Mira Bergen

Verflixt und ausgesperrt!


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      Hinter einem Berg aus Büchern raschelte Papier und Manfred glaubte, ein Schniefen hören zu können. Constantins Kopf kam zum Vorschein.

      »Bist du schon lange hier?« fragte der misstrauisch.

      »Wieso?« erwiderte der Kobold und musterte Constantin. Es war nicht zu übersehen, dass es diesem gut ging. Die gesunde Gesichtsfarbe war vermutlich auf die frische Luft hier zurückzuführen, die dafür sorgte, dass sämtliche vorstehenden, unbehaarten Gesichtsteile die Farbe von Weihnachtsäpfeln annahmen. Doch es war nicht nur das. Constantins Ruhelosigkeit war verschwunden. Wie es aussah, hatte er mit seiner Situation Frieden geschlossen und zudem begonnen, sich mit seiner eigentlichen Bestimmung zu beschäftigen und zu lernen, der Weihnachtsmann zu sein. Er schien sogar Spaß daran zu finden. Wenngleich er das niemals zugegeben hätte.

      Constantin wischte sich hastig über die Augen und hoffte, dass der Kobold die feuchten Stellen nicht bemerkte. Verwirrt fragte er sich, was in letzter Zeit mit ihm los war. So was passierte ihm neuerdings häufiger, obwohl es keinen Grund dafür gab. Vielleicht sollte er mal seine Augen untersuchen lassen.

      Noch immer machte ihm das letzte Dreivierteljahr zu schaffen. Kein Wunder. Er war der Weihnachtsmann. Das konnte nicht jeder von sich behaupten.

      Darüber hinaus hatte er so etwas Ähnliches wie Untertanen, auch wenn er sich niemals trauen würde, das laut zu sagen. Viele, äh, Wesen kümmerten sich um ihn und waren um sein Wohl besorgt. Etwas vollkommen Neues für ihn, und er genoss es. Fleißige Zwerge kochten und putzten, und irgendjemand legte ihm jeden Morgen frische Sachen raus.

      Er hatte sogar Freunde, wenngleich diese mit seinen Knien sprachen, wenn sie vor ihm standen. Selbst in der richtigen Welt hatte er jetzt mehr Freunde als jemals zuvor. Und sie alle schrieben ihm Briefe.

      Constantin hatte vorher nie Briefe bekommen. Jedenfalls keine freundlichen. Im Gegenteil. Post hatte früher immer etwas Bedrohliches an sich gehabt.

      Erwin, Willi, Emily – selbst Frau Wunderlich hatte ihm einmal in der typischen Schönschreibschrift einer Grundschullehrerin eine förmliche Mitteilung übersandt und um Berücksichtigung der neuen Anschrift von Emily zum nächsten Weihnachtsfest gebeten. Außerdem enthielt der Brief ein dickes, rotes P.S.: Wenn ich herausfinde, dass ich von Zwergen beobachtet werde, ziehe ich den kleinen Rüpeln die Ohren so lang, dass keine Mütze mehr drüberpasst.

      Noch etwas war neu für Constantin. Er hatte jetzt eine Aufgabe. Dazu eine, die Kinder glücklich machte. Jedenfalls die braven. Zumindest hoffte er das. Genau würde er es wohl erst nach dem nächsten Weihnachtsfest wissen.

      Gerade eben hatte er den letzten Brief von Erwin zum dritten Mal gelesen und nachgedacht.

      Er hegte den dringenden Verdacht, glücklich zu sein. Doch er war sich nicht sicher. Mit positiven Gefühlen kannte er sich nicht sonderlich gut aus.

      Wenn er an die Dauer seiner unfreiwilligen Aufgabe dachte, befiel ihn noch immer Panik. Solange er diesen Gedanken verdrängte, fühlte er sich jedoch ganz wohl. Und gesünder, als er sich jemals zuvor gefühlt hatte.

      Irgendein Zwerg hatte ihm das mal erklärt. Der Weihnachtsmann konnte nicht krank werden. Egal wieviel er aß und wie ungesund er lebte – um Dinge wie Cholesterin, Bluthochdruck oder Magengeschwüre musste er sich keine Gedanken machen. Gutes Essen und ein gewisser Körperumfang bei gleichzeitigem Wohlbefinden gehörten sozusagen zum Job.

      Der Kobold hatte eine Weile lang interessiert zugeschaut, wie sich Constantin bemühte, gefasst auszusehen. Schließlich gab er sich einen Ruck. »Die neue Post ist da.«

      Constantins Augen leuchteten auf, doch Manfred schüttelte den Kopf. »Diesmal leider nichts für dich persönlich. Nur allgemeine Wunschpost.«

      Mist.

      Constantin war verblüfft gewesen, wie viele Wunschzettel jetzt schon eintrafen. Welche Ausmaße würde das erst im Advent annehmen?

