Stefan G. Rohr

Das Kontingent


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      Prolog

       Denn wer den anderen liebt,

       hat damit das Gesetz erfüllt.

       (Römer 13,8)

      Sie steht immer noch da, am selben Platz, und man könnte meinen, es wäre in den letzten Monaten überhaupt nichts geschehen. Unsere alte Bank im Hof, ein wenig rostig und mit rissigem Holz, direkt neben dem Eingang zum Treppenhaus. Ich sitze wieder hier, mit einer Zigarette in den Fingern und schaue mit müden Augen in den Innenhof. Wie immer steht die Haustüre neben mir offen und es zieht mir der Geruch von Keller und Fahrrad-Öl in die Nase.

      Aus geöffneten Fenstern klingen Stimmen herab. Würde ich mir Mühe geben, so könnte ich die Gesprächsfetzen aufgreifen und vielleicht sogar zu sinnvollen Sätzen zusammenfügen, zumindest doch erraten können, worüber gesprochen wird. Doch ich gebe mir diese Mühe nicht. Was gesagt, worüber gelacht wird oder weswegen eines der Kinder gerade weint ist mir jetzt nicht wichtig. Es beruhigt mich einfach nur, dass die Stimmen da sind. Sie erfüllen mich mit Wärme und einer eigenartigen, kryptischen Freude, der aber gleich wieder meine Nachdenklichkeit folgt.

      Schritte hallen gedämpft irgendwo durch das Treppenhaus. Ich hoffe, dass jetzt niemand an mir vorbei kommen wird. Ich möchte jetzt weder sprechen, noch zuhören müssen. Mir schießt ein Gedanke in den Sinn: Ist es nicht wirklich gut so, dass es nach Außen den Anschein hat, kaum etwas hätte sich geändert, fast alles sei noch so, wie vor kurzer Zeit? Nicht auszudenken, wenn es anders wäre. Und selbst der Himmel ist bemüht, sich nichts anmerken zu lassen. Graue Wolken ziehen durch das Viereck, das unser Innenhof nach oben hinaus frei lässt, und es riecht jetzt nach aufkommender Regennässe und feuchten Pflastersteinen.

      Trotz der kühlen Feuchte, die langsam an meinen Beinen empor kriecht und mich nach und nach frösteln lässt, bleibe ich noch ein wenig sitzen. In meiner Brusttasche steckt eine schmale Schnapsflasche. Ein paar Schlucke aus ihr habe ich bereits genommen. Heute habe ich den Rest des Calvados hineingefüllt. Der edle Brand stand einige Wochen herrenlos bei mir herum und ich erinnere mich noch gut, wie wir ihn damals geöffnet und mit welchen Gedanken wir ihn dreiviertel geleert haben. Obwohl es erst vor kurzem war, kommt es mir vor, als lägen Jahrhunderte zwischen diesem Tag und heute.

      Bevor ich heute hinunter in unseren Hof gegangen bin, habe ich mich erwischt, dass ich in meinen Spiegel geäugt und kritisch geprüft habe, ob ich vielleicht anders aussehe, als noch vor dieser Reise. Wie ein Laser-Scanner habe ich mein Gesicht mit meinen Blicken abgetastet, jedes Fältchen, meine Mundwinkel, ja sogar meine Augen selbst. Gucke ich anders? Kann ein geschultes Auge, ein Fachmann, etwas entdecken? Ich bin mir meiner da nämlich nicht sicher. Wenn es dumm käme, dann würde mich sicher irgendein Zucken, eine schräge Mine, ein zu schnelles Wegschauen oder ein leichtes Zittern schnell verraten können.

      Der Rest meines alten Calvados verschwindet mit einem großen Zug in meinem Mund. Das sanfte Apfelaroma erfüllt meinen Gaumen und das Brennen des Alkohols in meiner Kehle setzt eine kurz aufhellende wohlige Wärme frei. Ich bekommen Gänsehaut und muss gleich über mich selbst lächeln. Zu befürchten, dass jetzt noch alles auffliegen könnte, sich Beweise finden ließen, ist einfach albern. Ich bin mir da absolut sicher – doch im meinem tiefsten Innern scheint die Angst dennoch nicht weichen zu wollen. Sie hat sich dort wie ein Ölfleck ins Gewebe eingesogen und einen grauen Schatten hinterlassen.

      Ich lehne mich nach hinten und schließe die Augen. Ich kann wieder das Meeresrauschen hören und für einen kurzen Moment glaube ich sogar, dass salzige Wasser auf meinen Lippen zu schmecken. Ich sehe die Sterne am Himmel und glaube nun sogar den lauen Wind auf meinen Wangen zu spüren. Das ist alles bereits sehr weit weg, fast vorbei, und das Gras hat begonnen, die Vergangenheit zu überdecken. Gut so! Irgendwann, vielleicht bald, werde auch ich vergessen haben. Dann wird es wieder ganz so sein, wie es zuvor war. Nicht alles, das ist unmöglich, aber doch das meiste.

