Mira Bergen

Verflixt und ausgesperrt!


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Mal in seinem Leben hatte er eine schöne Aussicht. Wenn nur der ewige Schnee nicht wäre. Aber wenigstens war dieser hier weiß. Der traurige Schnee, den er von zu Hause aus früheren Wintern kannte, nahm zumeist in kürzester Zeit recht unappetitliche Farben an – dank wechselnden Temperaturen, Autos und der Tatsache, dass auch Hunde einen Stoffwechsel besaßen. Hier hingegen glänzte, glitzerte und knirschte der Schnee genauso, wie man es von ihm erwartete.

      Constantin gab sich einen Ruck, griff nach den Briefen und begann zu lesen. Verwirrt hielt er inne und suchte den Umschlag nach einem Absender ab.

      »Wie alt ist die noch mal?«

      »Wieso?«

      »Na…, die wünscht sich eine neue Gefriertruhe, ein Bügeleisen, das nicht pfeift, einen Haartrockner, aus dem keine Flammen schlagen, eine Matratze, die nicht piekst, und, äh…«, mit rotem Kopf zeigte Constantin auf ein kleines Bild.

      Der Kobold musterte mit gerunzelter Stirn das Bild. »Was steht denn daneben?«

      »Wo? Ach, hier. Warte..., etwas, das eine Frau mit Bedürfnissen braucht, wenn sich ihr Typ nur zu Weihnachten blicken lässt.« Ratlos starrte Constantin auf das Bild.

      »Da unten steht noch was«, meinte Manfred und zeigte ans Ende des ungewöhnlichen Wunschzettels.

      Constantin hielt den Brief näher ans Gesicht, um die winzige Schrift erkennen zu können. »Diese Dinge sind ja wohl das Mindeste, das du tun kannst. Schließlich zahlst du seit elf Jahren keinen Unterhalt und kümmerst dich nie um die Kleine (die paar Weihnachtsgeschenke gleichen das ja wohl kaum aus).«

      »Oh.«

      Constantin begann zu grinsen. »Nun…, damit wäre Erwins Frage wohl beantwortet. Er ist offensichtlich nicht der Einzige.«

      ***

      Erwin schrieb schon wieder an Constantin, den ersten richtigen Freund, den er in seinem Leben gefunden hatte. Dass dieser auch noch der einzige echte Weihnachtsmann und deshalb immer weit weg war, spielte nur eine Nebenrolle.

      Endlich gab es jemanden, dem er sein Herz ausschütten konnte. Und derzeit gab es sehr viel auszuschütten.

      Erwins Briefe schwankten zwischen Euphorie und Verzweiflung, mitunter in ein und demselben Satz.

      Seinen priesterlichen Beruf hatte er aufgegeben, was angesichts seiner wirren und etwas beängstigenden Begründung von seinem Arbeitgeber überraschend schnell und unbürokratisch akzeptiert wurde. Vielleicht hatte auch seine letzte Predigt zu der zügigen Entscheidung beigetragen. Erwin hatte es zum ersten Mal während seines priesterlichen Daseins geschafft, das Publikum zu fesseln. Eigentlich hatte er nur vorgehabt, über Dinge zu sprechen, die von Menschen nicht gesehen werden können und dennoch existieren. Als er etwas konkreter wurde und die Gesichter ihn gebannt anstarrten, ging es mit ihm durch. Euphorisch erzählte er, was ihm passiert war, und machte dabei auch vor Zwergen, Kobolden, dem Weihnachtsmann und seiner eigenen Herkunft nicht Halt.

      Danach ging alles sehr schnell. Vermutlich war man froh, ihn so schnell und unproblematisch loszuwerden, ohne für einen teuren Therapieplatz aufkommen zu müssen.

      Dafür gab es jetzt etwas Neues in seinem Leben – die Liebe. Und zwar in Person der Hippieladenverkäuferin, die den Namen Phoebe trug und drei Tage nach ihrem ungewöhnlichen Aufeinandertreffen bei ihm einzog. Nicht dass er dabei etwas mitzureden gehabt hätte. Frauen ließen Männern wie Erwin in solchen Dingen nur selten eine Wahl.

      Verwirrt hatte sie feststellen müssen, dass Erwin nicht allein, sondern bei seiner Mutter wohnte. Nach nicht ganz zwei Tagen hatte sie sich mit Erwins Mutter völlig überworfen – mit dem Ergebnis, dass sie Hals über Kopf nicht nur ihre, sondern auch Erwins Koffer packte und alles samt dem sprachlosen Erwin in ihre noch ungekündigte Einraumwohnung transportierte. Und dort saß er nun.

      Er hatte bereits den Rat eines ausgebildeten Diplompsychologen eingeholt, dessen Telefonnummer in der Frauenzeitschrift seiner Mutter abgedruckt war, zusammen mit dem Versprechen, dass er in allen Lebenslagen kompetente und garantiert kostenlosen Hilfe anbieten konnte. Das Telefonat kostete Erwin dreiundzwanzig Euro und half ihm nicht im Geringsten weiter. Es bescherte ihm höchstens zusätzlichen Ärger, sobald Phoebe die nächste Telefonrechnung erhielt.