      Normale Standard-Wunschzettel wanderten sofort in die Wunschpostsortierabteilung. Davon abweichende Briefe wurden jedoch dem Weihnachtsmann zur Durchsicht übergeben – also die mit außergewöhnlichen Schicksalen, Drohungen, Erpressungen – und die von penetranten Nörglern.

      Constantin fragte sich, was aus solchen Kindern werden sollte, wenn sie erwachsen waren. Wer schon als Kind am Weihnachtsmann herummeckerte, hatte später entweder eine großartige Karriere als Politiker oder Filmkritiker vor sich, oder aber er besetzte Häuser und wurde zum Albtraum aller Therapeuten.

      »Denkst du noch an die Versammlung?« erinnerte der Kobold, der gleichzeitig die Aufgaben des Postzwerges, Constantins persönlichem Assistenten und eines Kuriers für heimliche Geschäfte wahrnahm. Letzteres verdankte er seiner Fähigkeit, von jetzt auf gleich überallhin verschwinden zu können, was ihm einen dankbaren Kundenkreis bescherte.

      »Welche Versammlung?« fragte Constantin zerstreut, während er argwöhnisch auf einen roten Umschlag starrte, auf dem in großen Buchstaben »AN DEN TYPEN IM ROTEN MANTEL – LETZTE WARNUNG« stand.

      Offensichtlich gab es auch unter kleinen Kindern Terroristen.

      Der Kobold verdrehte die Augen. »Die große Versammlung. Heute.«

      »Bist du dir sicher? Gab es nicht erst eine Versammlung?«

      »Sogar zwei. Und du warst jedes Mal dabei.«

      »Äh, ja. Richtig. Allmählich verliere ich den Überblick«, seufzte Constantin. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grund nahm das mit den Versammlungen in letzter Zeit überhand.

      Zuerst gab es eine nach ihrer Rückkehr aus Glücksstädt. Constantin musste zugeben, dass die notwendig war, da weder Zwerg noch Mensch wusste, was jetzt eigentlich los war und wie es weiterging. Neben der Klärung derartiger grundlegender Angelegenheiten war Svante zum Zwerg des Monats gewählt worden. Das hatte zu interessanten Reaktionen geführt, insbesondere bei Wilbert.

      Dieser nahm daraufhin den Kampf auf und berief eine weitere Versammlung ein, bei welcher er den verblüfften Zwergen eröffnete, Lehrgänge für Mitarbeitermotivation und -führung für unerlässlich zu erachten. Die jüngsten Ereignisse hätten das deutlich bewiesen. Darüber hinaus verpflichtete er sich, sofort die entsprechenden Themen auszuarbeiten und kurzfristig Lehrgangstermine bekannt zu geben, was bei den anderen Zwergen für einige Unruhe sorgte.

      Und damit nicht genug.

      Der Himmel wusste wie, aber Wilbert hatte irgendwo eine Broschüre über eine Lachtherapie in die Finger bekommen.

      Sah man einmal von rätselhaften Ausnahmen wie Lauritz ab, lachten Zwerge ausgesprochen selten. Allenfalls lächelten sie, wenn es sich nicht verhindern ließ, was bei den meisten Zwergen einer Grimasse gleichkam.

      Wilbert führte die kürzlichen Probleme auf das mürrische Grundwesen der Zwerge zurück und vertrat nun die Auffassung, dass häufigeres Lachen zu positiven Änderungen des Arbeitsklimas, Stressabbau und einer Verbesserung der Grundstimmung führen würde. Zumindest las er das aus seiner Broschüre heraus, die er so fest umklammert hielt, dass man meinen könnte, sie enthielt die Antwort auf die letzten großen Rätsel der Welt.

      Wilbert kündigte an, mit den lachunfähigsten Zwergen zuerst anzufangen, was zu gequält grinsenden Gesichtern überall dort führte, wo Wilbert zufällig auftauchte.

      Der Kobold musterte Constantin. »Diesmal hat Humbert die Versammlung einberufen, also scheint es um etwas Wichtiges zu gehen.«

      Schon meldete sich wieder ein altvertrautes, flaues Gefühl in Constantins Magen. Wenn es etwas Wichtiges war, konnte es eigentlich nichts Gutes sein. Das hatte ihn seine jahrelange Erfahrung gelehrt.

      Er hätte es kommen sehen müssen. In den letzten Tagen war es ihm viel zu gut gegangen, als dass dieser Zustand von Dauer sein könnte.

      Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah zu, wie sich dichter Nebel durch die tief verschneiten Häuser und Straßen wälzte. Sein Haus war aus anatomischen Gründen bedeutend größer als die der Zwerge und stand überdies auf dem höchsten Punkt der Stadt. Damit hatte er einen wunderbaren Ausblick.