      Ich öffne die Augen. Die Dämmerung hat eingesetzt und die Fenster um mich herum sind nun alle geschlossen. Es ist den meisten wohl schon zu kalt geworden. Der Herbst nimmt alles in den Griff und der nahe Winter ist deutlich zu spüren. Ich knüpfe mein altes Sakko zu und schlage den Kragen hoch. Bisher habe ich es bewusst vermieden, meinen Blick auf die ehemalige Werkstatt zu richten. Es ist der Ort, an dem die Geschehnisse der vergangenen Monate ihren Anfang nahmen – unscheinbar, versteckt und deshalb vielleicht gerade wie geschaffen, für einen Plan, dessen Umfang und Ausgang keiner von uns wirklich überschaut hat. Es ging in jenen Tagen aber eine unausweichliche Kraft von ihm aus, die ich mir bis heute nur vage damit erklären kann, dass es wohl mehr zwischen Himmel und Erde geben muss, als wir es uns vorzustellen trauen. Wie an Fäden geführt wurden wir zu dem geleitet, was wir ganz offensichtlich tun sollten. Und deswegen bleibe ich wohl auch weit davon entfernt, mich mit irgendwelchen Eitelkeiten zu schmücken.

      Mit dem Calvados im Blut fasse ich all meinen Mut, nun doch hinüber zu schauen. Irgendwann muss es eh geschehen. Und da ich hier jetzt wohlbehalten sitze, werde ich diesen Blick dorthin wohl auch aushalten, denn es hätte ja auch völlig anders ausgehen können.

      So sehe ich jetzt zum ersten Mal wieder das dunkle Fenster und die nun verschlossene Tür. Ich habe einen Schmerz erwartet und bin erleichtert, dass ich nichts dergleichen verspüre. Ich wage mich deshalb weiter. Wage mir Licht vorzustellen, Licht, das wie damals durch die matten Scheiben aus dem kleinen Betrieb schien. Ich beginne die Maschine zu hören, das monotone Stampfen des Gegengewichtes, spüre dessen Vibration und vernehme das Klappern von Farbdosen. Ich sehe den Schatten des alten Mannes, wie er sich bewegt, höre leise seine Stimme, wie er mit sich selbst redet, flucht und gleich darauf in Fröhlichkeit umstimmt. Die Türe öffnet sich jetzt, der Geruch von Farben, Verdünnern und Maschinenölen überzieht den Hof und plötzlich ist alles wirklich wieder so, wie an jenem Tag, an dem alles begann.

      1

      Auch an diesem Abend sitzen wir hier auf dieser Bank, einige von uns stehen im Halbkreis davor. Es ist einer der herrlichen Frühsommerabende und unsere kleine Hausgemeinschaft hat sich, wie fast an jedem Abend, hier wieder einmal zusammen gefunden. Es wird geraucht, ein Schnäpschen umhergereicht und geplaudert. Da sitz unser Vermieter Willi, mit seiner Tüte Lakritz. Davor stehen der stets ein wenig schwitzende Fritz, der dünne, lange Ruprecht und unser lebenslustiger Fredo, der wie immer der Lautestes ist und fröhlich poltert.

      Einen Anlass für unsere Treffen benötigen wir nie, so auch an diesem Tage nicht. Ich will es aber auch nicht als Ritual bezeichnen, mehr als Gewohnheit, geboren aus dem Umstand, dass es für uns alle wenig andere Gelegenheiten der Zerstreuung und Ablenkung gibt. Denn niemand von uns kann sich mehr als das hier leisten.

      Wir sind in den wenigen Jahren unseres Zusammenwohnens in diesem Haus, trotz all unserer Unterschiedlichkeiten, freundschaftlich zusammen gewachsen. Zu unserem Kreis gehören natürlich noch Kalli und Marta. Kalli betreibt, trotz seines bereits hohen Alters, in der Hofwerkstatt eine kleine Druckerei und kommt meist nie vor dem Dunkelwerden aus seinem Betrieb. Und die liebe Marta bleibt unseren Hof-Treffen ohnehin zumeist fern, denn solche sind mit ihrem Anstand als Witwe und Klavierlehrerin nicht vereinbar.

      Die Uhr der alten Kirche in der nächsten Straße schlägt gerade Sieben und Julius, Kallis Sohn, kommt nach Hause. Wie immer stellt er sich kurz in unseren Kreis um danach, bevor er in seine Wohnung im vierten Stock geht, erst noch einmal kurz in der Druckerei seines Vaters vorbei zu schauen.

      Doch heute sollte es anders enden, als sonst. Als Julius die Türe des kleinen Betriebes öffnet, sieht er seinen Vater regungslos auf dem Boden liegen, direkt neben der alten Druckmaschine, die sich immer noch im Leerlauf dreht. Ein Blick genügt um zu wissen, dass der Tod schon von vor ein paar Stunden gekommen war.

      Julius kniet sich neben den Alten und nimmt seine Hand. Schweigsam und ganz ruhig streichelt er den kalten Handrücken des Toten und seine Tränen rollen über sein junges Gesicht herab auf den Boden. Nach ein paar Minuten legt er den Arm seines Vaters behutsam auf dessen Bauch, steht auf und verlässt die Werkstatt. Kreidebleich kommt er