      Er hatte es daraufhin mit der altbewährten Methode der Gegenüberstellung sämtlicher Für-und-Wider-Argumente versucht – mit dem Ergebnis, dass er auf beiden Seiten genau einunddreißig Punkte stehen hatte. Und ihm wollte einfach kein weiteres Argument einfallen.

      So hatte er sich das nicht vorgestellt. Sicher, das Kribbeln im Bauch war ganz aufregend, und es gab durchaus sehr schöne – und für seine unerfahrene Männlichkeit überraschende – Momente. Doch manchmal fragte er sich, ob es wirklich den ganzen Ärger drumherum wert war.

      Phoebe ihrerseits hatte eine eigene Theorie entwickelt.

      Die Wohnung war zu klein. In einer Einraumwohnung begegnete man sich einfach zu oft.

      In letzter Zeit hatte sie deshalb die kundenfreien Zeiten ihres Ladens genutzt, um in Zeitungen und Internet nach einer neuen, großen Wohnung zu suchen. Hatte sie etwas Vielversprechendes gefunden, schloss sie kurzerhand den Laden und holte Erwin zur Wohnungsbesichtigung ab. Das war bislang schon viermal passiert und Erwin hoffte inständig, dass er dieser Tortur nicht noch einmal ausgesetzt sein würde.

      Die letzte Wohnung hatte gute Chancen, sein neues Zuhause zu werden. Immerhin plante Phoebe schon die Inneneinrichtung.

      Frauen bei der Nestsuche waren unberechenbar und es schien praktisch unmöglich, sie zufrieden zu stellen. Diese Steckdose war zu weit links, die Tür zu weit rechts (da passt das weiße Schränkchen nicht hin, du weißt schon, dass mit der klappernden Schublade, die du schon längst reparieren solltest). Der eine Raum war nicht sonnig genug, im nächsten blendete die Sonne und das war nicht gut für die Pflanzen. Die Fliesen im Bad waren zu bunt, die weißen in der Toilette dafür zu einfallslos, und Sprossenfenster putzen zu müssen ging schon mal überhaupt nicht.

      Erwin hatte probiert, ob die Toilettenspülung funktioniert, und war anschließend bereit gewesen, den Mietvertrag zu unterschreiben.

      In der dritten Wohnung war dann ein Wort gefallen, das ihn erstarren ließ und irrationale Ängste hervorrief. Phoebe fragte den potentiellen Vermieter erwartungsvoll nach dem Kinderzimmer.

      Kinder! Dieses Wort ließ Erwin die Haare zu Berge stehen. Der Gedanke, selbst welche in die Welt zu setzen, war ihm bislang überhaupt noch nicht gekommen, da dieses Thema bis vor kurzem auf der großen roten Strengstens-Verboten-Liste ganz oben stand. Außerdem war er nach seinen bisherigen Begegnungen mit Kindern zu der Erkenntnis gelangt, dass er diese nicht besonders gut leiden konnte.

      Die Kontakte zu Kindern beschränkten sich in seinem früheren Leben auf die Kirche, wo sich Kinder während der Gottesdienste die Seele aus dem Leib brüllten und ihre Eltern von seinen aufwendig ausgearbeiteten Predigten ablenkten. Oder kicherten, wenn sie ihn sahen.

      Täuflinge waren noch schlimmer. Bestenfalls schrien sie nur, wenn sie ihn erblickten. Besonders kritisch wurde es, wenn er das zu taufende Kind in den Arm gelegt bekam. Erwin fragte sich, was Eltern ihren Kindern vor einer Taufe zu essen gaben, dass es auf seiner Kleidung regelmäßig Kotzflecken verursachte, die nie wieder rausgingen.

      Waren die Täuflinge größer und konnten schon sprechen und laufen, wurde es noch unberechenbarer, da die Kinder entweder peinliche Fragen stellten (Wieso hat der komische Onkel ein Kleid an?) oder ausrissen. Nicht selten hatte er mit wehenden Röcken und rotem Kopf hinterherrennen oder Antworten finden müssen, während die entzückten Eltern aufgeregt dafür sorgten, dass die Videokamera auch alles richtig aufzeichnete.

      Eine Dreijährige hatte mal zu ihm gesagt: »Mein Kleid ist ja viel schöner als deins!«, und dabei stolz auf den Alptraum in rosa gezeigt, in den sie gehüllt war. Dafür hatte er sie dann mit dem Wasser besonders großzügig bedacht, sodass der rosa Alptraum tropfend mit wütenden Eltern hinausstapfte und heulte: »Mama, der hässliche Mann hat mich nass gemacht!«

      Nein. Erwin konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, selbst ein Kind