Ulrich Hermann Trolle

Hermann T.


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Querstraßen mal drei Pflegefälle ergeben einundzwanzig Termine. Für jeden einzelnen Termin in den Wohnungen zwanzig Minuten Verweildauer, gemäß Pflegevertrag, zum Beispiel für das Aufwecken, Ankleiden und auf den Stuhl helfen; oder dreißig Minuten für die vorige Leistung plus das Bereiten des Frühstücks und für das Sortieren und Verabreichen der Tabletten; oder dreißig Minuten für die Kleine Morgentoilette einschließlich Ankleiden des Patienten; oder für die Kleine Morgentoilette plus Zubereiten und Verabreichen des Frühstücks und für das Sortieren inklusive der korrekten Einnahme der sortierten Tabletten zusammen eine dreiviertel Stunde. Wenn die Pflegefälle mit oder ohne Kleine Morgentoilette und dem Frühstück bedient sind, ab sechs Uhr dreißig etwa, inklusive Fahrzeit von einem zum anderen Fall einschließlich des Suchens und des Findens eines Parkplatzes sind vier Stunden vergangen. Also reicht die Zeit noch für zwei weitere Pflegefälle und deren Vorbereitung auf das Mittagessen bis die Dicke Pause machen kann. Frühstück haben alle, also bekommen sie nach der Pause alle das Mittagessen, oder das Essen auf Rädern ist gerade für sie geliefert worden und es wird von der Dicken auf einen Suppenteller präsentiert. Es ist genießbar auch in der transportablen, wasserdichten Warmhalteverpackung, in der es bis zur Haustür gelangt ist. Die Dicke wird vielleicht diesen oder jenen männlichen bzw. weiblichen Patienten füttern müssen. Anschließend wird sie den Abwasch kurz noch erledigen und den bleichen Lippen des Pflegefalls beim Trinken nachhelfen, der wieder mal nicht schlucken will und dadurch zuviel von dem Wasser am Kinn entlang den faltigen Hals hinunter auf die Oberbekleidung rinnt. Die überwiegende Zeit ihrer Anwesenheit im Haus des Pflegefallpatienten wird nicht geredet. Ihre Tätigkeiten verrichtet die Dicke nonverbal, aus Gewohnheit oder aus Ermattung oder aus irgendeiner persönlichen Verstimmung heraus. Am meisten sprechen die Augen im Gesicht beider Beteiligter, die der Dicken und die der anderen, der zu versorgenden Person. Beide stehen mal mehr, mal weniger in einer ziemlich emotionalen Enge zueinander. Beim Ankleiden und Verabreichen der Medikamente sind sich beide am nahesten und ein längerer Austausch, ein Wortwechsel, der intensivste während des Termins, ist hierbei am wahrscheinlichsten. Vielleicht ist es ein Austausch von Gefühlen, eine wiederholte Aufforderung, die Tablette endlich zu schlucken oder eine Tröstung in den dement vergesslichen Kopf hinein. Aber wenn die Dicke einmal etwas ruppig zupackt und die langbeinigen Unterkleider kräftig nach oben zieht, die Vorlage samt Netzhose dadurch verrutscht und der Schlüpfer auch noch verknüllt, wird aus der Kommunikation zwischen ihr und dem Pflegefall ein Geschrei und ein Gezänk. Dieser Zustand ist gänzlich unangebracht und hat launische Auswirkungen auf die Worte beider und auch auf den nächstfolgenden Pflegefall. „Guten Morgen!“ und „Auf Wiedersehen!“ zählen nicht zur Kommunikation. Es sind die automatisch aus dem Mund gesendeten Signale vom Beginn und vom Ende der Dienstleistung für einen oder eine aus der Liste der pflegebedürftigen Personen in dem Wohnviertel. Dann fliegt die Haustür zu. Über jeden Pflegefall liegt bei der Dicken eine Plastikmappe mit Klarsichtdeckel vor. Der Fall wurde angelegt zu Beginn der Pflegezeit als Leistungsvertrag und unterschrieben vom Pflegefall selbst oder von seinem Betreuer. Die Mappe ist ein Dokument. Es ist täglich zu aktualisieren. Es enthält die wesentlichen menschlichen Daten, auch übersichtlich für eine Vertretungskraft, die den Pflegefall und seine zu beanspruchenden Leistungen schnell und doch vollständig zu erfassen hat, wenn die Dicke mal ausfällt oder Urlaub genommen hat. Im Vertragstext zuoberst und auf den grün-gelb-rosa gefärbten Seiten der Anlagen zum Vertrag voller gedruckter Zeilen und Spalten ist das Wort ‚Pflegebedürftiger’ nicht zu finden. Dafür taucht der Begriff ‚Patient’ immer wieder auf. An dem Wort ‚Patient’ ist formal nicht zu mäkeln, wenn sich auch ein ungutes Gefühl im Nacken einstellen will, weil der Zusammenhang zwischen der Pflegebedürftigkeit und dem Patienten plötzlich hartnäckig ins Bewusstsein drängt und das Weiterlesen behindert. Aber das geht den Nacken eigentlich nichts an. Der allgemeine Begriff ‚Patient’ scheint für die Angelegenheit des vertraglich vereinbarten Pflegens zweckmäßig zu sein. Man kann mit einem Patienten als Vertragspartner nämlich leidenschaftslos umgehen. Und selbst wenn das Wort Patient als Vertragspartner und Leistungsnehmer häufig im Vertragstext erwähnt ist, impliziert dies noch lange keine subjektive Gefühlsreaktion. Bei einem Patienten hat man lediglich eine vage Vorstellung davon, dass irgendein Anonymus erkrankt sei und geheilt werden soll. Der