Henkel der kostbaren Tasse durch eine Unachtsamkeit abbricht, erst da nimmt Mutter eine andere Tasse für ihren Kaffee. Den in ihre Gewohnheiten eingewachsenen Torso nutzt sie weiter, zweckmäßig, wie die Anforderungen der ganzen Zeit. Sie füllt ihn mit kaltem Wasser und steckt die Petersilie rein zum Frischbleiben für den Kartoffelbrei am Wochenende. Die Tasse blieb einmalig, wie auch die Erinnerung an V&B. In keinem Trödelladen hat Hermann je wieder eine ähnliche Tasse aufgestöbert. Vielleicht macht er sich mal auf zu V&B ins Outlet oder ins Porzellanmuseum und sieht dort eine solche Tasse wieder. Wallerfangen ist ja auch noch auf dem Plan und führt einen Heimatverein. Schöne Landschaft dort. In der Küche führt Hermann früh am Morgen Selbstgespräche, wenn er guter Laune ist. Er denkt sich dazu, je nach Situation, einen gestaltlosen Zuhörer aus, einen fiktiven Gast, den er in die Ecke an dem hinteren Ende des Küchentisches platziert und mit dem er ein paar Sätze wechseln kann und ihm gescheite Antworten auf seine von ständigen Fragen und Abwägungen beschwerte Gedanken zutraut. Natürlich erfassen wir sofort, dass es Hermanns eigene Antworten sind, die der fiktive Gast hervor bringt und mit denen Hermann seinen Dialog immer weiter führt. Hermann zieht den hellen bauchigen Thermosbehälter unter dem Filterteil hervor und postiert ihn auf den Küchentisch, leicht links von der Mitte. Manchmal wäre es ihm lieber, vor ihm stünden eine blaue bauchige gewöhnliche Kanne und eine durch Glasur und Zeitstil verschönte Porzellantasse gleich denen, die Mutter damals im zu Hause seiner Kindheit benutzte. Aber Hermanns träumerische Wünsche sind Illusionen, bleiben imaginäres blaues und vanillegelb glasiertes Porzellan im Jugendstil, formschön aus dem Saarland, mit ovalen Gravuren und empfindsam gegen unachtsames Stoßen. Die Illusion ist eine Gespielin der Rückerinnerung. Sie ruft nach Hermann, lacht auf und lockt mit alten Bildern an den elterlichen Küchentisch zurück. Sie zeigt ihm noch die graufleckige Kaffeemütze über der Kaffeekanne, unter der die Mutter nach ihrem Morgenkaffee die Frühstückseier so lange warm halten konnte, bis es den im elterlichen Schlafzimmer fröhlich tobenden Nachwuchs an den Sonntagen endlich aus den zerwühlten Federbetten an den Tisch trieb. Dann wird Hermann weich... Aus! Aus! Aus! Bitte keine Illusionen mehr. Hermann wehrt sich. Wenn Hermann sein Frühstück beendet hat, wird er das Radio ausstellen und zur Tageszeitung greifen. In dieser Reihenfolge. Jeden Morgen die gleiche Zeremonie. Es gibt nicht so oft Abweichungen. Die Werbebeilagen hat Hermann bereits entfernt, bevor er die Zeitung auf den abgeräumten Tisch aufschlägt. Die zweite Tasse Kaffee bleibt in Griffweite, linkerhand, etwas weiter zur Seite, mehr zur Mitte als zur Küchenwand mit dem halbhohen Holzpaneel, das er selbst zimmerte. Hermann wird die Schlagzeilen der Presse überfliegen, hin und wieder nach der zweiten Tasse des ungesüßten Kaffees langen und nach und nach austrinken. In die Zeitung vertieft er sich für etwa eine halbe Stunde, an manchen Tagen weniger und dann nur zwanzig Minuten, je nach dem, wie viel an Information ihn bereits am Vorabend durch die Berichte der öffentlich-rechtlichen Sender erreichte. Hermann wird sich an diesem oder jenem politischen Kommentar reiben, die Berichte aus dem Ausland überfliegen und die Wirtschaftsmeldungen auffangen. Im Feuilletonteil interessiert ihn das Wichtigste vom breiten Kulturbetrieb der Hauptstadt, der in der Abendschau des regionalen Fernsehens kaum adäquate Erwähnung finden kann. Theaterrezensionen liest Hermann zumeist nicht. Er notiert lediglich davon die Überschriften, widmet sich dafür mehr den Zeilen mit den literarischen Besprechungen. Hier hängt er sich rein, kalkuliert sogar, diesen oder jenen Buchtitel anzuschaffen. In der Regel gibt er jedoch am Schluss des Artikels diesen Sinn auf. Die angepriesene Literatur ist für ihn nicht zu bewältigen, es sei denn auf Kosten seiner eigenen Schreibarbeit. Hingegen zählen die Interviews mit einzelnen Autoren zu den am meisten befriedigenden Seiten der Zeitung. Aus all dem Geantworteten, ob wahr oder gelogen, ist ihm seit Jahren nun schon eine geäußerte Haltung dermaßen haften geblieben, mit der er sich bereits beim Lesen identifizieren konnte. Und wenn es ihm erlaubt wäre, würde er diese Haltung des seinerzeit Befragten übernehmen und zu seiner eigenen machen, nämlich während des Schreibens an einer Geschichte sich von der Außenwelt möglichst abzuschotten, die Kommunikationen auf das nötigste Niveau herab zu senken und den alltäglichen Bedürfnissen knapp nur nachzukommen, um nicht den Eindruck der asozialen Lebensweise aufkommen zu lassen. Ein Idealzustand, wenn, ja wenn... wenn der Hund nicht... Die zwei Seiten des Feuilletons mit ihren Kritiken, Deutungen und Empfehlungen sind für Hermann der wesentlichste Grund dafür, das Abonnement der Zeitung nicht aufzukündigen und seine inneren Verstrickungen zwischen schwärmerischem Lebensanspruch und tatsächlichem Bedarf wach zu halten. Zwischen beiden, dem ständigen Auf und Ab, verrinnen seine Lebensjahre. Wie viel Ungenanntes und Unbemerktes, wie viel Bewältigtes vom Leben ist dabei durchgerutscht? Diese Frage stellt sich für Hermann nicht. Sie scheint ihm trivial und unzeitgemäß. Soll doch jeder x-beliebige andere Arsch der Öffentlichkeit präsentieren, wie er sein Alkoholproblem bewältigt hat. Hermann nicht. Solch ein Fazit wird es bei ihm nicht geben. Er wird nach der Zeitungslektüre aufschauen und gewöhnlich auch etwas Unzufriedenheit in sich angestaut haben. Die steht deutlich auf seinem Gesicht geschrieben, als würde er all diejenigen aufgenommenen Zeitungstexte wieder aus seinem Kopf heraus befördern wollen, die des Merkens nicht würdig sind und vergessen werden sollen. Der Ausgang für die zu entsorgenden Texte ist Hermanns Gesicht. Es muss herhalten für den Vorgang des Vergessens und Entsorgens, obwohl auch ohne Mimik und ohne Gestik ein Vergessen und Entsorgen im Kopf möglich wäre. Das Gehirn vergisst lautlos und gestaltlos, genau so wie es lautlos und gestaltlos speichern kann. Wenn das Gesicht aber zeigt, dass im Gehirn etwas zum Vergessen oder Abspeichern ansteht, muss noch etwas beteiligt sein am Vergessen und am Abspeichern. Ein unbekanntes Beteiligtes? Hermann kann es nicht benennen. Es entzieht sich der Entzifferung und der formelhaften Erkennung. Es erzeugt in Hermann aber eine Gemütsstimmung, besonders wenn er die Zeitung gleichzeitig zusammen faltet. Unter einer anderen Sicht auf das eben Gesagte könnte Hermann ja während des Entsorgens oder des Abspeicherns reden, sich auslassen über dieses oder jenes, was ihn gerade bewegt und seine Stimmung beeinflusst. Und das Reden könnte oder kann begründen, weshalb er entsorgt oder speichert. Es ist auch ein völlig anderer Inhalt möglich. Das Reden kann auch von Dritten erfolgen, von außerhalb also. Wenn es nicht nervös macht, das Gequassel. Womit sich eine neue Frage anmeldet: Ob das Reden, egal ob das eigene oder das fremde Reden, nicht die Vorgänge im Kopf stört und dadurch das Ergebnis löchrig und unvollständig wird? Der Vater hat Hermann gesagt: „“Stell’ das Radio aus, wenn du Schulaufgaben machst!“ Worin also die Ursache für Hermanns meist resignativ tendierende Stimmung nach dem Lesen der Zeitung liegt, was sie ausgelöst haben könnte, bleibt eine Spekulation. Hermann akzeptiert das Spekulative. Er hat des Spekulative noch nie hinterfragt, ist noch nie darüber hinausgegangen und hat sein eigentliches, sein nüchternes Terrain auch noch nie gründlich