Begriff ‚Patient’ beschreibt die Vertragssache per se eindeutig und man kann alle Regungen beiseite schieben. Der Patient ist krank und hat eine Pflege zur Folge. Oder Erkrankung und Pflege kommen gemeinsam daher. Nicht selten ist Pflege gar das Ende einer Krankheit. Also ist alles am Patienten lediglich krank. Und vor Augen stellt sich für den gesunden Vertragspartner der Pflegtermin dann als ein mehr oder weniger mechanischer Vorgang ein, den er, der Leistungserbringer, in Form von Tablettenverabreichung, Fiebermessen, Verbandswechsel und physiotherapeutischen Bewegungsreizen in einer täglichen Arbeitsdosis bündelt und bewältigt. Easy doing. Jedoch bei einem, der sich Pflegebedürftiger nennt, möchte man sich immer gleich und im Gegensatz zum Patienten ein lebendiges Wesen als Vertragspartner vorstellen wollen, weniger ein krankes Wesen. Man malt sich dazu wie von selbst zwei Augen in einem alten Gesicht aus, versieht es mit Falten, Schmerzen und eingeschränkter Sensorik, mit Blutergüssen, mit Geruch und Speichel. Da wird es einem beim Lesen des Vertragstextes schon mulmig und im Kopf entsteht ein sperriges Gefühl. Also ist der Begriff Patient im Vertragstext wohl doch besser. Das Pflegeverhältnis zum Patienten muss nämlich ein nüchternes und kaufmännisches bleiben. Es unterliegt einer vertraglichen Vereinbarung, die der Patient einging oder hat abschließen lassen als Leistungsnehmer mit einem Leistungserbringer. Und dieser Leistungserbringer, wie die Dicke im kleinen Auto, ersetzt nicht nur die feuchte Unterwäsche des ihr anvertrauten Leistungsnehmers, sondern füllt auch jeden Tag die bunt bedruckten Formblätter aus, die hinter dem Vertragstext in der Klarsichtmappe angetackert sind. Die Jurisprudenz will das so. Es gilt als Leistungsbestandteil. Vielleicht ist das tägliche stoische Ausfüllen der Formblätter in der Mappe jener Teil eines Pflegetermins, der zwar im Streitfall relevant, aber im Willen des Pflegedienstpersonals ein heftiges Unwohlsein erzeugt und die geringste Sympathiequote erreicht, weniger noch als das Erklimmen der Stufen zum Hochparterre, wo in den ansehnlichen Stadtvillen dieser Wohngegend erst die Wohngeschosse beginnen. Und auch die Alltagskompetenzen des Leistung entgegen nehmenden Patienten werden von den Listen insofern berührt, als jede Verbesserung oder jede Verschlechterung ihrer Kompetenz in den Listen anzukreuzen ist, oder einen Schrägstrich zu erhalten hat. Das wird von Fall zu Fall unterschiedlich sein, je nach dem Typ des Leistungserbringers und seiner Schreiblust oder abhängig von seiner oder ihrer Differenzierungsfähigkeit. Diese Kompetenz wird allerdings in keiner Strichliste geführt. Der Dicken in dem kleinen Auto werden die farbigen Listen in der Mappe jedenfalls lästig sein und sie nur vom Rauchen abhalten, denkt Hermann, weil er gerade noch eine Qualmwolke deutlich aus dem geöffneten Fenster des kleinen Autos abziehen sieht. Niemand, und auch die Dicke nicht, will gern freiwillig und andauernd Striche, Kürzel und Aktualisierungen immer und immer wieder in die Protokolllisten eintragen. Wertschätzung ist das nicht. Mehr Geld wäre mehr wert, so denkt die Dicke in dem Bild, das Hermann jetzt am Morgen vor dem Briefkasten stehend von ihr hat, ausgedacht während des kurzen Blickes auf ihre Körperhaltung in dem kleinen Fahrzeug und besonders auf die qualmende Zigarette zwischen ihren Lippen zielend. Im Grunde genommen hat Hermann das Bild von der Dicken aus einer Laune heraus gezeichnet und gemixt mit einer vagen Vorstellung über seinen eigenen Lebensabend. Ob die Dicke so denkt, wie Hermann von ihr denkt, bleibt ungeklärt und den anderen Lästerern überlassen. Soweit sich Hermann im Zuhause seiner Kindheit an Gespräche der Eltern über das Altwerden und die Pflege der Alten erinnern kann, soweit er daran teilhaben durfte, waren alle Altgewordenen in der Familie immer zunächst zuckerkrank geworden. Die Zuckerkrankheit war in allen Erwähnungen über Krankheit und Tod stets der Anfang vom Ende und so blieb es. Es schien Hermann, als wäre der Tod eine Sache des Geschmacks. Und eben aus diesen Gesprächen über das Alter und den Tod festigte sich in Hermann die Gewissheit, die Spucke der Alten auf dem Sterbebett müsse zuckersüß sein. Alle Altgewordenen waren in den elterlichen Gesprächen zusätzlich zum Diabetes dann noch durch eine Apoplexie bettlägerig und nach dem neun Tage später unweigerlich folgenden zweiten Schlaganfall gestorben. Oder sie siechten im Bett des Altenheims, weil gestürzt, mit nicht heilen wollender Oberschenkelhalsfraktur vor sich hin. Manchmal schlug Mutter die Hände zusammen und rief den Lieben Gott an, wenn sie in der tödlichen Abfolge noch von einer Pneumonie berichtete. Soviel hält kein Mensch aus. Der Korrektheit wegen ist zu erwähnen, dass der kleine Hermann natürlich niemals andere Worte als Zucker, Gehirnschlag, Knochenbruch und